Magazinrundschau - Archiv

The Guardian

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Magazinrundschau vom 27.08.2019 - Guardian

Der Anarchismus hat durchaus seinen Anteil am politischen Terrorismus, doch für den britischen Literaturwissenschaftler Terry Eagleton gehört er auch zu den sympathischsten und erfindungsreichsten Bewegungen. Leider ist er mit seiner strikten Ablehnung von Regierung, Macht und Hierarchie absolut dysfunktional, wie Eagleton Ruth Kinnas hervorragender Geschichte "The Government of No One ends" entnimmt: "Regeln behindern Freiheit nicht nur, sie können sie auch erleichtern: Wenn alle auf der gleichen Seite der Straße fahren, ende ich weniger wahrscheinlich im Rollstuhl. Der Staat ist natürlich eine Quelle tödlicher Gewalt, aber er lässt auch Kinder lernen, wie sie sich die Schuhe zubinden. Nicht jede Macht ist repressiv, nicht jede Autorität abstoßend. Es gibt die Autorität derer, die im Kampf gegen das Patriarchat erfahren sind, die zu respektieren hilfreich sein könnte. Jemandem etwas zu erklären, was er wissen sollte, ist nicht immer hierarchisch. Auch Wissen ist es nicht, wie manche verrückte Libertäre behaupten. Einige antihierarchische Anarchisten glauben, dass alle Meinungen gleich viel wert seien, also auch die Meinung, dass es nicht alle sind. Als der junge Anarchist Noam Chomsky in den späten sechziger Jahren nach Europa kam, mit wichtigen Informationen über die politischen Verwerfungen in den USA, lehnten es einigen Studenten ab, ihm zuzuhören, weil Vorlesungen eine Form von Gewalt seien."

Magazinrundschau vom 23.07.2019 - Guardian

Dass Religion nicht vor Barbarei schützt, lernt man aufs Neue aus dieser Reportage von den Philippinen. In dem streng katholischen Land regiert Präsident Duterte, berüchtigt für das wahllose Abschlachten angeblicher Drogenhändler, mit einer Zustimmungsrate von rund achtzig Prozent. Nur wenige lehnen sich offen gegen das Morden auf, darunter eine kleine Gruppe Katholiken. Einer von ihnen, Jun, ist im Gespräch mit dem Reporter Adam Willis überzeugt, "das Töten würde aufhören", würde die Kirche die Morde geschlossen verurteilen. Als Leser ist man sich da nicht so sicher, denn Duterte konnte öffentlich Papst und Gott verhöhnen, ohne dass ihm das geschadet hätte: "Das selbe Land, das überall auf den Straßen mit Ornamenten des Glaubens geschmückt ist, unterstützt auch mehrheitlich einen frauenfeindlichen und mörderischen Demagogen. ... Als wolle er die Grenzen seiner Blasphemie bis zum letzten austesten, hat Duterte jedes katholische Dogma, eins immer heiliger als das vorherige, verflucht. Während einer Rede 2016 in Laos sagte er den Filipinos eine Zukunft voraus, in der die katholische Kirche irrelevant wäre, und signalisierte seinen Landsleuten eine 'iglesia ni Duterte' (eine 'Kirche des Duterte'). Im vergangenen Jahr verspottete er an Allerheiligen die katholischen Heiligen als Heuchler und Irre und pries sich selbst als geeignetes Objekt der Anbetung an: 'Santo Rodrigo'. Im vergangenen Oktober zielte er noch höher, nannte Gott selbst einen 'Hurensohn' und fragte: 'Wer ist dieser dumme Gott?'"

Außerdem: Wendell Steavenson verfolgt die Aufs und Abs der französischen Küche in den letzten Jahrzehnten.

