Magazinrundschau - Archiv

Guernica

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Magazinrundschau vom 17.05.2016 - Guernica

Dass Spieler von Videogames Tränen der Rührung und Ergriffenheit vergießen, hört man selten. Doch genau darauf zielen die unabhängig von der Industrie entstandenen, von gängigen Formaten, Tropen und Mechanismen profund abweichenden Spiele des aus China stammenden Entwicklers Jenova Chen ab. Er selbst ordnet seine Spiele daher der Poesie und dem Kino zu und sieht in ihnen ein Mittel, Menschen unabhängig von Sprache, auf deren Einsatz in Schrift und Ton er bewusst verzichtet, miteinander zu verbinden, wie er im Gespräch mit Matthew Baker verrät. Bleibt die Frage, wie durchsetzungsfähig dieses Modell in einer rigoros durchkommerzialisierten Umgebung wie der Spieleindustrie ist. An Anfragen von Studenten, ob seine Firma Leute sucht, hat er jedenfalls keinen Mangel: Denn "viele der boomenden Entwicklerfirmen setzen aufs mobile und soziale Netz. Wenn Studenten dort angestellt werden, dann nicht, um Emotionen, sondern suchterregende Schemata auszulösen. Viele, die dort arbeiten, sind deshalb enorm unglücklich. Die ökonomischen Rahmenbedingungen gestatten es ihnen jedoch nicht, eigene Studios zu gründen. In gewisser Hinsicht fühle ich mich für diese Leute verantwortlich... Mich beschleicht der Eindruck, dass wir im künstlerischen Segment einen kommerziellen Erfolg brauchen. Wenn die Leute, und vor allem Investoren, einen solchen Erfolg beobachten, steigt die Bereitschaft, Geld in künstlerische Projekte zu stecken. ... Pixar ist für mich dafür wahrscheinlich das beste Beispiel."

Magazinrundschau vom 16.02.2016 - Guernica

Eine sehr schöne Hommage an die Straßenverkäufer in Istanbul bringt der türkische Schriftsteller Kaya Genç in Guernica. Von den Behörden drangsaliert, von den Gezi-Park-Demonstranten als Teil des kapitalistischen Systems angeklagt, haben es diese "wandernden Singvögel" so schwer wie nie. Dabei sind sie ein Symbol der Freiheit, so Genç: "Kürzlich las ich einen Artikel von Evrim Kavar über 'künstlerische Interventionen in Istanbul'. Der Autor zog eine Parallele zwischen den Straßenverkäufern und Istanbuls zeitgenössischen Künstlern. Beide stehen an den Rändern der Gesellschaft, wo sie aufregende, unsichere und instabile Existenzen fristen. 'Das Leben in informellen Netzwerken suggeriert informelle Wege, Kunst zu machen', schreibt Kavar. 'Wie die Straßenverkäufer, die jede neue Situation als Chance nutzen, etwas zu verkaufen, so nutzen die zeitgenössischen Künstler jede urbane Situation als Chance, Kunst zu machen.' Heute, wenn ich die Nacht durch in Kaffeehäusern geschrieben habe, träume ich von dem Nachtleben der Straßenverkäufer in Istanbul."

Magazinrundschau vom 19.01.2016 - Guernica

Zu den größeren Überraschungen der jüngsten Berlinale-Nachrichten gehört die Meldung, dass das Festival den neuen, achtstündigen Film "A Lullaby to the Sorrowful Mystery" (Bild) von Lav Diaz in den Wettbewerb geholt hat: Üblicherweise findet die spröde Ästhetik des philippinischen Regisseurs (der auch ein Liebling unserer Filmkritiker ist) eher bei anderen, ästhetisch wagemutigeren Festivals ihren Raum. Für Guernica hat Nadin Mai den Regisseur zu seinem Schaffen befragt. Unter anderem erfahren wir, dass seine Filme sich minutiös an der Geschichte seines Heimatlandes abarbeiten und der Regisseur dabei aus seinen eigenen biografischen Erfahrungen schöpft. "Die Geschichten umkreisen diese Aspekte - das Trauma meiner Landsleute, deren Kampf. Man kann dem nicht entkommen. Es handelt sich dabei um große Epochen unserer Geschichte. Man gräbt tief in der Vergangenheit, man untersucht sie. Das sind zwar fiktionale Figuren, aber gleichzeitig ist die Erzählung von diesen historischen Dingen beeinflusst. Es ist Gedächtnis, Kultur, Geschichte. ... Das Trauma, die Qual - das ist chronisch. Die ständige Folter - da geht es um Kolonialismus, Imperialismus, die Vergewaltigung durch die Japaner und dann schlussendlich die Marcos-Periode. Das ist CTE [chronische traumatische Enzephalopathie, ein progressiv-degenerative Gehirnerkrankung]. Ständige Prügel, vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. ... Ich bin nicht wirklich enttäuscht, dass meine Filme nur im Westen gesehen werden. Dieses Bewusstsein schafft eine Dynamik. Wissen Sie, die Filme werden auch bei uns an Land geschwemmt werden. Das ist alles Teil des Kampfs. Ich drehe Filme und Festivals, Museen und Forscher feiern sie. Sie werden gehört werden. Es wird passieren, denn das Kino ist universell. Man erschafft es, Leute nehmen davon Notiz und einige werden es sehen."

