Maluma und Takete

Marathon Venezia

Die Kunstkolumne. Von Ulf Erdmann Ziegler
11.05.2015. Gegen die Kunstbiennale von Venedig spricht einiges: zu viel, zu kommerziell, zu ideologisch, zu mühsam. Die Begehung gleicht einem Marathon, bei dem nicht die Strecke festgelegt ist, sondern die Zeit. Erstaunlich, was es zu sehen gibt, sobald man unterwegs ist. Die Kunstkolumne.
Venedig verändert sich in rasendem Tempo. Wohnungen werden unerschwinglich; martialisch gestylte Riesenboote legen an; und auf den Wasserbus kommt man nicht mehr, ohne vorher eine elektronische Schranke öffnen zu müssen. Stehen geblieben sind: die Küche; die Hängung der alten Kunst in den offiziellen Museen; und die Italiener selbst auf den Gehwegen, wo sie sich gegenseitig mit großen Gesten Offensichtliches erklären. Aber die Sprache hat an Melodie verloren. In Altstadtbars läuft amerikanischer Hardrock aus dem Fernsehen.

Trotz der vorhersehbaren, bestellten Ankunft von Besserwissern, Durchblickern und Pseudorevolutionären - in der Rolle des Künstlers/der Künstlerin - bleibt die Biennale d"arte ein sicheres Pflaster, um gute Kunst zu finden, sofern man sich beeilt, was gern als Argument umgedreht wird gegen ein zu flüchtiges Publikum, das die wahre Hintergründigkeit einer Installation nicht mehr erkenne. Auch das ist nicht ganz falsch. Dafür gibt es wiederum ellenlange Erklärungen von überbildeten Kuratoren, mit denen die Foyers betextet werden. So muss man sich letztlich wiederum entscheiden: Schnell gucken und schnell lesen, oder nicht lesen und langsamer schauen.


Sean Scully, Eintrag im Besucherbuch des ägyptischen Pavillons.
Alle Fotos: Ulf Erdmann Ziegler

Es hat etwas von einem Marathonlauf, bei dem nicht die Strecke festgelegt ist, sondern die Zeit. Ich beobachte mich selbst zwecks Optimierung der Methode und bemerke, dass ich zur Ambivalenz neige, und in so ziemlich jede Tür trete, die offensteht. Das Ergebnis ist: Dass es lohnt. Ich hatte zum Beispiel nicht die geringste Absicht, die Ausstellung von Sean Scully zu sehen, dessen Farbfeldmalerei, die in ihrem Aufbau immer etwas von norddeutscher Backsteinarchitektur hat, ich nun seit Jahrzehnten kenne. Sehr guter Handwerker; wenig Überraschungen. Jetzt aber gerate ich in einen begrünten Hof und dort, vor einer alten Mauer, sitzt der Hüne von einem Künstler mit einem Fernsehinterviewer, der einen weißen Anzug trägt. Scully spricht mit einem rührenden irischen Akzent und gestikuliert, als würde er sich Quallen vom Körper zupfen. Ob das Licht ihn interessiere? Ja, das Licht, aber nicht das natürliche Licht. Sondern eines, das in der Malerei erst entsteht. So kommen Frager und Befragter sich näher, und weil dieser ein guter Journalist ist, führt er ihn auf den Leim, indem er ausführt, das Leitmotiv dieser Ausstellungen seien ja die Grenzen und deren Überschreitung, was ja auch durch die Stadt Venedig symbolisiert würde, Stein und Wasser. Nun, sagt Scully, ja, was ihn interessiere, sei, Dinge zusammenzubringen. Er habe den Wunsch zu vereinigen. Aber das sei nicht misszuverstehen: Er sei nicht für die Harmonie. Was für ein subtiles Paradigma!

Die Vorstellung, dass einen Künstler etwas umtreibt - etwas seelisch Vertracktes oder erkenntnistheoretisch Bizarres - woran er sein Leben arbeitet, ist völlig aus der Mode gekommen. Beispielhaft seien die Vorstellungen der insgesamt elf Künstler(innen) erwähnt, die gemeinsam den belgischen Pavillon in den Giardini, also auf dem eigentlichen Festivalgelände bespielen. Jeweils im ersten Satz des Kommentars zum Werk heißt es, dass A "recherchiert", B "untersucht", D "Referenzen" aufweist, das Team F in seiner Arbeit "Recherche, Appropriation und Rekonfiguration" verbinde. Bei C, E und I sind diese methodischen Zuschreibungen nicht etwa nicht erwähnt, sondern nur in den zweiten Satz gerutscht. Vom Chefkünstler des Pavillons, Vincent Meessen, heißt es: "Seine Arbeit und künstlerische Recherche haben unnachgiebig die Geschichte und das Nachleben kolonialer Modernität erkundet", und genau davon handelt nun der Pavillon. Um die Verbrechen Leopold II. sind die Belgier wahrlich nicht zu beneiden.


Fassade des belgischen Pavillons, Arbeit von Elisabetta Benassi.

Künstlerische Arbeiten, die aus Recherchen (etc.) hergeleitet sind, schwanken meist zwischen zwei Polen, beide nicht sehr günstig, nämlich dass sie entweder zu journalistisch oder zu abstrakt daherkommen. Dem Stand einer Partei in der Fußgängerzone oder einer Wandzeitung nicht ganz unähnlich, neigen die Arbeiten zum Schaubudenhaften, das heißt, sie appellieren an den Betrachter, und zwar frontal. In einer Nische sind sie immer gut untergebracht.

