Magazinrundschau

Depressive Superhelden

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
01.11.2022. Die Führungslosigkeit der iranischen Protestbewegung ist nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance, beobachtet Azadeh Moaveni in der LRB, die außerdem eine Hommage auf Stuart Hall bringt. Die New York Times blickt auf den Klimawandel und kommt dabei ganz ohne Moralinsäure aus. En attendant Nadeau porträtiert den Diaristen Jura Rjabinkin, der im Alter von 16 Jahren bei der Blockade von Leningrad starb. In Gentlemen's Quarterly hadert Alan Moore mit der Rezeption seiner Comics.

Eurozine (Österreich), 31.10.2022

In einem klugen Gespräch mit ihrer polnischen Kollegin Agnieszka Holland spricht die ukrainische Filmregisseurin Iryna Tsilyk über die Rolle der Kunst in Zeiten des Krieges. Welche Kraft hat sie? Welche Moral? Was funktioniert überhaupt? "Es ist schade, dass Serhij Zhadan im Moment nichts schreiben kann. Einige Dichter können es, und sie erschaffen fantastische Dinge, wenn sie versuchen, den Moment zu erfassen oder über all das nachzudenken, was uns gerade verändert. Das geschieht gerade extrem schnell, es ist wichtig, diese Metamorphosen zu dokumentieren. Romanautoren und Regisseure von Spielfilmen brauchen jedoch Distanz, wenn sie sich einem Thema wie dem Krieg nähern. Man kann nicht objektiv sein, wenn man die Situation in Nahaufnahme sieht. Man muss sie aus einem weiteren Winkel betrachten, was unmöglich ist, wenn man mittendring steckt... Ich habe auch Angst, dass manche Mittel des Kinos eine moralische Linie überschreiten könnten. Ich habe viele Anfragen von ausländischen Produktionsfirmen bekommen, die mir Ideen und Skripte zu bestimmten Ereignissen des Krieges anboten, zu Bucha oder der Schlacht um Asowstal. Für mich ist es zu früh und zu gefährlich, diesen Weg zu gehen. Es ist ein Minenfeld. Menschen werden noch immer gefangen gehalten, gefoltert und vergewaltigt. Die Zeit ist noch nicht gekommen, Spielfilme zu drehen, wenn die Grausamkeiten noch stattfinden. Trotzdem frage ich mich selbst als Künstlerin oft: Soll ich mir nicht doch meine Kamera schnappen und die Realität dokumentieren?"
Archiv: Eurozine

London Review of Books (UK), 31.10.2022

Die Führungslosigkeit der iranischen Protestbewegung ist Stärke und Schwäche zugleich, glaubt Azadeh Moaveni. Schwäche, weil sie von außen gekapert werden könnte, wie er fürchtet, aber Stärke, weil der Aufstand der Frauen mittlerweile alle Gruppen der Bevölkerung erfasst hat. Die Politik der Sittenwächter liegt in Trümmern, dass die Ajatollas nicht wissen, wie sie da raus kommen sollen, haben sie sich selbst zuzuschreiben: "In gewisser Weise hat die Islamische Republik sich selbst in die Enge getrieben. Sie hat die Reformisten verjagt, die in solchen Momenten als nützliche Ablenkung dienten. So konnten höchste Autoritäten immer wieder behaupten, das System würde bei einem zu schnellen Wandel zurückschlagen. Als Gegenleistung dafür, dass sie in die Politik aufgenommen wurden, versagten sich die Reformisten die wichtigsten Kritikpunkte: dass die demokratische Theokratie im Iran nicht funktionieren kann, dass ein System nicht Gott und dem Volk zugleich verpflichtet sein kann. Jetzt, da es keine Reformisten mehr in der Politik gibt, hat die Islamische Republik keine brauchbare Opposition und ist schließlich auf sich allein gestellt, wohl wissend, dass sie sich in einer akuten existenziellen Krise befindet, aber unfähig, irgendwelche Schritte zu unternehmen, um sich zu retten."