Magazinrundschau vom 16.07.2019 - Guardian

Wer in Südafrika etwas werden will, braucht einen Auftrag, eine Lizenz oder einen Posten vom Staat. Wer Zugang zum Staat will, braucht den ANC, und Zugang zum ANC bekommt, wer das nötige Geld aufbringt. Unter Jacob Zuma hat der ANC den Staat gekapert, berichtet Mark Gevisser mit leichter Verzweiflung. Wie allumfassend die Korruption in Südafrika ist, zeigt der Fall der Brüder Watson, der im Land gerade für größte Aufregung sorgt. Gavin Watson und seine jüngere Brüder waren Heroen des Anti-Apartheid-Kampfes, sie gaben ihre Rugby-Karriere bei den Springboks auf, weil sie nicht in einem Club spielen wollten, der keine Schwarzen aufnahm. Jetzt kursiert ein Video, auf dem Angestellte von Watsons Firma Bosasa Millionen zählen, angeblich Schmiergelder: "Den Aussagen von vier Whistleblowern zufolge, alles frühere Bosasa-Manager, wurden rund fünf Millionen Dollar Schmiergeld gezahlt, um Aufträge zu sichern. Sie sprechen von einer Unternehmung in industriellem Maßstab, bei der Gelder erst gewaschen und dann verteilt wurden, um Einfluss zu kaufen, Verträge zu sichern und der Strafverfolgung zu entkommen. Sie berichten von Bargeld, das in Louis-Vuitton-Taschen gestopft und als Geschenk oder in monatlichen Raten neben der Autobahn übergeben wurde. Staatsbeamte erhielten Autos und Häuser, kostenlose Sicherheitsausstattungen oder Schulbesuche für ihre Kinder - sogar monatliche Fleischvorräte. Der frühere Präsident Jacob Zuma wurde in einer Aussage namentlich genannt als Empfänger von Geschenken, und er soll derjenige gewesen sein, der die 2007 begonnenen Ermittlungen gegen die Firma gestoppt hat. Selbst der derzeitige Präsident Cyril Ramaphosa, der sich mit dem Versprechen wählen ließ, der Korruption den Garaus zu machen, akzeptierte unwissentlich für seinen Wahlkampf gegen Zuma eine Spende von Watson: Bosasa hatte Ramaphosas Sohn Andile ein Honorar für 'beratende Dienste' gezahlt."

Magazinrundschau vom 09.07.2019 - Guardian

Voriges Jahre enthüllte der Bankangestellte Howard Wilkinson einen der größten Geldwäscheskandale der Geschichte: Über den estnischen Zweig der Dänischen Bank waren 200 Milliarden Euro gewaschen worden, das meiste stammte aus ominösen postsowjetische Quellen. (Die lateinamerikanischen Drogenkartelle kamen über die HSBC gerademal auf 880 Millionen Dollar.) Alle beteiligten Firmen waren in Britannien registriert. Oliver Bullough weiß, wie man am besten so ein Geschäft aufzieht. Das ist in London kinderleicht, und viel praktischer als auf den Jungferninseln! "Wenn es um Finanzdelikte geht, ist Britannien Ihr bester Freund. Hier liegt das Geheimnis, dass Sie wissen müssen, um eine Scheinfirma zu gründen: Das britische Firmenregister birgt ein riesiges Schlupfloch, eines, durch das Sie, ohne anzuecken, Milliarden Euro jagen können. Damit ermöglichen britische Scheinfirmen Finanzverbrechen auf der ganzen Welt, vom traurig-schmutzigen Trickbetrug, der Rentner um ihre Ersparnisse bringt, bis zum gigantischen Akt kleptokratischer Plünderung." Schon für zwölf Pfund, schreibt Burroughs, könne man auf der Website Companies House seine Firma eintragen, man soll Name und Adresse nennen, aber überprüft werden die Angaben nicht: "Als ich kürzlich auf der Website stöberte, stieß ich auf Eigentümer wie Mr Xxx Stalin, angeblich ein in Ost-London wohnhafter Franzose. Es ist natürlich technisch möglich, dass Mr Stalin von seinen exzentrischen Eltern den Vornamen Xxx bekam, - aber wenn, dann wäre solch Exzentrik weit verbreitet: Xxx Stalin führte mich zu dem Besitzer einer anderen Firma, der Mr Kwan Xxx hieß, ein in Deutschland wohnhafter Kasache"; dann stieß ich auf Xxx Raven, auf Miss Tracy Dean Xxx, auf Jet Xxx und schließlich (vielleicht auf ihren entfernter Cousin?) Mr XxxXxx. Diese Wunderwelt ist wirklich spannend, und es dauerte nicht lang, da entdeckte ich Mr Mmmmmmm Yyyyyyyyyyyyyyyyyy und Mr Mmmmmm Xxxxxxxxxxx (passende Adresse: Mmmmmmm, Mmmmmm, Mmm, MMM). Da reichte es mir."

