Magazinrundschau

Wer zuerst das Ziel erreicht

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
16.08.2022. Atlantic-Autorin Anne Applebaum zeigt am Beispiel Odessas, wie der Krieg endgültig eine ukrainische Identität schmiedet. Tablet besucht die Retrospektive Shirley Jaffes, der letzten amerikanischen Nachkriegskünstlerin in Paris. Der New Yorker lernt in Ruanda, wie wichtig ein funktionierender Kühlkreislauf für unsere Lebensmittel ist. Unherd fürchtet: Die Fatwa war nur der Anfang.

Unherd (UK), 15.08.2022

Etwas Deprimierendes ist geschehen, schreibt Will Lloyd in einem kleinen Essay zum Mordanschlag gegen Salman Rushdie. Wir haben die "Fatwa" verinnerlicht. Sie ist die heimliche Kultur, die sich überall ausbreitete. Niemand will heute mehr irgendjemanden "verletzen". Rushdie parierte die mörderische Attacke der "Fatwa" mit bewegender Grazie, aber was hat es genützt? "In 'Joseph Anton' schreibt Rushdie, dass seine Verteidigungen der Redefreiheit sogar 'in seinen eigenen Ohren irgendwann schal' klangen. In den 2010er Jahren ist etwas geronnen. Während er lange genug mit seinem Leben davongekommen ist, um sich selbst mit der Fatwa zu langweilen, beginnt er zu erkennen, dass die Sache, für die er kämpft, das Prinzip, das er verkörpert, im Verfall begriffen ist. 'Etwas Neues geschah hier: eine neue Intoleranz entstand. Sie breitete sich auf der ganzen Erde aus, aber niemand wollte es wissen.' Was war geschehen? Eine einfache, populäre Idee setzte sich fest: Wenn das Kollektiv sich gestört fühlt, hat es das Recht, den Einzelnen zum Schweigen zu bringen."
Archiv: Unherd

New Yorker (USA), 22.08.2022

Auch Adam Gopnik denkt über die Freiheit nach, die sich Rushdie zurückerobert hatte und die mit dem Attentat endet: "Im Laufe der Zeit ließ er mit einem Mut, der heute noch bemerkenswerter erscheint als damals, den Schutz fallen und ging ohne Begleitung und ohne Sicherheitspersonal umher - er beanspruchte seine eigene Menschlichkeit, indem er sich weigerte, zu einem Sonderfall gemacht zu werden, egal welcher Art. Er ließ sich weder auf die Karikatur reduzieren, die seine idiotischen Feinde aus ihm machen wollten, noch auf die ebenso karikaturistische Rolle eines Märtyrers für die Wahrheit. Er war ein Schriftsteller, mit den Tätigkeiten eines Schriftstellers und den Rechten eines Schriftstellers."

Wie wichtig ein funktionierender Kühlkreislauf für unsere Lebensmittel ist, das lernt man aus Nicola Twilleys Reportage über fehlende Kältetechnik in Ruanda. Die Ausfälle durch verdorbene Lebensmittel im subsaharischen Afrika werden auf immerhin Hunderte von Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt. Der Erfindungsreichtum und Unternehmergeist, mit dem die Ruander diesem Problem begegnen, ist beeindruckend, aber es gibt noch einiges zu tun: Kühlung, wenn sie funktioniert, nützt vor allem großen Farmen, die für den Export pflanzen. Sie ist ein Klimakiller (an der Energieeffizienz arbeiten derzeit britische und ruandische Forscher). Und schließlich - etwas unerwartet - wollen viele Ruander keine gekühlten Lebensmittel: "Wie mir Alice Mukamugema, eine Analystin im ruandischen Landwirtschaftsministerium, erklärte, glauben die Verbraucher in Ruanda, dass gekühlte Lebensmittel nicht frisch sind. (Amerikaner im frühen 20. Jahrhundert äußerten ähnliche Befürchtungen.) 'Händler, die die Abfälle aus dem Eishaus des National Agricultural Export Development Board auf dem lokalen Markt verkaufen, müssen sie sogar eine Zeit lang in die Sonne legen, damit sie sich nicht kalt anfühlen', sagte sie."