Jenny Turner bekennt, Stuart Hall lange nicht gewertschätzt zu haben, weil sie ihn zuerst in seiner "Wischiwaschi"-Phase in den neunziger Jahren gelesen hat. Was für ein Fehler! In einer Eloge huldigt sie dem marxistischen Soziologen und Pionier der Cultural Studies, der in Schriften wie "The Great Moving Right Show" oder "Policing the Crisis" so kraftvoll und präzise über die regressive Modernisierung und den autoritären Populismus schreiben konnte. In "Gramsci und Us" liefert er die beste Analyse des Thatcherismus überhaupt, meint Turner, weil er dachte, dass die revolutionäre Arbeit heute eher einem Stellungskrieg oder einem Guerillakampf gleicht als einem Frontalangriff: "Nur dass sich die Gräben immer wieder verschieben und verzweigen, ebenso wie Kräfte und Interessen. Ein Genosse geht vielleicht bei Sainsbury's ein Sandwich essen, und wenn man das nächste Mal von ihm hört, ist er ein Kommentator beim Daily Telegraph. Ein anderer bildet eine Splittergruppe, die Sainsbury's grundsätzlich ablehnt und Sie und Ihre Fraktion dafür anprangert, dass Sie sich ihr nicht anschließen. In der Zwischenzeit ist Ihnen aufgefallen, dass der Parkplatz von Sainsbury's einer der wenigen Orte ist, an denen die Menschen noch offline miteinander reden ... 'Wenn man davon ausgeht, dass Menschen wirklich so sind ... können wir dann Begriffe und Formen der Organisation, der Identität und der Zugehörigkeit finden, die einen Bezug zum populären Leben haben, es aber umgestalten und erneuern können?' Halls Sprache wird oft und schnell furchtbar technisch, aber sie dient ihrem Zweck: die beweglichen Teile dessen zu identifizieren, zu demontieren und neu zu konfigurieren, was Hall als 'Thatcherismus' bezeichnete, eine sehr präzise und besondere Formation, die irgendwie den rückwärtsgewandten sozialen Autoritarismus - Fahnen, Schlagstöcke, Handtaschen, Krämerläden - und den totgeglaubten Marktliberalismus von Hayek und Friedman auf eine Weise zusammenbrachte, die vielen Menschen so gut zu gefallen schien, dass sie bereit waren, dafür zu stimmen."

Tablet (USA), 20.10.2022

Armin Rosen porträtiert den Politiker Itamar Ben-Gvir von der sehr weit rechten Otzma Yehudit-Partei, der - so die Befürchtung - der nächsten israelischen Regierung angehören könnte. Er ist ein "Kahanist" - bezieht sich also auf den Rabbi Meir Kahane, der die Araber aus Israel rausschmeißen wollte und 1990 von einem Islamisten ermordet wurde. "Im Alter von 17 Jahren galt er als so gefährlich subversiv, dass er vom Militärdienst ausgeschlossen wurde. Doch heute ist Ben-Gvirs Ansicht, dass etwas im jüdischen nationalen Projekt grundlegend kaputt ist und dass extreme Maßnahmen notwendig sind, um es zu reparieren, unter Israelis, die keine besondere Vorliebe für Meir Kahane haben und die Ben-Gvirs Haus in der radikalen Brutstätte Kiryat Arba tief im Westjordanland niemals besuchen würden, geschweige denn dort leben, weithin akzeptiert. Es ist bezeichnend für den gegenwärtigen nationalen Moment, eine Blase von technologiegetriebenem Wohlstand, die zunehmende Konvulsionen und scharfe existenzielle Ängste verdeckt, dass nur ein etwas absurder und offensichtlich unheimlicher sozialer Außenseiter in der Lage ist, das Unbehagen anzusprechen, das zu einem bestimmenden Merkmal des israelischen Lebens geworden ist."
Archiv: Tablet