Außerdem: Die pakistanische Journalistin Sanam Maher erzählt im Guardian noch einmal die Geschichte der Social-Media-Diva Qandeel Baloch, die im Jahr 2016 von ihrem Bruder umgebracht wurde, der fand, dass sie mit ihren freizügigen Videos Schande über ihre Familie gebracht habe. Der Guardian hat zu diesem Thema auch ein halbstündiges Video-Feature produziert.

Magazinrundschau vom 02.07.2019 - Guardian

Heute dient die englische Grafschaft Essex vor allem als Karikatur des rechten Englands: Trash-Serien wie "The Only Way is Essex" (Towie) verbreiten das Bild konsumgeiler Prolls, die den ganzen Tag über am Strand in der Sonne brutzeln und über Ausländer herziehen. Dabei war Essex mal ein Ort progressiver Sehnsucht. Die Labour-Regierungen der fünfziger und sechziger Jahre ließen Städte bauen, um der Arbeiterschaft aus London günstige Häuser mit Küchen und Badezimmern zu ermöglichen. Tim Burrows rekapituliert, wie die Tories unter Margaret Thatcher - auch mit dem Recht, die eigene Sozialbauwohnung zu kaufen - die neuen Aufsteiger schufen, die sie dann umso herzlicher verachteten: "1990 prägte Simon Heffner, ein Journalist des Sunday Telegraph, den Begriff 'Essex Man' (der im Englischen wie 'Neanderthal Man' klingt, also wie Neanderthaler), um einen neuen Wählertypus zu beschreiben: 'den jungen, fleißigen, leicht brutalen und unkultivierten Angestellten in Londons Finanzzentrum, dessen Wurzeln im Eastend der Stadt lagen und dessen politische Ansichten atemberaubend konservativ waren'. Der Artikel war illustriert mit einem engstirnigen Typen, in einem teuren, aber schlecht sitzenden Anzug, der vor dem neuen Auto und dem einst städtischen Haus eine Dose Lager trinkt. Dazu eine Satellitenschüssel, um Rupert Murdochs Sky TV zu empfangen, das 1989 in Britannien gestartet war. Obwohl der Essexianer konservativ wählte, betrachteten ihn die Konservativen selbst mit einer Mischung aus Furcht und Schrecken. Eine neue Spezies Engländer schien das Ruder zu übernehmen und mit seinem Aufstieg, der die traditionellen Erfordernissen wie Privatschule und Respekt vor den Hierarchien außer Acht ließ, das Gewebe der etablierten Gesellschaft zu gefährden. 1992 verzweifelte das von der British Society herausgegebene Magazin Harpers & Queen darüber, wie sich 'Manieren aus Essex verbreiten'. Der Essexianer, bemerkte das Magazin, verkörpere einen vulgären Kapitalismus, der das Vertrauen der herrschenden Klasse angenagt und seine heiligsten Enklaven erobert habe'."

