Magazinrundschau - Archiv

Merkur

228 Presseschau-Absätze - Seite 10 von 23

Magazinrundschau vom 03.11.2015 - Merkur

Auch wenn man jetzt ständig höre, die Digitalisierung sei kein neues Phänomen, konstatieren Kathrin Passig und Alex Scholz lakonisch: Nicht nur haben Computer das analoge Stadium vor über 70 Jahren überwunden, es könnte auch gut sein, dass das Digitale dem Universum ebenso eingeschrieben ist wie das Analoge. "Die elektrischen Impulse im Nervensystem werden nach demselben Prinzip behandelt wie die Spannung im Mikroprozessor. Ein Reiz erreicht ein bestimmtes Schwellenpotential. Wie bei der digitalen Verarbeitung gibt es dabei keine klare Trennlinie, sondern einen ungefähren Bereich, der überschritten werden muss. Jetzt entsteht ein Aktionspotential, das eben nicht analog zur Stärke des auslösenden Reizes ist, sondern immer gleich aussieht. Bei der chemischen Informationsübertragung an den Synapsen hingegen kann die Zelle mehr oder weniger Neurotransmitter ausschütten - ein analoger Vorgang, solange man nicht zu genau hinsieht und anfängt, Moleküle abzuzählen. Der Bauplan für all das ist in der DNA digital gespeichert. Der elektrische Strom, mit dem Computer und Gehirn arbeiten, besteht aus einzelnen Elektronen."

Matthias Dell analysiert noch einmal minuziös jene Talkshow, in der Bayerns Innenminister Joachim Herrmann Roberto Blanco als "wunderbaren Neger" bezeichnete: Sprachpolitisches Lassier-faire sei keine Kategorie der Redefreiheit, meint Dell, sondern ungeniertes Abwerten nach unten.

Magazinrundschau vom 06.10.2015 - Merkur

"Auch Wissenschaftler performen Wissenschaft", proklamiert Thomas Etzemüller in einem provokanten Text über Selbstdarstellung im Wissenschaftsbetrieb: Wo ein Körper ist, da ist ein Auftritt, meint Etzemüller und plädiert dafür, die Person von Wissenschaftlern kenntlich zu machen und nicht länger verdruckst hinter dem "Vf.", dem entpersonalisierten Verfasser, zu verbergen: "Dabei schweigen sie ja nach wie vor - selbst wenn sie tatsächlich ihr Ego immer mehr in den Vordergrund rücken. Was sie übergehen, das ist der Alltag im Wissenschaftsbetrieb, die Aushandlung widerstreitender Interessen in Instituten, die Überwachung impliziter Normen, der subtile Aufbau von Hierarchien oder die Semiotik von Kleidung, Gesten und Körperhaltungen. Gerade das aber, so behaupte ich, spielt eine entscheidende Rolle für die Genese wissenschaftlicher Erkenntnis. Für Wissenschaftssoziologen sprechen Wissenschaftler also nicht zu viel, sondern falsch über sich."

Simon Rothöhler erkundet anhand von Tom Cruise die Gesetze des Megastartums.

Magazinrundschau vom 01.09.2015 - Merkur

Wie definiert man heute Kunst, überlegt der Autor Ernst-Wilhelm Händler, wenn universelle ästhetische Kategorien schlicht nicht mehr existieren und die Kunstkritik tot ist. Der einzelne Galerist oder Kurator, selbst wenn er Gagosian oder Obrist heißt, kann niemanden allein zum großen und damit begehrten Künstler adeln, meint er. Auch wenn die meisten Menschen das kaum glauben mögen: "Der Kunstbetrieb ist eine im Vergleich zu anderen Feldern völlig einmalige Kombination von Geld und Machtlosigkeit. Nirgendwo sonst hat so viel Geld so wenig Macht. ... Natürlich würden viele Akteure gerne Geld machen, indem sie zukünftig teure Kunst jetzt billig kaufen. Aber dieses Ziel bildet nicht den eigentlichen Fokus der Kunstszene. Das Angeben mit Kunst ist ein weitverbreiteter niederer Instinkt. Doch eigentlich möchte der Sammler gar nicht mit dem Preis, mit der Berühmtheit der von ihm erworbenen Kunst prahlen. Nichts kann sich mit der Aura eines Sammlers messen, der in der Zeit Kunst zu vertretbaren Preisen erworben hat, die später berühmt und teuer geworden ist. Was der Sammler tatsächlich möchte: Dass man sagt, er verstehe wirklich etwas von Kunst. Wird diese Kunst erfolgreich sein? Das ist die zentrale Frage, die alle Beteiligten des Kunstbetriebs umtreibt. "

Für den argentinischen Schriftsteller Cesar Aira lässt sich Kunst dagegen in einem Satz definieren: "Das Werk wird heute Kunstwerk, sobald es nur seiner Reproduzierbarkeit einen Schritt voraus ist."

