Magazinrundschau - Archiv

London Review of Books

514 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 52

Magazinrundschau vom 07.11.2023 - London Review of Books

Der britische Autor John Lanchester erzählt, entlang zweier aktueller Buchveröffentlichungen, eine Rise-and-Fall-Geschichte aus der Welt der Kryptowährungen. Wobei Sam Bankman-Fried, der bis Anfang 2021 als Business-Wunderkind galt und derzeit in New York wegen Betrugsdelikten vor Gericht steht, sich wohl gar nicht so sehr für Krypto interessiert. Die Triebfeder hinter seinen Aktivitäten heißt stattdessen "Effective Altruism", eine Bewegung, die dem Versuch verpflichtet ist, Wohltätigkeit probabilistisch zu maximieren: "Der Gedanke funktioniert wie folgt: Wenn Du Medizin studierst und in einem Entwicklungsland als Arzt arbeitest, dann rettest Du Leben, stimmt; aber der Unterschied, den Deine Handlungen in der Welt bewirken, ergibt sich lediglich aus der Differenz zwischen den Leben, die Du rettest und den Leben, die ein anderer Arzt rettet, der statt Deiner dieselbe Arbeit ausgeführt hätte. Wenn Du andererseits für eine Bank arbeitest und all Dein Geld spendest, dann besteht der Unterschied, den Du bewirkst, aus all dem Geld, das Du weggibst und den Leben, die damit gerettet werden - man kann schließlich davon ausgehen, dass der Bankier, der den Job an Deiner Stelle übernommen hätte, sein Geld nicht gespendet hätte." Um schnell an viel Geld zu kommen, gründet Sam Bankman-Fried also eine Krypto-Börse - die schnell enorm erfolgreich wird und noch schneller, mutmaßlich auch aufgrund windiger Geschäftspraktiken des Gründers, Pleite geht. Was nun ist von diesem Typen zu halten? Sympathie empfindet Lanchester nicht für ihn. Stattdessen schreibt er über die "innere Leere" eines Mannes, der vor zweienhalb Jahren Multimilliardär war und nun möglicherweise den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen wird: "Er hat keinen moralischen Kompass außer dem, den er sich von den effektiven Altruisten geborgt hat. Viele Menschen borgen sich ihren moralischen Kompass von einer Religion, aber alle Religionen haben einen Platz für Empathie, auch wenn sie diese oft nur selektiv einsetzen. Effektiver Altruismus hat keinen Platz für Empathie und Sam Bankman-Fried hat auch keinen."