Magazinrundschau vom 24.06.2019 - Guardian

Im Süden Italiens arbeiten mehr als hunderttausend Migranten vor allem bei der Tomatenernte unter sklavenähnlichen Bedingungen für mafiotische Organsiationen. Afrikanische Migranten schuften zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn und leben in Barackensiedlungen ohne Trinkwasser. Die Migration mag chaotisch und unkontrolliert verlaufen, die Ausbeutung der Migranten läuft aber wie geschmiert, erfahren Tobias Jones und Ayo Awokoya, die sich in Testa dell'Acqua umgesehen haben, einem Elendsviertel in der Nähe von San Ferdinando in Kalabrien: "Hier leben vor allem Nigerianer, Gambier, Ghanaer, Sudanesen, Somalier und Burkinabé. Fünf Prozent sind Frauen. Es gibt einen Wasserhahn, aber das Wasser ist nicht trinkbar. Die Toiletten sind nur ein Loch im Boden. Es gibt ein paar Generatoren und verschiedene Gasflaschen zum Kochen. Niemand weiß, wie viele Menschen um San Ferdinando herum unter diesen Bedingungen leben, aber in der Erntesaison sind es wahrscheinlich zweitausend. Eine Wohltätigkeitsorganisation bietet medizinische Unterstützung in dieser Siedlung. MEDU zufolge haben 21 Prozent Magen-Darm-Beschwerden, 17 Prozent Atemprobleme und 22 Prozent Knochen- oder Gelenkschmerzen. Viele haben psychische Probelem, und die Schrekcen, die sie auf ihrem Weg erlebten, haben sie traumatisiert. Während wir herumgehen ruft eine junge Nigerianerin: 'Ihr müsst uns helfen!'. Sie zeigt den Ausschlag auf ihrem Arm, ob er von dem Kontakt mit Pestiziden, von Mücken oder Bremsen kommt, weiß sie nicht. Eines der vielen Mikrogeschäfte hier ist der Handel mit Schmerzmitteln, besonders Ketoprofen. Manche müssen ein oder zwei Stunden mit dem Rad zur Arbeit fahren und viele sind danach so erschöpft, dass sie, wenn sie fertig sind mit der Arbeit, nichts anderes tun können als zu schlafen."

Arron Merat hat für einen großen Report recherchiert, welche Rolle die britische Regierung im Krieg Saudi-Arabiens gegen die Huthi-Rebellen spielt: "Britannien liefert nicht nur Waffen für diesen Krieg, sie verschaffen ihm auch das nötige Personal und die erforderliche Expertise. Die britische Regierung hat Militärs der Royal Air Force abgestellt, die als Ingenieure arbeiten, saudische Piloten und Aufklärer trainieren - während BAE System, der größe britische Waffenkonzern, sogar eine noch wichtigere Rolle spielt. Die Regierung hat ihn beauftragt, Saudi-Arabien mit Waffen, Wartung und Ingenieure zu versorgen."

Magazinrundschau vom 04.06.2019 - Guardian

Seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan war der Konservatismus aufs Regieren geeicht. Er versprach zugleich Fortschritt, sachten Wandel und Bewahrung des Guten, verachtete Ideologie und verteidigte Privilegien. Doch überall werden die Wahlsiege knapper, die Allianzen heikler, stellt Andy Beckett fest und sieht den Konservativismus der westlichen Welt in der Krise: "Der britische Philosoph John Gray, ein enger und mitunter sympathisierender Beobachter der globalen Rechten seit den siebziger Jahren, sieht in dem neuen Rechtspopulismus - wie auch in den Versuchen der etablierten konservativen Parteien, ihm nachzueifern -, ein Anzeichen dafür, dass der uralte konservative Herrschaftsanspruch ins Wanken gerät. 'Die Konservativen glauben noch immer, dass ihre Vorstellungen über die Welt natürlich seien', meint Gray, 'aber sie spüren, dass ihnen die Wählerschaft entgleitet'. Das Ergebnis sei 'eine Politik wilder, unzusammenhängender Gesten' - Versuche, die Zuneigung der Wähler zurückzugewinnen. Als Boris Johnson letztes Jahr 'Scheiß auf die Wirtschaft' posaunte, als Antwort auf die Ablehnung des Brexits durch die Unternehmen, erlebten wir, wie der wahrscheinlich künftige Chef einer Partei, die seit Jahrhunderten eng mit der Wirtschaft verbunden ist, mit einer Rücksichtslosigkeit agierte, die so kontraproduktiv wie bedeutsam erschien. Sie könnte darauf hindeuten, dass die Allianz zwischen Kapitalismus und Konservatismus zu Ende geht. 'Konservative waren immer stolz auf ihre Kompetenz', sagt Gray, 'jetzt kann es zwanzig Jahre dauern, um die Vorstellung wiederzubeleben, dass sie die Erwachsenen seien.'"

Außerdem: Nicola Davison beschreibt die Schwierigkeiten, das Anthropozän als neues Zeitalter auch unter Geologen durchzusetzen.

