Magazinrundschau

Die Fähigkeit, Liebe zu geben

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.02.2022. Im New Statesman denkt John Gray über die Rückkehr der Eugenik nach. Die LRB fragt, ob der Antirassismusdiskurs in westlichen Ländern nicht den Blick auf die globale Ungleichheit verstellt. En attendant Nadeau lernt aus der "Afrikanischen Reise" von 1940 der afroamerikanischen Anthropologin Eslanda Goode Robeson, dass es auch innerafrikanische Ungleichheit gibt. Intercept warnt vor der Überwachungstechnik fürs traute Heim von Bosch.

New Statesman (UK), 14.02.2022

Mit Interesse liest John Gray Adam Rutherfords Buch "Control" über die Rückkehr der Eugenik, aber ganz einverstanden ist er nicht. Rutherford sei auf dem linken Auge blind, glaubt Gray. Nicht nur die Nazis hätten am Übermenschen gearbeitet, auch die Linke wollte die Menschheit verbessern, indem sie die Elenden abschaffte. Und anstatt die Gen-Projekte des Silicon Valleys ganz grundsätzlich in den Blick zu nehmen, starre Rutherford nur auf ein paar obskure Rassisten am Rande: "Der grundlegende ethische Einwand gegen die Eugenik besteht darin, dass sie einigen Menschen das Recht einräumt, darüber zu entscheiden, ob das Leben anderer lebenswert ist. Als Mitglied einer Intellektuellen-Dynastie, zu der auch der viktorianische Über-Darwinist TH Huxley und der Schriftsteller Aldous Huxley gehörten, hat Julian Huxley nie daran gezweifelt, dass eine verbesserte menschliche Spezies seiner eigenen hohen Intelligenz entsprechen würde. Aber nicht jeder hält den Intellekt für die wertvollste menschliche Eigenschaft. General de Gaulles Tochter Anne hatte das Down-Syndrom, und der berühmt-berüchtigte, zurückhaltende Soldat und Widerstandsführer nannte sie 'meine Freude', und als sie im Alter von 20 Jahren starb, weinte er. Die Fähigkeit, Liebe zu geben und zu empfangen, mag für ein gutes Leben entscheidender sein als selbstverliebte Klugheit. An dieser Stelle kommt der Transhumanismus ins Spiel. Er ist in der Regel nicht rassistisch und beinhaltet in der Regel keinen kollektiven Zwang, sondern nur die freiwilligen Handlungen von Menschen, die sich selbst verbessern wollen. Aber wie die Eugeniker verstehen auch die Transhumanisten die Verbesserung der Menschheit als die Produktion von überlegenen Menschen wie sie selbst."
Archiv: New Statesman

Forum24 (Tschechien), 15.02.2022

Über die Ukraine-Krise unterhält sich Petr Hlaváček mit dem tschechischen Ex-Diplomaten und ehemaligen Havel-Berater Michael Žantovský, der zwar die Beziehung zwischen dem Westen und Russland auf einem absoluten Tiefpunkt sieht, allerdings für den Fall, dass sich die Krise mit friedensdiplomatischen Mitteln abwenden lässt, dafür plädiert, so riskant es auch klingen möge, nach einem neuen dauerhaften Rahmen für die russisch-westlichen Beziehungen zu suchen. Nach Žantovskýs Überzeugung ist Russland "nicht unwiderbringlich dazu verdammt, die Rolle des europäischen Störenfrieds zu spielen. Russland steckt seit fast dreihundert Jahren in dem Dilemma seiner einerseits historischen europäischen Gene und andererseits dem Großrussland-Wahn. Ein Weg daraus führt nur über das Bekenntnis zu den gemeinsamen kulturellen Traditionen und Werten, die niemand Russland gewaltsam aufgedrängt hat, sondern die sich zusammen entwickelt haben und zu denen sich Generationen russischer Intellektueller, aufgeklärter Geister, Gegner der Despotie und des Bolschewismus bekannt haben. Es würde Russland auch ermöglichen zu erkennen, dass die wahren Bedrohungen und Gefahren nicht aus dem Westen oder der NATO kommen, sondern von woanders. Wie Umfragen (etwa des Lewada-Zentrums) zeigen, wünscht sich ein Großteil der russischen Bürger im Unterschied zu Putin bessere Beziehungen zum Westen." Auf die Rolle Tschechiens in der problematischen Visegrád-Gruppe V4 angesprochen, meint Žantovský: "Mit der V4 ist es so wie in einer Familie. In der macht immer irgendeiner Probleme. Seine Geschwister sucht man sich nicht aus. Interessant an der V4 ist, dass die Rolle des problematischen Familienmitglieds wechselt. Zuerst war es Mečiars Slowakei, dann Václav Klaus' Tschechien, jetzt sind die problematischen Geschwister Polen und, noch gravierender, Orbáns Ungarn. Aber die tieferen Motive der regionalen Zusammenarbeit, die wesentliche geopolitische, historische und kulturelle Wurzeln haben, bleiben bestehen. Das Format der V4 zu verdammen, ist zumindest verfrüht und meiner Ansicht nach auch unvorsichtig. Es kann uns noch nützlich sein."
Archiv: Forum24