Magazinrundschau vom 24.10.2023 - London Review of Books

Der britisch-nigerianische Journalist Adéwálé Májà-Pearce wirft ein hartes Schlaglicht auf die Eliten in Afrika. Schön ist der Anblick nicht. "Afrika hat die jüngste Bevölkerung und einige der ältesten Staatsoberhäupter der Welt. Viele sind schon seit Jahrzehnten an der Macht. Gabun wurde vor dem Militärputsch im August mehr als ein halbes Jahrhundert lang von der Bongo-Dynastie regiert. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ist unter 22 Jahre alt. Faure Gnassingbé übernahm 2005 die Präsidentschaft in Togo nach dem Tod seines Vaters Gnassingbé Eyadéma, der 38 Jahre lang regiert hatte. Um dem Enthusiasmus für Mehrparteiendemokratien nach dem Kalten Krieg zu entsprechen, kündigte er an, dass er nur zwei fünfjährige Amtszeiten absolvieren würde. Im Jahr 2019 änderte er seine Meinung und setzte eine Verfassungsänderung durch, die ihm eine weitere zehnjährige Amtszeit ermöglichte. Es ist gut möglich, dass er lebenslang Präsident bleibt: Er ist erst 57 Jahre alt, ein "kleiner Junge" im Vergleich zum 65-jährigen Paul Kagame aus Ruanda (23 Jahre im Amt), dem 79-jährigen Denis Sassou Nguesso aus der Republik Kongo (26 Jahre im Amt), dem 81-jährigen Teodoro Obiang Nguema Mbasogo aus Äquatorialguinea (44 Jahre im Amt) und dem 90-jährigen Paul Biya aus Kamerun (41 Jahre im Amt). Kagame und Biya haben vor kurzem ihre Führungsriege umgestellt. Sie alle blicken ängstlich über die Schulter zum Militär. Der 81-jährige Präsident von Côte d'Ivoire, Alassane Ouattara, übernahm 2010 die Macht, argumentierte aber, dass eine Reihe von Verfassungsänderungen, die 2016 verabschiedet wurden, seine Amtszeit effektiv auf Null zurückgesetzt hätten und er daher für zwei weitere fünfjährige Amtszeiten kandidieren könne. Im Jahr 1999 behauptete Ouattara, dass sich 'vor unseren Augen eine afrikanische Renaissance entfaltet ... Die meisten Länder wurden während ihrer Unabhängigkeit zum längsten Teil von autokratischen Führern regiert - autokratisch, weil sie, ob aufgeklärt oder nicht, über dem Gesetz standen." Und dann sind da Guinea, Mali, Niger und Burkina Faso, die in den letzten Jahren die alten Regime durch Militärjuntas ersetzt haben. Machen sie einen Unterschied? Májà-Pearce winkt ab: "Die Vorstellung, dass diese neuen Regime einen grundlegenden Wandel in der Regierungsführung darstellen - eine Vorstellung, die sich bei den jungen Westafrikanern immer mehr durchsetzt - ist ein Irrglaube. Tchiani, der versprochen hat, die Macht in drei Jahren abzugeben, war ein ehemaliger Chef der Präsidentengarde, der befürchtete, dass er bald pensioniert werden würde. General Brice Oligui Nguéma, der neue Präsident von Gabun, stand Bongo père nahe und war zuletzt Chef der Republikanischen Garde unter Bongo fils, doch wie Tchiani wuchs auch bei ihm die Sorge, dass er in den Ruhestand versetzt werden könnte. Ali Bongo wurde eine Woche nach seiner Absetzung vom neuen Militärregime aus dem Hausarrest entlassen und kann offenbar nach Frankreich reisen, wo er sich auf sein Familienanwesen im Wert von schätzungsweise 85 Millionen Euro zurückziehen kann; sein Nachfolger soll eine Reihe von Immobilien in den USA gekauft haben."

Weitere Artikel: Adam Shatz warnt, dass die Gewalt auf beiden Seiten Palästinenser und Israelis verändern wird, die Israelis vielleicht noch ein bisschen mehr. Amjad Iraqui ist entsetzt über die Ermordung zahlreicher israelischer Zivilisten durch die Hamas, aber er fürchtet auch, dass die israelische Armee jetzt die Bevölkerung aus Gaza in die Wüste Sinai vertreiben wird.

Magazinrundschau vom 17.10.2023 - London Review of Books

Tom Stevenson blickt auf die international nie anerkannte Republik Arzach in der kaukasischen Region Bergkarabach zurück, die seit der militärischen Eroberung durch das sie umgebende Aserbaidschan und die Vertreibung der armenischen Bevölkerungsmehrheit im September diesen Jahres nicht mehr existiert. Die armenische Enklave war seit dem Ende der Sowjetunion Gegenstand politischer und immer wieder auch militärischer Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Was also hatte es mit der der Republik Arzach auf sich? "Als Armenien die frühere Autonome Oblast Bergkarabach eroberte, vertrieben es Tausende Aserbaidschaner, zehntausende Zivilisten starben. Aus aserbaidschanischer Perspektive und vermutlich auch aus der des Völkerrechts war Arzach eine illegale Entität. In Armenien wurde es als wichtiger Teil des modernen armenischen Staats betrachtet. Zu verteidigen gelte es Arzach aus diesem Grund, aber auch, weil die Menschen, die damals dort wohnten, offensichtlich nicht unter aserbaidschanischer Herrschaft leben wollten. Die Republik Arzach war Folge eines historischen Trends: das Ende der ethnischen Durchmischung kaukasischer Städte, die sich in den letzten Jahren der Sowjetunion rapide beschleunigt hatte." Jetzt hat also Aliyevs Aserbaidschan die Kontrolle über die Region. Stevenson lässt keinen Zweifel daran, dass die Flucht der Armenier Teil des Plans Aliyevs war und dass es sich damit um einen erneuten Fall von ethnischer Säuberung handelt. Die alleinige Schuld an der Eskalation möchte er Aserbaidschan allerdings nicht zuweisen: "Arzach war immer eine eigene Krise mit eigenen, lokalen Zusammenhängen. Die aserbaidschanische Regierung stellte es so dar, als würde sie die Gunst der Stunde nutzen, als sie im September in der Gegend militärisch aktiv wurde. 'Wir hätten das nicht früher tun können und länger zu warten wäre auch keine gute Idee gewesen', meint der aserbaidschanische Botschafter in Großbritannien. 'Die Operation stand unter einem günstigen Stern'. Auch deshalb, weil Europa dabei ist, die Beziehungen zu Aserbaidschan zu verbessern. (...) Im Juli letzten Jahres reiste Ursula von der Leyen nach Baku, um Aliyev zu treffen und einen Vertrag zu unterschreiben, der den europäischen Bezug von Erdgas aus Aserbaidschan verdoppelt."