Nach Jane Mayer letzte Woche (unser Resümee) blickt heute Louis Menand auf das Wahlsystem der USA und stellt fest, wie undemokratisch es ist. Und das, obwohl in den USA mehr Menschen zur Wahl gehen als je zuvor. Gerrymandering (das Menand ganz gut erklärt), Wahlmännerkollegium und Filibuster - diese drei Eigenheiten führen inzwischen dazu, dass eine kleine Minderheit über die Mehrheit herrscht. 1789 mag es für einige Regeln gute Gründe gegeben haben, die heute obsolet sind. Warum ist es aber so schwer, die Verfassung zu ändern? Der Glaube daran hat etwas Religiöses, meint Menand: "Wir leben in einem Land, das unter einem schweren Fall von Ahnenkult leidet (ein Symptom für Unsicherheit und Angst vor der Zukunft), der durch eine absurde, undurchführbare und manipulierbare Doktrin namens Originalismus noch verschärft wird. Etwas, das Alexander Hamilton in einer Zeitungskolumne geschrieben hat - die 'Federalist Papers' sind im Grunde eine Sammlung von Meinungsäußerungen -, wird wie eine Passage aus dem Talmud behandelt: Wenn wir sie richtig interpretieren könnten, würde sie uns den Weg weisen."

Weiteres: Adam Entous erzählt die unbekannte Geschichte der Familie Biden. Rebecca Mead schreibt über den finanziell ungeheuer erfolgreichen Künstler Anish Kapoor. Und Rachel Syme denkt über das Vermächtnis von Nora Ephron nach.
Archiv: New Yorker

The Atlantic (USA), 15.08.2022

Anne Applebaum ist nach Odessa gereist, eine der "russischsten" Städte der Ukraine, und erzählt, wie der Krieg noch mehr dazu beiträgt, eine ukrainische Identität zu schmieden. Sie feiert die meist jugendlichen Freiwilligen, die Tarndecken für Scharfschützen nähen, Geld sammeln, Erste-Hilfe-Ausbildung geben oder mit dem eigenen Auto an die Front fahren, um Menschen zu evakuieren. "Überall in der Stadt haben sich Studenten, Buchhalter, Friseure und alle anderen denkbaren Berufsgruppen einer sozialen Bewegung angeschlossen, die man nur als beispiellos bezeichnen kann. Sie nennen sich 'Volonteri', und ihre Organisationen, ihre Crowdfunding-Kampagnen und ihr Aktivismus erklären, warum die ukrainische Armee so hart und so gut gekämpft hat und warum das jahrzehntelange russische Bestreben, den ukrainischen Staat zu vereinnahmen, größtenteils gescheitert ist, selbst (oder vielleicht gerade) im russischsprachigen Odessa. In einer gelähmten Landschaft, in einer festgefahrenen Wirtschaft, in einer Stadt, in der niemand etwas planen kann, gestalten die Volonteri die Zukunft. Sie haben keine Angst vor Verlust, Belagerung oder Besetzung, denn sie sind überzeugt, dass sie gewinnen werden."

Was mit "Twin Peaks" begann, ist spätestens seit "Lost" Gymnastik für Serienjunkies: Der fieberhafte Austausch über mögliche kommende Plot-Twists, verrätselte Erzählstrukturen und die eigentliche Beschaffenheit eines Erzählszenarios - die Welt der Fan-Theorien, die heute in Foren im Netz und dort insbesondere auf Reddit schillernde Blüten an der Grenze zur Forensik treiben (was genau steht in dem Zauberbuch, das im Bildhintergrund von "Harry Potter" aufgeschlagen herumliegt?). Für die Kreativen hinter den Kulissen kann das Segen (Werbung) und Fluch sein (ein schon frühzeitig richtig enttarnter Plot-Twist), schreibt Shirley Li. "Die Folge: Geschichtenerzähler müssen mehr leisten, als befriedigendes Garn zu spinnen; sie müssen sich gegenüber Fans behaupten, die so involviert sind, dass sie mit ihnen quasi im Wettlauf sind, wer zuerst das Ziel erreicht. Insbesondere bei Fernsehserien sind die leidenschaftlichen Zuschauer Teil des Writers Room geworden - nicht in tatsächlicher Anwesenheit natürlich, aber als dräuende Präsenz im Bewusstsein zumindest alljener, die staffelwerten Plot schmieden. ... Einige Serien fordern ihre Fans aber auch zum detektivischen Blick heraus. So verriet mir Chris Miller, der kreative Kopf hinter dem AppleTV-Whodunnit 'The Afterparty', dass das Autorenteam in jeder Episode 'kleine Geschenkkörbe' platziert - Ostereier, die den Adlerblick der Zuschauer mit Hinweisen auf die Identität des Mörders belohnen. 'Es ist aufregend in unserer Welt von heute zu leben, wo die Leute schauen, nochmal schauen und ständig das Bild pausieren können', sagte er mit. In 'Only Murders in the Building', dem ähnlich komödiantischen Krimi von Hulu, liefert der Vorspann jeder Episode einen Hinweis auf die folgende Geschichte."
Archiv: The Atlantic