Gentlemen's Quarterly (USA), 18.10.2022

Auf ein Interview mit dem eigenbrötlerischen Schriftsteller Alan Moore hatten wir kürzlich erst hingewiesen, nun bringt auch GQ ein episches Gespräch mit ihm. Anlass auch weiterhin: Moores aktueller Erzählungsband "Illuminations". Darin findet sich unter anderem auch eine Geschichte romanartiger Länge, in der der früher sehr zurecht als großer Comic-Innovator gefeierte Autor mit der Comicindustrie abrechnet, von der er sich vor wenigen Jahren auch offiziell abgewendet hat, um nur noch seiner thomas-pynchon-artigen Literatur zu frönen. "Diese Zeit in den Comics, wegen der sich die meisten an mich erinnern - wie lange war dieses Zeitfenster eigentlich? Vielleicht fünf Jahre? Zwischen 1982 und 1987, um den Dreh. Das ist 35 Jahre her." Damals "versuchte ich, mein Bestes zu geben, um die Comicindustrie und in einem gewissen, wenn auch geringerem Maß das Comicmedium neu aufzustellen und zwar nach meinen Vorstellungen. Ich habe Ideen eingeführt, von denen ich glaubte, sie könnten dem Medium dienlich sein und es in neue Bereiche vordringen lassen." Aber "ich hatte den Eindruck, dass die Leute aus Arbeiten wie 'Watchmen' oder 'V wie Vendetta' nicht etwa die Erzähltechniken für sich mitnehmen, was für mich das wichtigste daran gewesen ist. Stattdessen war es nur dieser erweiterte Spielraum mit Gewalt und sexuellen Anspielungen. Möpse und Gedärm. Als ich 'Marvelman' und 'Watchmen' schrieb, ging es mir um eine Kritik am Superheldengenre. Ich wollte damit zeigen, dass jeglicher Versuch, diese Figuren in einer Art realistischem Kontext umzusetzen, grotesk und albtraumhaft sein würde. Aber das war offenbar nicht die Botschaft, die die Leute daraus zogen. Die schienen wohl zu denken, oh, yeah, düstere, depressive Superhelden, na das ist ja mal cool. Als ich Rorschach [ein maskierter Vigilant, eine der Hauptfiguren in 'Watchmen'] erfand, dachte ich mir, naja, das wird ja wohl jedem klar sein, dass das Satire ist. Ich mache aus diesem Typen einen murmelnden Psychopathen, der ganz eindeutig müffelt, sich von kalten Bohnen ernährt und wegen seiner abscheulichen Persönlichkeit keine Freunde hat. Mir war überhaupt nicht klar, dass so viele Leute im Publikum eine solche Figur bewundernswert finden würden. Mir wurde gesagt, das ist jetzt so fünf bis zehn Jahre her, dass 'Watchmen' in der rechten Szene der USA viele Anhänger hat."

Weitere: Christian Bale denkt im großen Gespräch über sich, sein Leben und Hollywood nach. Außerdem plaudert Daniel Radcliffe, den man als "Harry Potter" kennt, über seinen neuen Film, in dem er keinen geringeren als Weird Al Yankovic spielt.

Elet es Irodalom (Ungarn), 28.10.2022

Vor kurzem veröffentlichte die Schriftstellerin Ágnes Gurubi ihren zweiten Roman ("A másik isten", Der andere Gott) über die Krise einer Frau nach dem Tod ihres Vaters. Im Interview mit Claudia Hegedűs spricht Gurubi über Lebenskrisen, Verlust und sexuelle Tabus: "Als ich vor mehr als zwei Jahren mit diesem Roman anfing, war meine Vorstellung davon anders als die finale Version. Bei einer Sache war ich mir allerdings die ganze Zeit sicher, nämlich dass meine Protagonistin eine Frauenfigur Mitte dreißig sein würde und ihre Geschichte und ihre Beziehungen zu Männern um den Tod ihres Vaters gewoben sein würde. Ich wusste von Anfang an, dass Sexualität eine wichtige Rolle spielen würde und ich ehrlich darüber schreiben wollte. Es kann sein, dass ich aufgrund der rohen Darstellung der Körperlichkeit in ein Wespennest gegriffen habe, denn neben dem Tod gilt auch die Sexualität als Tabu. Über beides sprechen wir nur sehr ungern. Wir haben eigentlich keine guten Wörter für den Sex und auch nicht für das, was wir durchleben, wenn wir einen nahen Verwandten verlieren."

HVG (Ungarn), 27.10.2022

In Zeiten, in denen die politisch bestimmenden Kräfte die Revolution von 1956 für sich passend neu deuten ("Siehe da, die Freiheitskämpfer von 1956 in Ungarn wollten eigenständig Verhandlungen mit der Sowjetunion erreichen, später wurden sie vom Westen verraten - die Ukraine sollte in ihrer gegenwärtigen Situation aus diesem Beispiel lernen…") inszeniert der junge Regisseur und Drehbuchautor Kristóf Kelemen mittels einer filmischen Mischung von Fakt und Fiktion aus der Perspektive der Witwen die Umbettung der Gräber der Revolutionäre von 56 - ein historisches Ereignis, das vor dreiunddreißig Jahren zur Wende in Ungarn mit beitrug. Im Interview mit Rita Szentgyörgy spricht Kelemen über seine Motivation, sich als Angehöriger einer jüngeren Generation mit dem Thema auseinanderzusetzen: "Wahrscheinlich beschäftigt es mich, weil es ein Tabuthema ist. Als hätte der größere Teil der ungarischen Gesellschaft 1989 gesagt, dass alles, was früher passiert ist, verleugnet und begraben werden muss. Doch die Gespenster der Vergangenheit blieben trotzdem unter uns und die Reflexe des Staatssozialismus leben unreflektiert weiter. Unaufgearbeitet blieben die Tragödien, Verantwortung wurde verwischt, während die komplexen Geschichten und mit ihnen auch die positiven Praktiken vergessen wurden. Ich würde es für nützlich halten, wenn mehr darüber gesprochen würde, welche Faktoren über die Repressalien hinaus es möglich machten, dass die Kommunisten die Macht für mehr als dreißig Jahre aufrecht erhalten konnten."
Archiv: HVG