London Review of Books (UK), 14.02.2022

Musab Younis liest einen ganze Reihe von neuen Antirassismus-Büchern, die den Rassismus nicht strukturell, sondern als individuelles Problem angehen ("Institutionen bestehen aus Individuen", meint Robin Di Angelo). Younis muss daran denken, dass ihm auf dem Schulhof nicht unbedingt die groben Beleidigungen am meisten zusetzten, sondern die weißen Kinder, die ihm empört Gemeinheiten von anderen zutrugen. Aber überhaupt ist ihm die Art von psychologisierendem Antirassimus nicht geheuer, der das große Ganze aus dem Blick verliere: "Auch wenn der Begriff 'Mikroaggression' den Rassismus in den westlichen Gesellschaften verharmlost, so drückt er doch genau die begrenzte Spannbreite des neuen Antirassismus aus. In diesem Zusammenhang wird die grenzüberschreitenden Makroaggressionen des Rassismus in seiner alten kolonialen Form oft übersehen. Die Kränkungen, die eine aus Haiti stammende Frau aus der Mittelschicht in den USA erleidet, stellen die systematische Verarmung des haitianischen Staates über zwei Jahrhunderte in den Schatten. Die globale Wohlstandsverteilung - es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Wohnort und der Menge an Lebensmitteln, die Menschen auf dem Tisch haben - ist weit entfernt von dieser Art, über Rassismus zu denken, selbst wenn Grenzgebiete von Mexiko bis zum Mittelmeer von der Gewalt zeugen, die durch Ungleichheit erzwungen wird."

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.02.2022

Im Interview mit Andrea Lovász spricht der Dichter, Schriftsteller, Redakteur und Publizist Dénes Krusovszky u.a. über die Rolle der Schriftsteller in der Öffentlichkeit: "Ich betrachte mich in erster Linie als Dichter und Schriftsteller, wobei ich das öffentliche Schreiben oder das Schreiben über öffentliche Themen nicht streng getrennt von der Belletristik betrachte. In der ungarischen Literatur ist es Tradition, dass Autoren gleichzeitig Schriftsteller und öffentliche Intellektuellen sind, womit ich mich recht gut identifizieren kann. ... Es gibt Autoren, die ihre Bücher publizieren, doch die Kritik nicht mehr lesen, der Kontext des ganzen interessiert sie überhaupt nicht. Unter Kontext verstehe ich hier ganz banal ein Land oder die ungarische Gesellschaft. Ich sehe mich nicht als Ausnahme und bin genauso Teil der Suppe wie ein Ingenieur oder ein Sozialarbeiter. Meine Instrumente, aber auch meine Möglichkeiten, sind vielleicht andere und ich möchte diese Instrumente soweit wie möglich verantwortungsvoll und konsequent nutzen. So gesehen hängt es auch von mir ab, in was für einem Land meine Kinder leben werden und man sollte das nicht bagatellisieren, andererseits sollte man sich die Rolle des Schriftstellers auch nicht dogmatisch vorstellen."