Magazinrundschau vom 04.08.2015 - Merkur

In der heutigen Bildungsforschung wird Bildung nicht mehr als Kulturgut verstanden, sondern nur noch als Wissen oder Kompetenz, klagt der Zürcher Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach. Und das Unwort der Bildungsferne zeige, dass auch nicht mehr zwischen allgemeiner, besonderer und Menschenbildung unterschieden werde: "Wer sich zu Hause vor allem um seine jüngeren Geschwister kümmern muss oder um den elterlichen Haushalt oder aber im Laden steht statt die Schulbank zu drücken oder, weil er keine Lehrstelle findet, sein Glück als Hilfsarbeiter im Ausland sucht, ist "bildungsfern". Wer also früh im Leben und ungefragt Verantwortung für sich und andere übernehmen muss, gilt in der Taxonomie der empirischen Bildungsforschung höchstwahrscheinlich als "bildungsfern". Wer hingegen mit 25 oder 30 Jahren noch nicht so recht weiß, was er mit seinem Leben anfangen will, ist wahrscheinlich "bildungsnah"."

Weiteres: Ute Sacksofsky verteidigt feministische Rechtswissenschaft gegen ihre Kritiker. Jan-Werner Müller denkt über Populismus nach und stellt fest: "Die Empirie rangiert in der Vorstellungswelt der Populisten immer hinter der Moral."

Magazinrundschau vom 07.07.2015 - Merkur

Leider nicht Online erklärt Helmut Müller-Sievers den Erfolg amerikanischer Fernsehserien mit der langen Tradition eines literarischen Realismus in Frankreich, Großbritannien und den USA, der sich nicht nur auf die Repräsentation, sondern auch auf die Produktion und Rezeption des Erzählten bezog. Dass der Realismus in Deutschland keinen guten Stand hat, versteht Müller-Sievers mit Blick auf Autoren wie Wilhelm Raabe auch nur zu gut: "Als dann mit dem anglophilen Theodor Fontane der erste lesbare deutsche Realist auftrat ("Effi Briest", 1896), waren seit den "Pickwick Papers" sechzig Jahre vergangen - einen solchen Vorsprung macht man nicht mehr wett. Fontanes Zeitgenosse Henry James schrieb zu dieser Zeit schon Romane von solcher Subtilität und leisen Gewalt, dass sie bis heute nicht richtig angekommen sind." So fragt Müller-Sievers: "Wer denkt nicht beim "Tatort" sofort an die endlose Wiederkehr der "Stopfkuchen"-Provinz, bei "Breaking Bad" dagegen an "Great Expectations"?"

Michael Rutschky erzählt von seinem Jahr beim Merkur, wo er 1977 neben Hans Schwab-Felisch als Redakteur arbeiten sollte: "Es gab sofort ein schwerwiegendes Problem. Dem Herausgeber und seinem Redakteur stand nur ein einziges Telefon zur Verfügung. Es musste zwischen den Schreibtischen immer wieder hin und her gereicht werden, und weil das Telefon Schwabs bevorzugtes Arbeitsgerät war, kamen leicht Eifersucht und Beraubungsängste auf. Schwab aktualisierte seine etablierten Netzwerke für die neue Arbeit, ich hätte meine aufbauen sollen, eine kritische Situation."

Christoph Menke sieht die Revolution aktuell ganz hoch im Kurs stehen, und zwar nicht nur in der akademischen Linken, sondern "in vielen Verlagsprogrammen, Feuilletons,Talkshows, Seminardiskussionen, in vielen Theaterprogrammen und Kunstausstellungen sowieso", hält ihre "Möglichkeit" jedoch für ein bisschen "ungesichert".