En attendant Nadeau (Frankreich), 28.10.2022

Die Belagerung von Leningrad mit dem Hungermord an Hunderttausenden, gehört zu den von den Deutschen begangenen Verbrechen, die sie bis heute eher verdrängen. Die von den Nazis gewollte und den deutschen Soldaten ins Werk gesetzte Entmenschlichung findet natürlich auch in den Opfern statt. Jura Rjabinkin, der im Alter von 16 Jahren an Hunger gestorben ist, beschreibt diese Entmenschlichung, diesen Hass auf das Brot des anderen, in seinem Tagebuch sehr genau, erzählt  Philippe Artières. 1972 wurde es in Russland zum ersten Mal gedruckt. Auf deutsch scheint dieses Tagebuch noch nicht publiziert zu sein, aber Passagen wurden in dem von Daniil Granin herausgegebenen "Blockadebuchs" von 2019 nachgedruckt, auf französisch bringen es jetzt die Editions des Syrtes heraus: "Das Schreiben ist eine Waffe im Kampf gegen diese Entmenschlichung", so Artières. "Ungeschminkt schildert er seine Desillusionierung und seine Wut: 'Ich weine, ich bin erst sechzehn Jahre alt! Was für Schweine, die diesen Krieg angezettelt haben ... Adieu, meine Kindheitsträume, ihr werdet nie mehr zurückkehren. Ich werde euch wie die Pest vertreiben' (9./10. November). Ab Dezember ändert sich die Funktion des Tagebuchs weiter, das Schreiben ist das, was ihn mit dem Leben verbindet; am 10. Dezember, als die Kälte, die Läuse und der Hunger seinen baldigen Tod ankündigen, notiert er: 'Die Seiten meines Tagebuchs nähern sich dem Ende. Es scheint, dass das Tagebuch selbst die Zeit bestimmt, die mir noch bleibt, um es zu führen'."

New York Times (USA), 29.10.2022

David Wallace-Wells' zwei große Artikel über die Folgen des Klimawandels zeigen, wie instruktiv Artikel über dieses Thema sein können, wenn sie nicht in deutsche Moralinsäure getaucht werden. Wallace-Wells  kriegt es sogar hin, in vernünftigem Maße optimistisch zu sein, so in Artikel Nr. 1, "The New World: Envisioning Life After Climate Change": "Dank des erstaunlichen Preisverfalls bei den erneuerbaren Energien, einer wirklich globalen politischen Mobilisierung, einer klareren Vorstellung von der Energiezukunft und einer ernsthaften politischen Ausrichtung der führenden Politiker der Welt haben wir die erwartete Erwärmung in nur fünf Jahren fast halbiert."

Die eklatante Ungleichheit in der Bewältigung des Klimawandels, um die es in Artikel Nr. 2 ("Beyond Catastrophe: A New Climate Reality Is Coming Into View") unter anderem geht, verschweigt er dabei nicht: "Wenn es eins gibt, das man wissen muss - ob sich die Welt nun um zwei Grad erwrämt, oder sogar heute schon, wo sie sich um 1,2 Grad erwärmt hat - dann ist es die Tatsache, dass die Erwärmung ungerecht ist. Die Regenfälle, die in diesem Jahr zu den historischen Monsunüberschwemmungen in Pakistan geführt haben, wurden durch den Klimawandel um 50 Prozent verschlimmert, obwohl das Land in seiner gesamten Industriegeschichte nur so viel Kohlenstoff in die Atmosphäre abgegeben hat wie die Vereinigten Staaten jedes Jahr. Und obwohl die Zukunft überall hart sein wird, wird Wohlstand vielerorts eine Anpassung ermöglichen. Hier oder dort könnte das Leben sogar angenehmer werden, da mit dem Ende der fossilen Brennstoffe auch die Millionen von vorzeitigen Todesfällen wegfallen, die jedes Jahr durch deren Verbrennung verursacht werden. Die Städte könnten sich zunehmend vom Auto abwenden und sich für Fahrradfahrern und Grünflächen öffnen." Falls Fahrradfahrer angenehmer sind.
Archiv: New York Times
Stichwörter: Klimawandel, Ungleichheit