Tablet (USA), 15.08.2022

Shirley Jaffe, Networking, 2007. Foto: © Bertrand Huet/Centre Pompidou


Das Pariser Centre Pompidou zeigt noch bis Ende August eine Retrospektive Shirley Jaffes, der letzten amerikanischen Nachkriegskünstlerin in Paris, die dort 2016 starb (mehr zur Pariser Ausstellung hier). Joe Fyfe kannte sie gut, erzählt er. Dass er mit ihren Bildern oft nicht viel anfangen konnte, beeinträchtigte ihre Freundschaft nicht. Die Ausstellung eröffnet ihm nun einige interessante Perspektiven. Zum Beispiel lernt er, wie sehr Jaffes Werk von dem Komponisten Iannis Xenakis beeinflusst war, von dessen Komposition "Metastaesis" von 1955 beispielsweise: "Xenakis lernte von Le Corbusier, mathematische Proportionen visuell zu betrachten, und dachte bereits über Musik als Klangmassen und Formen nach. Er beschrieb seine Musik als den Versuch, innerhalb dieses geordneten Chaos von einem Ort zum anderen zu gelangen, ohne die Kontinuität zu unterbrechen. ... Als ich kürzlich Xenakis' Musik hörte, fiel mir auf, dass er in Stücken wie 'Metastaesis' einzelne Partituren für jedes der 61 Instrumente schrieb, von denen einige natürlich Hunderte von Jahren alt sind. In ähnlicher Weise bestand Shirley auf den fertigen Versionen ihrer Gemälde. Sie sagte, dass sie sie mit winzigen Pinseln fertigstellte, ohne zu erwähnen, dass dies die Art und Weise war, wie Staffeleibilder früher fertiggestellt wurden. Sie inszenierte den sehr zeitgenössischen Zustand des Chaos, indem sie modernistische Formen und Farben verwendete, aber auf einer eindeutigen Visualität beharrte. Die detaillierte, oder besser gesagt, sorgfältige Ausführung gab dem Bild den letzten Schliff. Sie war sich des wichtigsten Aspekts bei der Herstellung eines Gemäldes bewusst, nämlich der Kontinuität, der Modulation von einer Fläche zur nächsten."
Archiv: Tablet

Eurozine (Österreich), 15.08.2022

Der ukrainische Philosoph Mykola Rjabschuk und der Historiker Serhij Jekeltschik sind sich ziemlich einig, dass Russlands imperialistische Wissensmonopolisierung und -identität, seine unterentwickelte Demokratie und fehlende Modernisierung als Nationalstaat dem Krieg gegen die Ukraine zugrunde liegen. Doch während Jekeltschik auch eine westliche Besessenheit von Russland für den Krieg verantwortlich macht, hält Rjabtschuk diese für zweitrangig: "Im Kern geht es um Russlands 'imperial knowledge': Seit dem 18. Jahrhundert wurde es produziert, machtvoll institutionalisiert, verbreitet, exportiert und im Westen als akademisches, objektives, wissenschaftliches Wissen etabliert, das bis vor kurzem unangefochten blieb. Daher rührt auch die westliche Fixierung auf Russland. Natürlich gibt es auch mächtige Wirtschaftsinteressen und Geschäftslobbys, aber ohne diese Herrschaft über das Wissen, ohne die Wahrnehmung Russlands als einziger Akteur in der Region, hätten sie nicht die freie Hand, die sie jetzt haben. Ich möchte diese Herrschaft über das Wissen dekonstruieren."
Archiv: Eurozine

Himal (Nepal), 12.08.2022

Abha Lal hat wenig Vertrauen in das neue biometrische Identifikationssystem Nepals, das der französische Anbieter IDEMIA bereit stellt als Nachweis der nationalen Identität, Sozialversicherungskarte, Wählerausweis und als Grundlage für die Inanspruchnahme aller Arten von öffentlichen Dienstleistungen. Von Überwachungsfragen abgesehen, hat nicht jeder einen Anspruch darauf, denn "ein erheblicher Teil der nepalesischen Bevölkerung ist nicht im Besitz eines Staatsbürgerschaftsdokuments, was zumindest teilweise auf eine jahrzehntelange Geschichte von Staatsbürgerschaftsbestimmungen zurückzuführen ist, die Frauen und ethnischen Minderheiten gegenüber feindlich eingestellt sind. Der 'Nicht-Staatsbürger'-Status vieler Nepalis wird wahrscheinlich in biometrischen Stein gemeißelt, was auf Jahrzehnte hinaus negative Folgen haben kann."
Archiv: Himal