Magazinrundschau vom 14.05.2019 - Guardian

Natürlich war Europas Geschichte immer eine von Integration und Desintegration, von Kriegs- und Friedenszeiten, doch diesmal, warnt ein alarmistisch gestimmter Timothy Garton Ash angesichts grassierender antieuropäischer ressentiments, ist es anders: "Über Jahrhunderte hinweg riss sich Europa in Stücke und setzte sich dann wieder zusammen, wobei es zugleich die anderen Teile der Welt ausbeutete, kolonisierte und herumkommandierte. Mit dem europäischen Bürgerkrieg, der zwischen 1914 und 1945 wütete und von Winston Churchill einst als zweiter Dreißigjähriger Krieg beschrieben wurde, setzte Europa sich selbst von seinem globalen Thron ab. Im fünften Akt der europäischen Selbstzerstörung betraten die USA und die Sowjetunion die Bühne wie Fortinbras am Ende von Hamlet. Immerhin war Europa noch während des folgenden Kalten Krieges die zentrale Bühne der Weltpolitik. Noch einmal machte Europa mit einem kurzen schillernden Moment 1989 Geschichte, aber dann verwehte Hegels Weltgeist flugs von Berlin nach Peking. Heute kämpft Europa darum, Subjekt zu bleiben und nicht bloßes Objekt der Weltpolitik zu werden - mit einem machthungrigen Peking, das dem Jahrhundert einen chinesischen Stempel aufdrücken will, einem revanchistischen Russland, den unilateralistischen USA des Donald Trump und einem Klimawandel. der uns alle zu überwältigen droht. Russland und China teilen und herrschen fröhlich über unseren Kontinent, benutzen ihre wirtschaftliche Macht, um sich schwächere europäische Staaten herauszugreifen oder mit Desinformationen die Nationen gegeneinander aufzuwiegeln. Im 19. Jahrhundert lieferten sich die europäischen Mächte den Wettlauf um Afrika. Im 21. Jahrhundert liefern sich die anderen einen Wettlauf um Europa."

Magazinrundschau vom 07.05.2019 - Guardian

Und was, wenn gar nicht die Nachrichten, Donald Trump oder der Brexit so total verrückt wären, sondern die Dominanz, mit der sie unser Leben beherrschen? Oliver Burkemann überlegt, ob es für das demokratische Miteinander nicht förderlicher wäre, wenn wir uns online weniger engagierten: "Sich aus den aktuellen Angelegenheiten herauszuhalten, wird oft mit dem Vorwurf der Selbstbezogenheit quittiert. Vor einem Jahr porträtierte die New York Times Erik Hagerman, einen Mann aus Ohio, der sich nach der Wahl von 2016 total aus den Nachrichten ausklinkte und sogar Weißes Rauschen auf seine Ohren spielt, wenn er in den örtlichen Coffeeshop ging, um nicht das Gerede über Donald Trump hören zu müssen. Der Artikel ging - natürlich - viral, und Hagerman traf der geballte Zorn der Leser, oder hätte es getan, wenn er online gegangen wäre. 'Nicht jeder schafft es, ignorant zu werden', schäumte Kellen Beck auf Mashable und sprach vielen aus der Seele, als er Hagerman 'den selbstbezogensten Mann in Amerika' nannte. 'Menschen, deren Familien von den Einwanderungsbehörden auseinandergerissen werden, schaffen es nicht. Menschen, die von Waffengewalt bedroht sind, schaffen es nicht. Aber ein weißer Mann, der die Möglichkeit hatte, viel Geld zu verdienen und zu sparen, ist natürlich auch nicht betroffen von den Dingen, die in diesem Land seinen Mitmenschen geschehen. Doch ist die Annahme, dass es ein verwerflicher Luxus sei, den Nachrichten weniger Aufmerksamkeit zu schenken, ein Überbleibsel aus einer Zeit als Informationen rar waren. Wenn Nachrichten schwer zu bekommen sind, ist es eine Tugend, sie auszugraben, denn es kostet Mühe. Aber wenn sie allgegenwärtig sind und es die Dinge eher verschlimmert, dass sich alle in ihnen suhlen, dann erfordert es mehr Mühe, sie zu vermeiden... Ob der Rückzug selbstsüchtig ist oder nicht, hängt davon ab, was man mit der frei gewordenen Zeit und Energie anfängt. Hagerman kaufte 18 Hektar Land neben einer früheren Kohlemine, berichtete die Times, und will sie renaturieren, bevor er sie der Öffentlichkeit überlässt: ein Projekt, das ihn den Rest seines Lebens und den Großteil seiner Ersparnisse kosten wird."