Auch sehenswert sind die Videointerviews, die Cargo vor einigen Jahren mit Diaz geführt hat.

Magazinrundschau vom 22.12.2015 - Guernica

Der äthiopische Schriftsteller Dinaw Mengestu erzählt von seinem Vater, der nach dem Putsch der Kommunisten aus Äthiopien floh und von seiner Rückkehr träumte. Doch je länger der Vater in den USA lebte, umso rigider und irrealer wurden seine politischen Vorstellungen: "Ich begann immer mehr an den Wert und die Notwendigkeit der Fiktion zu glauben. Ich glaube, das gleiche galt für meinen Vater, der, zusammen mit hunderten anderen Männern, Jahr für Jahr darauf beharrte, an einer Version Äthiopiens zu bauen, die sie einschließen würde. Ich hörte wie mein Vater immer wieder davon spracht, er könne nicht zurück nach Äthiopien. Er glaubte, die neue Regierung - immer totalitärer und intoleranter Dissidenten gegenüber - würde es jemandem wie ihm schwer machen. Exil war schon lange keine vorübergehende Angelegenheit mehr, aber ich hatte nicht gewusst, dass es wie die Liebe mit der Zeit an Tiefe gewinnen kann. Es war ein Staat mit eigenen Grenzen, über die hinweg zu blicken immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich wurde."

Magazinrundschau vom 24.11.2015 - Guernica

Auch wenn der arabische Frühling vorläufig gescheitert ist, hat der doch Erinnerungen an einen weniger intoleranten Islam wachgerüttelt, die jahrzehntelang verschüttet waren, meint der ägyptische Schriftsteller Karim Alrawi im Interview. Zum Beispiel die Erinnerung daran, dass Frauen und Männer früher gemeinsam gebetet haben: "Ich glaube es war der zweite Freitag des Aufstands als ich sah, wie ein großer Teil des Platzes für das Freitagsgebet vorbereitet wurde und dann Männer und Frauen Seite an Seite beteten. Das war eine ziemliche Überraschung. Es gibt viele Geschichten, die die Geschlechtertrennung beim Beten rechtfertigen sollen, aber an diesem Freitag hörte ich Geschichten, die ich bestimmt zwanzig Jahre nicht mehr gehört hatte: Wie in den frühen Tage des Islam der Prophet bestimmte Frauen auserwählt hatte, die Gebete anzuführen. Er hatte die Wahl der Vorprediger nicht auf Männer beschränkt."

Magazinrundschau vom 22.09.2015 - Guernica

Gordon Hempton ist ein Klangsammler, der sich manchmal Tage und Nächte um die Ohren schlägt, um bestimmte Klanglandschaften zu porträtieren - so wie ein Landschaftsfotograf oft tagelang auf das richtige Licht wartet. Im Gespräch mit Nika Knight erklärt er das Ethos des Klangs: "Klangökologen sind sich einer Reihe von Tatachen bewusst. Die meisten Leute denken, sichtbare Information sei wichtiger als hörbare. Was soll uns der Klang kümmern? Warum sollte ich eher lauschen als gucken? Und nun die Fakten: Es gibt blinde Arten, in den Tiefen der Höhlen und am Grund der Ozeane. Auf dem Planeten Erde ist es nicht wesentlich zu sehen, um eine Art zu sein. Aber es gibt keine tauben Tierarten. Du musst hören können. Sonst bekommst du die Informationen nicht, die du zum Überleben brauchst."

Magazinrundschau vom 08.09.2015 - Guernica

Sein Dokumentarfilm "Darwins Alptraum" hat ihm eine Oscarnominierung eingebracht - und im Anschluss jede Menge Ärger. Anlässlich des US-Kinostarts seines neuen Films "We Come As Friends" (unsere Kritik hier) hat sich Darrell Hartman mit dem Regisseur Hubert Sauper unterhalten. Unter anderem geht es dabei auch um das rigorose Selbstverständnis und Ethos, das er als Dokumentarfilmemacher an den Tag legt: "Man kann sich nicht von einem Milliardär finanzieren lassen und diesen dann in einem Film schlecht dastehen lassen. Ich denke daher, dass die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln enorm wichtig für freie Meinungsäußerung ist. Während Charlie Hebdo machte in Frankreich dieses Mantra von der Meinungsfreiheit die Runde, die jedem wichtig war. Doch wer verfügt heutzutage schon noch darüber? Cartoonisten und vielleicht noch Dokumentarfilmemacher? Nicht gerade viele. Ich tue noch immer das, was ich will, oder zumindest denke ich das. Ich werde nicht von unterschwelligen Interessen ferngesteuert. Ich erhalte Geld von Regierungen, die sagen, dass sie mir vertrauen, weil ich Künstler bin. ... Der Dokumentarfilm ist eines der letzten Refugien der Meinungsfreiheit. Ehrlich gesagt, ziehe ich den Begriff "nicht-fiktional" vor, da "Dokument" diesen hässlichen Beiklang hat: Der Beweis, der Stempel. In Frankreich haben die Nazis Leute auf der Straße angehalten und "Dokument!" gerufen. Ein Wort, das vielen Franzosen durch Mark und Bein geht, selbst heute noch."