HVG (Ungarn), 11.08.2022

Etwas mehr Langeweile würde sich der Schriftsteller Gábor Zoltán für sein Land wünschen. "In einem normalen Land lenkt nicht der Führer, die gesalbte, charismatische, historische Persönlichkeit die Geschicke des Landes, sondern eine Schar von Beamten. Langweilig bedeutet, dass ich selten von einer unerwarteten Wendung überrascht werde. Das Grundelement des Daseins des jetzigen Ministerpräsidenten ist aber, dass er mich überraschen will. (…) Wir steuern wieder Richtung Osten. Meines Erachtens könnte Orban dies nicht tun, wenn es dafür keinen Bedarf gäbe. Erneut fällt der Schutt von unaufgearbeiteten historischen Epochen auf uns. Wie gut wir doch erklären konnten, dass es lebenswichtig sei, sich mit den Osmanen gegen die Habsburger zu verbünden und dann umgekehrt, und wie stolz wir doch darauf waren, dass wir so geschickt alles hinbekamen. Und dennoch haben wir nie davon profitiert."
Archiv: HVG
Stichwörter: Zoltan, Gabor

London Review of Books (UK), 18.08.2022

Der Ukraine-Krieg wird sich nicht im Donbass entscheiden, glaubt James Meek, sondern im Süden im Kampf um die Stadt Cherson, die einen wichtigen Brückenkopf zum Schwarzen Meer bildet. Dreißig Kilometer von der Front entfernt liegt Mikolajew, das zur Hälfte von seinen Bewohnern verlassen wurde und in dem immer wieder Geschosse einschlagen: "Die Russen verwenden entweder Raketen, deren Flug eine Parabel zeichnet - Thomas Pynchons 'Regenbogen der Schwerkraft' - oder Marschflugkörper. Beide fliegen zu schnell, um gehört zu werden, bevor sie einschlagen. Sie werden von LKWs aus abgefeuert, von Schiffen, U-Booten und Flugzeugen, manchmal aus tausend Meter Entfernung. Die Ukrainer versuchen sie abzuschießen, manchmal gelingt es ihnen, doch ihre Technologie ist alt, und die Raketenabwehrsysteme, die ihnen von Deutschland und den USA versprochen wurden, sind noch nicht eingetroffen. Konventionelle Raketen auf eine große Stadt abzufeuern ist eine unglaublich ineffektive und kostspielige Art, diese dem Erdboden gleich zu machen und die in ihr lebenden Menschen zu töten. Es ist nicht die Taktik einer Armee, die sich selbst als Befreier versteht. Es ist allerdings ein ziemlich guter Weg, um Menschen zu terrorisieren und demoralisieren... Die Feinseligkeit gegenüber Russland ist groß, wie auch die Unterstützung für die ukrainischen Truppen und der Glaube an ihre Kampfkraft. Höher kann man sie sich kaum vorstellen, auch wenn beides nicht von allen geteilt wird. Den Charakter von Russlands Angriff kann man sich nur mit der Vorstellung erklären, dass die meisten Ukrainer ihre eigenen Politiker und die Vorstellung von der Ukraine als realem, unabhängigem Land mit derselben Verachtung betrachteten wie der Kreml. Als diese Idee zu Beginn der Invasion platzte und sich zum Entsetzen des Kremls auch keine Armee von Kollaborateuren zeigte, behalf sich die russische Regierung mit einer anderen Konstruktion, nämlich dass das Ausmaß von Tod und Zerstörung die Folge des ukrainischen Widerstands sei. Es ist eine Version der Drohung, die sonst Räuber oder Vergewaltiger ausstoßen: 'Ich bekomme, was ich will, egal ob du dich wehrst oder nicht. Aber wenn du dich wehrst, muss ich dich vielleicht auch töten."

Geoff Mann liest Bücher zum Post-Wachstum von Per Espen Stoknes, Jason Hickel, Tim Jackson und Giorgos Kallis, die allesamt gegen das Credo anschreiben, mehr sei fast so gut wie besser: "John Stuart Mill erklärte wie viele andere auch, dass Menschen am besten in einer Gesellschaft lebten, in der 'keiner arm sei, niemand reicher zu werden verlangt oder befürchten muss, zurückgeworfen zu werden von denen, die vorwärts drängen'. Die Ökonomie des Wachstums wird, das ist der Vorwurf, verwechselt mit einer qualitativen Entwicklung. Dabei wissen wir heute, dass Länder, deren BIP pro Kopf zu den höchsten gehört oder am schnellsten wächst, nicht unbedingt friedlicher oder demokratischer sind, auch leben ihre Bürger nicht unbedingt länger, gesünder oder glücklicher. Trotzdem bleibt das BIP das Standardmaß für all nationale Wirtschaftsaktivitäten, zum Leidwesen der Verfechter von Alternativen wie dem Human Development Index oder dem Genuine Progress Indication, die immerhin versuchen, menschliches Wohlbefinden messen."