Man würde meinen, dass die Belgier recht stolz darauf wären, dieses Gedankenmaterial in eine Biennale unter dem Vorzeichen des Post-Kolonialen passgenau eingefügt zu haben. Sind sie auch. Das eigentliche Politikum liegt aber kurioserweise darin, dass das Kuratorium für den Pavillon jedes Mal wechselt, erst sind die Flamen dran, dann die Wallonen: Dieses Mal aber hat sich das wallonische Team für das "Projekt" eines Flamen entschieden! Der deshalb in Frage kam, weil er im zweisprachigen Brüssel zuhause ist! Und auf diese Überschreitung von Grenzen (die dem internationalen Fachpublikum natürlich völlig entgeht) sind die Belgier nun ganz besonders stolz.

Theoretisch wäre die bildende Kunst unabhängig von Sprachen. Aber siehe, gleich in den Eingangsbereich der Giardini ist eine Holzskulptur auf einem frisch gestrichenen schwarzen Sockel geparkt, der beschildert ist: "NON SEDERSI" - "DO NOT SEAT". Es ist jetzt im Kunstbetrieb wie in der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik: die englischen Muttersprachler hören immer weniger zu, und die anderen blamieren sich allenthalben. Überall gibt es dieses Gefälle, in den Begleittexten, in den Untertitelungen von Videos, sogar in den Besetzungen der Pressetischchen vor den Pavillons, wo oft eine englische Muttersprachlerin mit einer Italienerin kombiniert wird. Die kleinen Engländerinnen wurden soeben erst eingeflogen, aber oh, sie sind flott mit dem Maul. Das heißt, von ihnen bekommt man die gewünschte Auskunft im dominierenden Diskurs.


Mario Merz in der Accademia: "Ein Baum nimmt vor allem Zeit ein, zwei Bäume nehmen dieselbe Zeit ein, aber viel mehr Platz"

Das fällt mir erst so richtig auf, als ich in einem der klassischen lokalen Staatsmuseen, der Accademia, eine ganz frische Ausstellung von Mario Merz besuche, eine Art Miniretro des 2003 gestorbenen Meisters, der seine "arme Kunst" von Holz, Schiefer und Erde mit Neonhandschriften illuminierte, das war sein Markenzeichen. Früher fand ich das ziemlich manieriert, die italienische Wolkigkeit mit den kalten Augen des Nordens durchbohrend. Jetzt bin ich voll dabei. Eine Schrift, die über Erdkrumen läuft, in der vollen Länge eines Museumsraums, liest sich: "Un albero occupa sopratutto tempo, due alberi occupano il medesimo tempo ma uno spazio maggiore". Auch in der Beschriftung ist der Titel nicht übersetzt. Und so bin ich mit dieser Grübelei über Bäume (inwiefern sie Zeit oder Raum einnehmen) zum ersten Mal wirklich der Sprache des Landes ausgesetzt, in dem ich mich aufhalte. Und auch zum letzten Mal. Selbst die Frankophonen im kanadischen Pavillon tun so, als wären sie Amerikaner.

Es geht übrigens auch ohne Worte. Das beste Beispiel ist der israelische Pavillon, den ein Künstler namens Tsibi Geva komplett verwandelt hat, um nicht zu sagen entstellt: ein Menetekel. Der weiße Pavillon wurde noch einmal, mit Ytongsteinen oder ähnlichem, vermauert. Diese brutale Fassade wiederum ist verkleidet mit einem Kettenhemd, schwarze Ringe, die sich beim Nähertreten als gebrauchte Autoreifen erweisen. Man ahnt bereits, dass hier etwas elementar nicht in Ordnung ist, und das wird im zweistöckigen Interieur bestätigt. Geva, 1951 in einem Kibbuz geboren, ist spezialisiert auf Bilder, Reliefs und Installationen, die sich mit dem Alltag befassen, von der Mauergraffiti bis zur Waschmaschine. Mit großem Geschick hat er die hohe Wand genutzt, die das offene Treppenhaus abschließt und beide Stockwerke verbindet: ein gewaltiges Patchwork-Relief verdichtet nahtlos alle möglichen Typen von Fensterläden in Holz, Alu und Plastik. Das "Dichtmachen" also wird aufs Gruseligste herausgestellt. Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass sich all das auf die israelische Politik bezieht. Eine "Archäologie der Gegenwart" hat Geva sein Projekt betitelt, aber man braucht den Titel nicht, um zu verstehen.


Fensterladenrelief von Tsibi Geva im israelischen Pavillon


Wobei durch Geva auch gleißendes Licht auf des Ausstellungskurators Okwui Enwezors Motto "All the World"s Futures" geworfen wird, eine schöne kuratorische Luftblase, die, wenn man sie nicht platzen lassen will, als Wunsch deuten kann, "das Andere" zuzulassen, reinzulassen, durchzulassen und in sich selbst zu erkennen. Nur: Was Israel in Gaza macht, passt da nicht rein. Tsibi Gevas ungeheure Verwandlung des nationalen Pavillons hat eine historische Sackgasse zum Thema - von Zukunft kann keine Rede sein.

Die Biennale ist ein eigentümlicher Wettbewerb, eben weil sie den Diskursraum öffnet, der sich auftut zwischen "individuellen Mythologien" und verbürgter Geschichte. Das funktioniert in voller Pracht nur in den Giardini, weil die Häuser hier nicht venezianisches Dekor sind, sondern lebendige - teils gespenstisch lebendige - Kunstgeschichte. Es geht um eine Begegnung von Kunst und Haus, Material und Raum, Geschichte und Eigensinn.

Wer sich bald auf den Weg macht, sollte - außer den hier bereits beschriebenen - folgende Pavillons unbedingt besichtigen: Dänemark, England, Österreich, Polen, Schweiz, Serbien, und das kombinieren mit einer kurzen Bootsfahrt zur Insel San Giorgio. Für all das braucht man genau einen Tag. Eine genaue Betrachtung dieser Orte folgt in der Junikolumne von "Maluma und Takete".