Magazinrundschau vom 02.06.2015 - Merkur

Ekkehard Knörer rekapituliert die von Jörg Sundermeier angestoßene Debatte um die Qualität der Literaturkritik und muss eingestehen, dass der Betrieb erfolgreich die Kritik durch Umarmung ausgehebelt hat. Als Beispiel nennt Knörer den Betriebsfürsten Hubert Winkels: "Er hat als Erzähler begonnen und ist seit 1997 Literaturredakteur beim Deutschlandfunk. Das Zentrum von Winkels" Tätigkeiten ist aber sicher nicht das Funkhaus in Köln. Vielmehr gilt: Wo Winkels ist, ist Betrieb, und wo Betrieb ist, ist Winkels - sei es in Jurys aller Art, beim Bachmannpreis, auf Literaturfestivals oder Gastprofessuren, in Literaturhäusern, bei Autorengesprächen, als Experte in der 3sat Kulturzeit; zwischendurch verfasst er noch Essays, Bücher, Zeitungstexte. Und auch da, wo der Betrieb reflektiert wird, kann man ihn finden." Zum Lesen kommt er bei all den Terminen nur nebenbei, gestand Winkels auf einem Mainzer Kolloquium zum "Ende der Literaturkritik": "Virtuoser als Winkels kann man das Nebeneinander von Beobachtung / Mittun / Kritik jedoch nicht inszenieren. Der Kaiser ist nackt, spricht es aus und liefert eine Theorie der Notwendigkeit seiner Nacktheit gleich mit."

Außerdem diskutieren Joseph Vogl und Armen Avanessian über die Frage, ob Bologna-Reform und Exzellenzinitiative an den Universitäten wirklich zu kontraproduktiver Ökonomisierung, traurigen Wissenschaftlerbiografien und alter Ordinarienherrlichkeit führen mussten.

Magazinrundschau vom 05.05.2015 - Merkur

Aus der Perspektive eines echten Protestanten, der mit dem Gewäsch evangelischer Kirchenfunktionäre (und gar schon der katholischen) nichts anfangen kann, knöpft sich Friedrich Wilhelm Graf den Diskurs der deutschen Kirchen zum "assistierten Suizid" vor, der von den meisten Deutschen befürwortet wird, während die Kirchen ihn auch aus Lobbyinteresse als größte Arbeitgeber Deutschlands bekämpfen (pdf-Link). In den Niederlanden, England und Frankreich argumentierten protestantische Geistliche anders: "Sterben sei ein existentieller, privater Vorgang am Lebensende des Einzelnen, und deshalb hätten weder der Staat ein rechtliches, noch die Kirchen ein ethisches Mandat, freien Bürgern vorschreiben zu wollen, wie sie denn sterben wollen, weshalb die reformierten Kirchen in der Schweiz den assistierten Suizid befürworteten. Hier wird auf hohem theologischen Reflexionsniveau die notorische Übergriffigkeit von Staat und Kirchen delegitimiert. Insofern ist es erneut nur eine Lüge, wenn katholische wie zahlreiche protestantische "Kirchenführer" der deutschen Öffentlichkeit zu suggerieren versuchen, es gebe so etwas wie "die christliche Stimme" in Europa oder gar "das christliche Menschenbild"." Dennoch, so Graf, werden sich die Kirchen im Bundestag durchsetzen, wo das Recht auf ärztlich assistieren Suizid kassiert werden soll.

Magazinrundschau vom 14.04.2015 - Merkur

Nicht ohne selbst in lustvolles Wortgeklingel zu verfallen wendet sich Claus Pias im Merkur (hier als PDF-Dokument) jener großen Zeit der "Theorie" zu, die bereits Ulrich Raulff in "Wiedersehen mit den Siebzigern" und Philipp Felsch in "Der lange Sommer der Theorie" thematisierten. Sein Gegenstand ist Friedrich Kittler, den er historisieren will, um sein Altern aufzuhalten. Es gehe darum, die Situation zu rekonstruieren, in der er, der heute die Diskurse locker regiert, noch provokativ war. Zum Thema Theorie sagt Pias: ""Theorie", so scheint es bald zwanzig Jahre nach ihrem langsamen Abklingen, ist der Sammelbegriff einer in den sechziger Jahren begonnenen Hegemoniebestrebung differenztheoretischer Modelle. Was "Theorie" war, mag einleuchten, wenn man sich etwa daran erinnert, dass die berühmten, stilprägenden Reihen des Suhrkamp Verlags einfach nur "Theorie I" und "Theorie II" hießen oder dass Helmut Schelsky mehr oder minder wörtlich forderte, die Universität Bielefeld "auf Theorie zu bauen". Für Kittler war "Theorie" die Stoßrichtung gegen das Telos hermeneutischen "Verstehens" als Seelenwanderung sinnhafter Substanz zwischen dem hermeneutischen Objekt und dem verstehenden Subjekt. Der Erfolg dieses Vorstoßes ist eine vollzogene Ablösung, die "Theorie" als Differenz zum hermeneutischen Primat der Identität installiert hat." Alle Theorie-Taliban, die das nicht verstanden haben, setzen sich nochmal hin und lernen, "Die Ordnung der Dinge" zu rezitieren.