Judith Butler meldet sich zur aktuellen Nahostkrise zu Wort. Sie verurteilt die Massaker der Hamas und kritisiert auch Organisationen wie das Harvard Palestine Solidarity Committee, die die Terrororganisation von jeder Schuld freispricht und einzig das "Apartheidsregime" Israels für verantwortlich erklärt. Allerdings will sie es dabei nicht bewenden lassen und legt insbesondere Wert darauf, dass Hinweise auf den Ursprung des Konflikts nicht als Relativierung ausgelegt werden: "Einige Leute befürchten zurecht, dass jede Kontextualisierung der Gewalttaten der Hamas dazu genutzt werden wird, die Hamas zu entlasten, oder die Aufmerksamkeit von den Schrecken abzulenken, den sie hervorgerufen hat. Aber was, wenn dieser Schrecken selbst zur Kontextualisierung führt? Wo beginnt der Schrecken und wo endet er? ... Wenn entschieden wird, dass wir nicht wissen müssen, wie viele palästinensische Kinder und Jugendliche in der West Bank und in Gaza während der Besatzungszeit getötet wurden, wenn diese Information nicht als notwendig für die Beurteilung der Angriffe auf Israel und die Tötung von Israelis gehalten wird, dann haben wir uns entschieden, dass wir nicht die Geschichte der Gewalt, der Trauer und des Zorns kennen möchten, wie sie von Palästinensern gelebt wird." (Und das soll jetzt keine Relativierung sein?)

Magazinrundschau vom 10.10.2023 - London Review of Books

Allen Bemühungen zum Trotz, den illegalen Handel mit gestohlenen Antiquitäten einzuschränken, boomt das Geschäft damit, stellt Azadeh Moaveni fest. Nicht unwesentlich daran beteiligt ist die "Antikenabteilung von Isis, eine offizielle Einheit, die Millionen von Dollar sammelte, um die Operationen der Gruppe zu finanzieren. Auf dem Höhepunkt seiner Macht beherrschte der Islamische Staat ein Drittel des Irak sowie Gebiete in Libyen und Syrien, die reich an antiken Ruinen sind, darunter mindestens zehn Unesco-Welterbestätten. In Syrien waren auch Oppositionsgruppen, die von den USA und den Golfstaaten unterstützt wurden, in diesen Handel verwickelt. Als ich einige Zeit in Syrien und der Türkei verbrachte, um über Isis zu berichten, zückten Rebellenkommandeure beim Abendessen ihre Mobiltelefone, um mir Bilder von antiken Gegenständen zu zeigen - antike Gebetsperlen, eiförmige Schnitzereien -, die sie zu Hause hatten, und fragten mich manchmal, was diese seltsamen Gegenstände sein könnten. Unter Experten für Terrorfinanzierung und Archäologen herrscht Uneinigkeit darüber, wie hoch die Einnahmen von Isis aus dem Handel mit Antiquitäten waren: Verlässliche Daten sind nur schwer zu bekommen. Aber der Verdacht, dass es sich um eine beträchtliche Summe handelt, hat zu Reformen in der Welt des Handels und des Sammelns geführt, die noch vor einem Jahrzehnt rücksichtslos und oft gleichgültig gegenüber Fragen der Herkunft waren. Wenn wohlhabende Sammler nicht bereit waren, das kulturelle Erbe von Ländern zu schützen, die sich im Krieg befanden, würde vielleicht die Andeutung, dass sie Isis finanzierten, ihre Gleichgültigkeit bremsen. Organisationen wie die Clooney Foundation for Justice haben Berichte in Auftrag gegeben, die die Verwendung von geraubten Antiquitäten zur Finanzierung von Kriegsverbrechen und Terrorismus veranschaulichen und darauf hinweisen, dass kriminelle Antiquitätenhändler viele illegale Güter auf einmal transportieren können: Waffen, Menschen und Wildtiere ebenso wie wertvolle Artefakte. Die somalische Dschihadistengruppe al-Shabaab exportierte Elfenbein nach China, um ihre Aktivitäten zu finanzieren, zu denen auch der Anschlag auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi gehörte, bei dem 71 Menschen getötet wurden." Dennoch finden immer wieder kostbare Artefakte ihren Weg in große Museen, wie beispielsweise der goldene Sarg des ägyptischen Priesters Nedjemankh, den das Met Museum 2018 auf seiner jährlichen Gala ausstellte und der sich als Raubkunst entpuppte, nachdem Kim Kardashian neben ihm posiert hatte.