Tina Rosenberg erzählt, wie der Psychiater Vikram Patel nach Simbabwe ging, um zu beweisen, dass die Depression eine westliche Wohlstandserkrankung sei und Niedergeschlagenheit in armen Ländern eine Folge von Ausbeutung und Kolonialisierung: "Die Medizin, glaubte Platel, sei nicht Psychotherapie, sondern soziale Gerechtigkeit. Er begann seine Arbeit, indem er erst traditionelle Heiler befragte, dann die Patienten selbst. Er fragte, was seelische Krankheit sei, woher sie rührte und wie sie zu behandeln sei. Die häufigste Erkrankung hatte einen Namen: Kufungisisa, ein Wort in der örtlichen Sprache Shona, das übertriebene Sorgen bedeutete. Viele Heiler sagten, Kufungisisa sei keine Krankheit, sondern eine Reaktion auf die Beschwernisse des Lebens, auf Armut oder Krankheit. Aha, dachte Patel, genau wie er erwartet hatte: In Simbabwe wurde seelisches Leiden hervorgerufen durch soziale Ungerechtigkeit. Aber als Patel die Patienten befragte, wie sich Kufungisisa anfühlte, waren die Antworten vertraut: Egal, wie es genannt und was dafür verantwortlich gemacht wurde: Alle beschrieben Hoffnungslosigkeit, Erschöpfung, die Unfähigkeit, ihre Probleme anzugehen und ein fehlendes Interesse am Leben um einen herum - klassische Zeichen einer Depression."

Magazinrundschau vom 16.04.2019 - Guardian

Bewundernswert vielschichtig widmet sich Darren Byler der digitalen Überwachung der Uiguren durch die chinesischen Sicherheitsapparate. Byler rekapituliert, wie sich der Konflikt politisch in den letzten zehn Jahren hochgeschaukelt hat, wie Peking den Uiguren erst das Internet sperrte, es dann wieder als reines Kontrollinstrument zuließ und wies es nun die Überwachungstechnologie mit Gesichtserkennung und Filter-Software perfektioniert. Deep Learning Systeme sollen per Video-Feeds in Echtzeit Millionen von Gesichtern erfassen können, Archive anlegen, verdächtiges Verhalten identifizieren und voraussagen, wer ein Gefährder werden könnte. Byler zitiert auch Skeptiker, die glauben, Chinas Fähigkeiten würden übertrieben. Aber auch wenn man nicht weiß, wie viel von all dem Panik und wie viel Angeberei ist, ahnt man: Je gruseliger die Technologie, umso besser werden die Geschäfte laufen. "Die Kontrolle über die Uiguren ist ein Testfall für das weltweite Marketing chinesischer Technologie geworden. Rund hundert Regierungsorganisationen und Firmen aus zwei Dutzend Ländern, darunter die USA, Frankreich, Israel und den Philippinen nehmen an der einflussreichen jährlichen chinesisch-eurasischen Sicherheits-Expo in Urumqi teil, der Hauptstadt Uiguriens. Dem Ethos der Expo und der chinesischen Sicherheitsindustrie zufolge soll die muslimische Bevölkerung gesteuert und produktiv gemacht werden. In den vergangenen fünf Jahren hat der Krieg gegen den Terror eine großen Zahl von chinesischen Startups ein bis dahin unbekanntes Wachstum beschert. Allein in den letzten beiden Jahren hat der Staat geschätzte 7,2 Milliarden Dollar in Xingjiang in die Sicherheitstechnologie investiert. Wie ein Sprecher eines Startups erklärte, sind sechzig Prozent der Länder mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit Teil von Chinas erstem internationalen Entwicklungsprojekt, der Neuen Seidenstraße. Für die Technologie zur Bevölkerungskontrolle, wie sie in Xinjiang entwickelt wird, gibt es also unbegrenztes Marktpotenzial."