Magazinrundschau vom 03.03.2015 - Merkur

Der Kunsthistoriker Walter Grasskamp kann an dem Verkauf der beiden Andy Warhols aus der Aachener Spielbank nichts Skandalöses finden, wahrscheinlich hätte das Marketinggenie Warhol Hannelore Kraft sogar ein Porträt im Polaroid-Glitzerramsch-Stil gewidmet: "Die Pathosfloskeln des Kulturgutschutzes wirkten in diesem Fall besonders trivial, weil die beiden zweifellos museums-überreifen Werke selber den Umgang mit Bildern thematisieren, und zwar, wie bei Warhol üblich, in der oberflächlichen Bearbeitung von als solchen erkennbaren Reproduktionen aus Massenmedien. Man konnte sich also fragen, ob die gerasterte Abbildung der beiden Werke auf dem knistrigen Papier einer Tageszeitung nicht viel besser der Denkweise Warhols entsprach, als es die Dauerpräsentation auf einer keimfreien Museumswand je hätte leisten können, weil die journalistische Skandalisierung des Verkaufs die "Pop-Ikonen" dorthin zurückführte, wo sie herkamen - in die Massenmedien."

Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies rekapituliert die deutsche Debatte um die Ukraine und Russland, und wirft den linken Russlandverstehern politisches und publizistisches Totalversagen vor: "In der Ukraine hat eine politisch heterogene Protestbewegung, in der die vielbeschworenen Rechten eine Minderheit waren und deren geringer gesellschaftlicher Rückhalt in den ukrainischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen offenbar wurde, ein autoritäres Regime gestürzt, dessen Führer sich schamlos selbst bereichert hatten. Putin legitimierte die militärische Intervention in Russlands Nachbarland mit völkisch-nationalen Argumenten und tut alles, um eine demokratische Entwicklung sowohl in der Ukraine als auch in Russland zu verhindern. Für Linke, so müsste man meinen, gäbe es in der Ukraine einiges zu entdecken, in Russland derzeit eher wenig."

Magazinrundschau vom 03.02.2015 - Merkur

Ute Sacksofsky stört sich in ihrer Rechtskolumne daran, dass das Bundesverfassungsgericht die Glaubensfreiheit immer nur dann stärkt, wenn es um die beiden großen Kirchen geht, aber nicht bei Muslimen, und schon gar nicht bei Sektierern, Fundamentalisten und Ultra-Religiösen. Einer der Gründe könnte ihrer Überlegung nach folgender sein: "Religionsfreiheit wird in Deutschland von den Kirchen, nicht von den Einzelnen her gedacht. So erklärt sich nicht nur die in Deutschland anerkannte Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, das antidiskriminierungsrechtliche Anfechtungen stets unbeschadet übersteht. Dies hat auch zur Folge, dass Inhalte von Religion "autoritativ" festgelegt werden. Religiöse Überzeugungen bedürfen Brief und Siegel, um als ernsthafter Glaube begriffen zu werden, der nur dann auch grundrechtlichen Schutz verdient."

Weitere Artikel: Der Politologe Alban Werner deckt auf, dass die grüne Mittelschichtsklientel insgeheim denkt, was die AfD laut ausspricht. Im Print ist eine Rede Navid Kermanis nachzulesen, in der er von seiner Liebe zum Iran erzählt, vor allem aber, wie er bei der FAZ kündigte: "Die Verachtung, die mir Schirrmacher daraufhin entgegenbrachte, muss ich nicht ausbreiten. Es war wohl seine Art, mit Menschen umzugehen, die sich von ihm abwandten." Thomas Steinfeld denkt über Muzak nach.