James Vincent unternimmt in seiner Besprechung von Keith Houstons Buch "Empire of the Sum: The Rise and Reign of the Pocket Calculator" einen Gang durch die Geschichte der "Gehirnprothesen", also der diversen Rechenmaschinen, die über die Jahrtausende entwickelt wurden, um die Beschränktheit unserer kognitiven Fähigkeiten auszugleichen. Ein wichtiges frühes Gerät war der Abakus, der im 17. Jahrhundert von dem auf logaritmischen Prinzipien beruhenden Rechenschieber abgelöst wurde. Schon damals wurden technische Neuerungen skeptisch beäugt, lernen wir, oft mit ähnlichen Argumenten wie heute: "Die Person, die für die Entwicklung der Erfindung am wichtigsten war, der Engländer William Oughtred (1574-1660), ein Pfarrer und Mathematiker, hielt den Rechenschieber bald für gefährlich, weil seine Einführung dazu führen könnte, dass Schüler die mathematischen Grundlagen nicht mehr lernen. 'Die richtige Art zu unterrichten ist nicht mit Instrumenten, sondern durch Demonstration', beschwerte er sich. 'Es ist ein Irrweg vulgärer Lehrer, mit Instrumenten zu beginnen, und nicht mit Wissenschaft, und die Schüler Tricks aufführen zu lassen, als wären sie Jongleure.'"

Magazinrundschau vom 26.09.2023 - London Review of Books

Dass kapitalistische und kolonialistische Expansion historisch oft Hand in Hand gingen, ist keine neue Erkenntnis. Der Historiker Philip J. Stern will es in seinem Buch "Empire, Incorporated" genauer wissen und untersucht die Rolle privater Firmen im britischen Imperialismus. Michael Ledger-Lomas zeichnet in seiner Besprechung diese wechselvolle Geschichte nach. Besonders wichtig waren die Firmen in der Frühphase des Kolonialismus, als es darum ging, möglichst schnell möglichst viel Land in Besitz zu nehmen. Inbesondere frühe Aktiengesellschaften spielten dabei eine wichtige, teilweise auch ambivalente Rolle: "Aktiengesellschaften, die passive Investoren anzogen, waren ein Paradies für Betrüger. Schmierfinken, Piraten und Mystiker schrieben ihre Prospekte. Spektakuläre Aktionen waren ihnen wichtiger als Geschäftsberichte, wie etwa der Fall der Virginia Company beweist, die Pokahontas auf eine Tour durch England schickte, um die Rentabilität des Powhatan-Stamms zu beweisen. Francis Drake, Humphrey Gilbert und andere Freibeuter deckten ihre Kosten, indem sie spanische Schiffe ausraubten (und sie dann der Britischen Flotte übergaben, als eine Form verdeckter Kriegsführung); oder sie unternahmen den Versuch, so viel indigenes Land wie möglich in ihren Besitz zu bringen, bevor sie es an ihre Tochtergesellschaften weitergaben. Sie waren besser in dieser Art des Matrjoschkageschäfts als darin, profitable oder gar nützliche Geschäfte aufzubauen. Elisabeth die Erste wollte 1000 Pfund in die Martin Frobisher Company aus Cathay investieren, ein Bergbauunternehmen, dessen Schiffe 1000 Tonnen wertlosen Fels aus der Neuen Welt nach England verschifft hatte und das kollabierte, bevor auch nur eine Urkunde ausgestellt worden war."