Magazinrundschau vom 18.08.2015 - Guernica

Der israelische Schriftsteller Etgar Keret erzählt in einem lebhaften Interview von seinen Eltern, Holocaust-Überlebenden, seinem ersten Sohn und der politischen Situation in Israel. Und er erklärt, warum Kritiken seiner Bücher in Israel fast immer von seiner Sprache handeln, in anderen Ländern dagegen von seinen Protagonisten. Das habe mit dem Hebräischen zu tun, einer praktisch unübersetzbaren Sprache, die 2000 Jahre lang in der Schrift eingefroren war, bis man sie wieder zu sprechen begann: "Wenn Shakespeare heute hierher käme und uns sprechen hörte, würde er kein Wort verstehen, aber wenn Abraham oder Isaak in Israel in ein Taxi steigen würden, könnten sie sich mit dem Taxifahrer unterhalten. Er würde sie verstehen, denn die Sprache hat sich organisch nicht verändert. Sie war gefroren, wie gefrorene Erbsen, frisch aus der Bibel. Wir importieren Wörter aus anderen Sprachen und geben ihnen eine israelische Verbform. Für Kokain zum Beispiel sagen wir im Hebräischen lesniff. Wir haben viele solcher Wörter aus dem Russischen oder dem Arabischen. Wenn man umgangssprachliches Hebräisch spricht, wechselt man die ganze Zeit die Register. In einem typischen Satz sind drei Wörter biblisch, eins russisch und eins yiddisch. Diese Verbindung von Hoch- und Vulgärsprache ist sehr natürlich, die Leute tun das die ganze Zeit. Wenn meine Arbeiten übersetzt werden, fragen mich meine Übersetzer immer: Hoch oder runter? Was bedeutet, soll es biblisch und gebildet klingen oder umgangssprachlich. Im Hebräischen ist es immer beides."

Magazinrundschau vom 21.07.2015 - Guernica

Zeit und Raum mögen im 20. Jahrhundert gestorben sein, wie Marinetti behauptete, aber Daten leben wie nie, schreibt Paul Stephens in einem Text (bzw. Auszug aus seinem Buch) über die Poetik der Informationsflut. Allein seit der Jahrtausendwende wurden mehr Daten produziert und gespeichert als bis dahin in der ganzen Geschichte der Menschheit. Solche plötzlichen Informationssprünge hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Dichter haben sie beklagt und sich um die Folgen gesorgt. Und doch waren gerade sie besonders gut darin, diese wachsende Flut zu verarbeiten. T.S. Eliot beispielsweise fürchtete, dass wir mit der Zeit immer mehr weniger von immer mehr Dingen wissen. Und wenn wir nur wenig wissen, "tendieren wir immer dazu, Gefühle an die Stelle von Gedanken zu setzen", zitiert Stephens den Dichter. Andererseits: "Nach einer berühmten Behauptung von I.A. Richard konnte T.S. Eliot in "The Waste Land" mit Hilfe von Allusionen so viel Inhalt wie in einem Epos unterbringen. Kann man "The Cantos" und "The Waste Land" als Epen aus Sampling oder Datenverdichtung bezeichnen? Vielleicht würde man damit ihren Wert unterschätzen. Auf der anderen Seite sind beide kunstvolle Nachahmungen die ihre eigene Fragmentierung ebenso thematisieren wie ihre Unfähigkeit, Tradition "zusammenhängend" zu machen."

Magazinrundschau vom 07.04.2015 - Guernica

Guernica druckt ein Interview, das David Simon am 23. Februar mit dem Schriftsteller Richard Price in New York geführt hat. Price, der in den 70er Jahren mit seinen Genreromanen über die Bronx ("The Wanderers" und "Bloodbrothers") bekannt wurde und einige Drehücher für "The Wire" schrieb, gibt unter anderem Auskunft über seine Arbeitsweise: "Wenn ich ein Buch schreibe, orientiere ich mich zuerst geografisch: Ich bin in Jersey City, in der Lower East Side oder in Harlem, und ich weiß, ich will über diesen Ort schreiben. Meine Gedanken dazu sind panoramisch, ich laufe da so rum, bis sich eine Geschichte von selbst ergibt. Geht es um ein Verbrechen, hat diese Geschichte mit den Verbindungen zwischen all den verschiedenen Elementen an diesem speziellen Ort zu tun, alles, was die Ermittlungen ans Licht bringen. Da geht es um das Soziale. Ich bin kein sozialer Realist, kein Skandalreporter oder so, aber wenn ich das Verbrechen erst habe, dann kommt dieses große, chaotische Durcheinander dazu, die Zeugen, die Familien, die Opfer, die Täter usw. Das wird dann das Rückgrat des Panoramas, das organisierende Prinzip. Folge den Ermittlungen und du ziehst alles und jeden aus dieser Welt da mit rein."