En attendant Nadeau (Frankreich), 14.02.2022

"Voyage africain", Cover der französischen Ausgabe.
Na, das wäre vielleicht auch ein Tipp für deutsche Verlage. Die Nouvelles Editions Place bringen eine Übersetzung der "Afrikanischen Reise" der amerikanischen Autorin, Schauspielerin und Anthropologin Eslanda Goode Robeson heraus. Sie gehörte wie ihr Mann, der Anwalt, Schauspieler, Sänger Paul Robeson, zur "Harlem Renaissance", einer Bewegung schwarzer Intellektueller in New York auf der Suche nach ihren afrikanischen Wurzeln. Die "afrikanische Reise" basierte auf ihrer anthropologischen Abschlussarbeit. Zusammen mit ihrem Sohn Pauli hatte sie um 1940 fast den gesamten afrikanischen Kontinent bereist, der ihr gar nicht einheitlich, sondern "wie eine Gemüsepfanne aus lauter verschiedenen Ingredienzen" vorkam. Idealisieren wollte sie Afrika nicht, versichert Sonia Dayan-Herzbrun, die in ihrem Resümee nicht ganz ohne eine kleine postkoloniale Spitze auskommt: So akzeptierte Robeson "ungern die Spaltung der Afrikaner in Uganda in eine Aristokratie, die mit dem Vieh verbunden ist, und eine Unterschicht, die Ackerbau betreibt. Es gibt keine afrikanische Ausnahme: Da ist weder Primitivismus noch eine ideale Gesellschaft. 'Afrikaner sind Menschen.' Mit diesem Satz schloss sie 1944 ihr Buch und mit einem leidenschaftlichen Aufruf zur Freiheit für alle Menschen, nachdem der Nationalsozialismus gezeigt hatte, dass Rassismus, der bis vor kurzem wegen seiner Ausrichtung auf angeblich 'rückständige' oder 'primitive' Völker bereitwillig toleriert worden war, nun auch weiße Nicht-Arier betraf."

Intercept (USA), 11.02.2022

Die Firma Bosch kennt man im Alltag vor allem als Hersteller von Küchen und Werkzeugen. Seit einigen Jahren investiert das Unternehmen allerdings auch signifikante Beträge in Überwachungstechnik für den Heimgebrauch, erfahren wir von Zach Campbell und Chris Jones. Dafür arbeitet Bosch mit dem App-Store Azena zusammen, der allerlei KI-Lösungen anbietet, um das Maximum aus der Technologie herauszuholen. Und das ist mitunter heikel, denn Statements der Firma zum Schutz der Privatsphäre gleichen eher Lippenbekenntnissen, so die Autoren: "Die Verantwortung für Ethik und Legalität der Apps liegt dem Unternehmen zufolge gleichermaßen auf den Schultern von Entwicklern und Nutzern. Die Fortschritte im Bereich der Videoanalyse sind rasant. Der Markt für Software, die einen Videofeed in ein Set von Datenpunkten über Individuen, Objekte oder Räume übersetzen kann, wächst. Die Apps im Azena Store bieten derzeit unter anderem die Erkennung ethnischer Zugehörigkeiten, Geschlechtsidentifikation, Gesichtserkennung, die Analyse von Gefühlen und verdächtigem Verhalten an - trotz gut dokumentierter Vorbehalte über die diskriminierende und übergriffige Natur solcher Technologien. ... 'Die Leute haben antiquierte Vorstellungen, was Überwachungskameras leisten können', sagt Dave Maass von der Eletronic Frontier Foundation. 'Sie haben sich an ihre Allgegenwärtigkeit im Alltag gewöhnt. Sie nehmen an, dass die Aufnahmen einfach nur auf einer Festplatte oder einem VHS-Tape landen, ohne dass jemand je einen Blick darauf wirft, solange kein Verbrechen stattgefunden hat.' Wüssten die Leute, dass die Aufnahmen auf Anzeichen von Emotionen, Zorn oder obskureren Spuren durchgerechnet werden, würden sie das wohl anders sehen. 'Sie sehen es nicht, wenn eine KI das Material überwacht, dokumeniert, mit Metadaten versieht und daran auch geschult wird', sagt Maass. 'Zwischen dem, was die Leute im Alltag erleben, und dem, was hinter den Kulissen stattfindet, ist ein Bruch.'"
Archiv: Intercept