Francis Gooding berichtet Erstaunliches aus der Welt der Schwertwale aka Orkas. Seit ein paar Jahren greifen die Tiere bei der Straße von Gibraltar immer wieder Schiffe an - oder wollen sie nur spielen? Wie Gooding darlegt, sind Mensch-Orka-Interaktionen historisch betrachtet keine Seltenheit. Und wenn man in der Erdgeschichte noch etwas weiter zurückgeht, wächst die Bedeutung der Schwertwale ins Unermessliche: "Es ist möglich, dass die Orkas das Meer in ähnlicher Weise beeinflusst haben wie die frühen Menschen das Land, und es ist zumindest denkbar, dass das ökologisch zerstörerische übermäßige Töten anderer Spezies eine weitere Parallele zwischen der Frühgeschichte der Orkas und der Menschen ist. Das Auftauchen der Orkas vor ungefähr zehn Millionen Jahren korreliert mit dem plötzlichen und mysteriösen Verschwinden von mehr als der Hälfte der bekannten Arten an Walen, Robben und Seekühen (Dugongs und Manatees) aus den fossilen Funden. Ähnlich wie im Fall des weit verbreiteten Ausdünnung terrestrischer Fauna in Gegenden, die im Pleistozän von Menschen kolonisiert wurden, könnten die Orkas, das ist eine Hypothese, im Zuge ihrer Verbreitung im maritimen Ökosystem andere Seesäugetiere gejagt und ausgerottet haben." Überraschend fände Gooding das nicht: "Orkas sind ausgesprochen intelligente Wesen. Zu sagen, dass Tiere 'Kultur' besitzen, sorgt hier und da immer noch für Stirnrunzeln, aber das meiste von dem, was das Leben der Orka ausmacht, ist nicht genetisch vorprogrammiert, sondern wird individuell oder in Gruppen gelernt. Anthropologen mögen an die Decke gehen, wenn man so etwas Kultur nennt, aber es fällt schwer, ein Wort zu finden, das besser passt, um lokale Verhaltenstraditionen zu beschreiben, die durch soziales Lernen weitergegeben werden."

Magazinrundschau vom 12.09.2023 - London Review of Books

Rosemary Hill besucht die Ausstellung "Art and Artifice: Fakes from the Collection" in der Courtauld Gallery und macht sich Gedanken über die Geschichte der Kunstfälschung. Dabei begegnet sie jeder Menge eigenwilliger Charaktere, wie etwa dem Niederländer Han van Meegeren: "Van Meegeren's Karriere zeigt vortrefflich, auf welch gewunden Pfaden diese Künstler der Kunstfälschung oft unterwegs waren. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateur angeklagt, weil er einen Vermeer an Hermann Göring verkauft hatte, wurde aber freigesprochen, nachdem er ausgeführt hatte, dass es sich um eine Fälschung gehandelt und er den Verkauf nur getätigt habe, um Hollands echtes kulturelles Erbe zu beschützen. Daraufhin wurde er zu einer Art Nationalheld, weil es ihm gelungen war, den deutschen Minister übers Ohr zu hauen. Mehr Schwierigkeiten bereitete es ihm, zu erklären, warum eines seiner Bücher in der Reichskanzlei gefunden wurde, und zwar mit folgender Widmung: 'Für meinen geliebten Führer, von H. van Meegeren, Laren, Nordholland, 1942'. Mit erstaunlicher Frechheit behauptete van Meegeren, dass es sich bei der Widmung um eine Fälschung handele; hier und da wurde ihm sogar geglaubt." Eher selten haben Fälscher finanzielle Motive, so Hill: "Fälscher haben zumeist andere, kompliziertere Gründe, manche hoffen fast schon darauf, enttarnt zu werden. Ein besonders schamloses Beispiel aus den 1890ern ist Icilio Federico Joni. Eine in die Ausstellung aufgenommene sepiafarbene Porträtfotografie zeigt ihn als einnehmenden Mann, in Wams und Kniehose. Joni führte die Gothic-Mode seiner Zeit zum logischen Endpunkt mit seiner 'frühitalienischen' religiösen Malerei. Eines seiner Werke, ein recht glaubwürdig anmutendes kleines Triptych, ist in der Ausstellung enthalten. Fälscher haben oft etwas von Exhibitionisten. In gewisser Weise sind sie selbst ihre elaboriertesten Kreationen."

Seating Female Nude, Fälschung im Stil Auguste Rodins, The Courtauld London (Samuel Courtauld Trust)


Magazinrundschau vom 05.09.2023 - London Review of Books

Laleh Khalili beschäftigt sich, entlang einiger Neuerscheinungen mit dem Phänomen "woke capitalism". Er zeichnet dessen Kontinuität mit der britischen und französischen Kolonialpolitik nach, die, so die These, in der Gegenwart vom Fantasma eines Kapitalismus ersetzt wurde, der auf der Ansicht basiere, Erfolg zu haben und Gutes zu tun sein praktisch dasselbe. Ein Ergebnis ist der Rückbau öffentlicher zugunsten privatwirtschaftlicher Infrastruktur: "Heute ist die Debatte über eine Balance zwischen privaten und öffentlichen Investitionen im Globalen Süden beigelegt. Durchgesetzt hat sich das Privatkapital. Mobilfunk und Internet, Wasser und Abwasser, Dienstleistungsbetriebe, mobiles Banking, Finanzinfrastruktur, Krankenhäuser und Arztpraxen: In all diesen Feldern existieren private Initiativen neben öffentlichen und immer öfter verdrängen sie letztere. Viele dieser Firmen erhalten Sicherheiten und internationale Bürgschaften mithilfe von Entwicklungshilfeorganisationen, und in den wenigen Fällen, in denen die Profite nicht außerhalb des Landes realisiert werden, bereichern sich lokale Geschäftsleute mit Verbindungen zu internationalen Netzwerken. Viele dieser Geschäftsleute haben Masterabschlüsse von Europäischen oder Amerikanischen Wirtschaftsunis und haben in den Zentren der internationalen Finanzwelt für Consultingfirmen oder Investmentbanken gearbeitet. Wo die Not am größten ist, ist Privatkapital durchweg am dominantesten: 73 Prozent der Infrastrukturprojekte in Afrika werden von ausländischen Investoren gestützt."

Weiteres: Geoff Mann übt sich angesichts des Klimawandels im Katastrophendenken. Colm Toibin meditiert über James Joyces Irrtümer. Und Liam Shaw stellt uns Pflanzendetektive vor.

Magazinrundschau vom 08.08.2023 - London Review of Books

Der britische Autor und Journalist James Meek kehrt zurück nach Kiew. Er beobachtet, wie der Krieg die Stadt, in der er lange Zeit lebte, verändert und sich in den Alltag der Menschen eingeschlichen hat: "Er zeigt sich jenseits der Nachrichten von der Front, der Leichenzüge, der Fahnen über den frischen Grabsteinen, der Trauer der Freunde und Verwandten der Gefallenen, obwohl es davon reichlich gibt." Fester Teil des Stadtbildes sind die Soldaten geworden, überall sieht man sie, schreibt Meek, mit ihren Krücken, Schlingen und Prothesen. Unter ihnen sind auch "Sunny" und sein Freund: "Eines Nachmittags sah ich auf Chreschtschatyk einen schmächtigen, blassen, bärtigen Soldaten in Kammgarn vor einem Restaurant namens Mafia rauchen. Er trug einen Union-Jack-Aufnäher am Ärmel. Ich fragte ihn, ob er Brite sei. Er sagte, er stamme aus Scunthorpe. Er war früher Schiffsbauer, aber, so sagte er, der Krieg habe ihn 'angezogen'. Er hatte in Syrien gekämpft. Jetzt diente er bei einer ukrainischen Einheit in Kramatorsk im Donbas, etwa vierzehn Meilen von der Front entfernt. Er nannte mir nicht seinen richtigen Namen, sondern nur seinen nom de guerre, den Namen, den Soldaten auf beiden Seiten zu tragen pflegen: seiner lautete Sunny. Wir tauschten Nummern aus. Ich wollte an diesem Abend abreisen, hoffte aber, dass ich vorher noch mit ihm sprechen könnte. Er ging zurück ins Restaurant, um zu Ende zu essen, und ein paar Minuten später folgte ich ihm hinein. Er aß mit einem anderen Soldaten, der bis zum Kinn wie jeder andere junge Mann aussah. Aber nicht, wenn man weiter hochschaute. Alles in dem Restaurant war in gewisser Weise vertraut, aber das nicht. Der Kamerad hatte eine Wunde in der Mitte seines Gesichts überlebt, um ein Leben zu führen, das nun ein anderes sein würde. Ich wollte starren; ich wollte nicht hinsehen; ich wollte vermeiden, dass es so aussah, als ob ich starrte oder als ob ich versuchte, nicht hinzusehen. Ich sagte Sunny, dass ich hoffte, ihn später zu sehen, und schüttelte die Hand seines Kameraden. 'Schön, Sie kennenzulernen', sagte ich."

Magazinrundschau vom 15.08.2023 - London Review of Books

Einen schweren Fehler nennt Randall Kennedy die Entscheidung des amerikanischen Supreme Courts, amerikanischen Universitäten die Praxis der Affirmative Action zu verbieten, die es Angehörigen historisch benachteiligter ethnischer Minderheiten erleichtern sollte, an prestigeträchtigen Universitäten zu studieren. Die rein legalistische Argumentation der von John Roberts verfassten Mehrheitsmeinung setze den Universitäten zu enge Grenzen und weigere sich, die laut Kennedy notwendige Unterscheidung zwischen negativer und positiver Diskriminierung zu treffen. Dennoch warnt er die Verteidiger der Politik davor, die Probleme von Affirmative Action zu leugnen: "Affirmative Action führt zu Problemen, denen man nur durch Selbstbetrug entkommt. Barack Obama, einer der wichtigsten Befürworter der Regelung, meinte einmal, dass diese 'solange sie korrekt organisiert ist, Möglichkeiten für Minderheiten eröffnet, ohne Möglichkeiten für weiße Studenten zu mindern'. Wie soll das funktionieren? Im Fall von Universitäten mit Zugangsbeschränkungen werden Vorteile zugunsten Schwarzer und Latinos notwendigerweise Nachteile für Andere mit sich bringen. Das bedeutet nicht, dass Affirmative Action böswillig diskriminiert in dem Sinne, dass einzelne Gruppen absichtlich aufgrund ihrer Ethnizität ausgeschlossen werden. Aber es bedeutet, dass das Verfolgen eines ehrenwerten Ziels dazu führt, dass Menschen, die keine Schwarzen oder Latinos sind, Nachteile erleiden."

Magazinrundschau vom 25.07.2023 - London Review of Books

Florence Sutcliffe-Braithwaite begibt sich in das Britannien des Kalten Kriegs und zeichnet die gesellschaftlichen Reaktionen auf die atomare Bedrohung nach. Entlang eines Sachbuchs der Journalistin Julie McDowall, "Attack Warning Red!", legt sie dar, dass die Angst vor dem nuklearen Holocaust in der britischen Öffentlichkeit seit den 1950er Jahren präsent war und in den 1980ern einen Höhepunkt erreichte. Verschiedene Gruppierungen versuchten auf diese Stimmung zu reagieren oder auch daraus Profit zu schlagen. Nicht alle Initiativen erwiesen sich dabei als zielführend: "Im Jahr 1981 erhielt die Branche sogar eine eigene Zeitschrift: Project and Survive Monthly bestand hauptsächlich aus Anzeigen für Geigerzähler und Bunker mit Namen wie 'The Mole and the Egg'. Es gab definitiv einige Leute, die sich vorbereiten wollten: Eine 'Hausfrau und Mutter' schrieb 1980 an die Sunday Times und fragte, ob 'es hilfreich ist, den Bunker mit Plastik zu umhüllen, um ihn vor Strahlung zu schützen'. Project and Survive Monthly hatte 1981 12000 Abonnenten, wurde allerdings 1986 wieder eingestellt. Vermutlich kaufte nur eine kleine Minderheit Bunker. Tatsächlich fand eine Reportage des Guardian heraus, dass einige der angebtenen Schutzräume 'regelrecht tödlich' waren: Sie waren aus leicht entflammbaren Material gefertigt oder von Blei umhüllt, sodass sie bei hohen Temperaturen geschmolzen wären."