Eurozine (Österreich), 11.02.2022

Nein, sie habe keine Koffer gepackt, erklärt die Journalistin Angelina Kariakina, es wird in der Ukraine allerdings sehr viel über die gepackten Koffer gesprochen, allein weil die westlichen Medien ständig danach fragen. Die meisten Menschen haben für den Fall einer großen Invasion ein Notfall-Protokoll, schließlich befinde sich die Ukraine seit acht Jahren im Krieg mit Russland befinde, aus jedem Haushalt habe mindestens ein Mann an der Front kämpfen müssen. Doch die militärische Bedrohung sei nicht das Einzige: "Russlands Strategie besteht darin, mit hunderttausend Mann säbelrassend vor den Toren der Ukraine , die Demokratie des Landes zu unterminieren. Und auch wenn dieses Mal der Einsatz höher ist als jemals zuvor, kann man kaum sagen, dass eine Invasion unvermeidlich sei. In Wahrheit zerstören Polarisierung und Misstrauen eine Gesellschaft, ohne dass überhaupt ein einziger Schuss abgefeuert werden muss. Nach acht Jahren Krieg sind Russlands Soziale Medien und Fernsehsender in der Ukraine zwar verboten, aber die russische Propaganda findet trotzdem ihren Weg in die Öffentlichkeit. Ihr großes Narrativ, dass die Ukraine ein gescheiterter Staat sei, vom bösartigen Westen beherrscht, entspricht dem Weltbild einiger Menschen, das sich leicht in Verschwörungstheorien und allgemeines Misstrauen auswächst. Deshalb muss es ebenso sehr die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der bürgerlichen Teilhabe gehen wie um die Aufrüstung der Armee."

Der Sheffielder Politikwissenschaftler Peter J. Verovšek verteidigt in der Grundrechtsdebatte zur Pandemie Jürgen Habermas, der in den Blättern für deutsche und internationale Politik den Solidaritätspflicht der Staatsbürger über die Freiheitsrechte der Privatperson gestellt hatte und dafür von Andreas Rosenfelder in der Welt beschuldigt wurde, er rede einer Corona-Diktatur das Wort (unser Resümee).
Archiv: Eurozine

New York Times (USA), 09.02.2022

Der Investor Peter Thiel (Paypal, Facebook Palantir) - sich selbst als libertär bezeichnender Rechts-Außen und nebenbei Träger des Frank-Schirrmacher-Preises mit Laudator Sebastian Kurz (der inzwischen in seinen Diensten steht) - ist jetzt einer der zwei oder drei Hauptfinanziers all jener Republikaner, die gegen die wenigen verbliebenen republikanischen Trump-Gegner antreten. Dafür gibt Thiel 20 Millionen Dollar aus und gehört damit zu den zwei oder drei größten Finanziers der Trump-Fraktion. Ryan Mac und Lisa Lerer schreiben ein alles in allem recht braves Porträt dieser modernen Inkarnation des Hasses auf Demokratie. Aber er ist verheiratet mit seinem langjährigen Boyfriend, erfährt man nebenbei, mit dem er zwei Kinder hat. "Was Thiels Parteispenden von anderen abhebt, ist die Konzentration auf Kandidaten der extremen Rechten, die mit den von Trump vertretenen Verschwörungstheorien hantieren und sich selbst als Rebellen darstellen, die entschlossen sind, das republikanische Establishment und sogar die breitere amerikanische politische Ordnung zu stürzen. Diese Kampagnen haben Millionen an Kleinspenden gesammelt, aber Thiels Reichtum könnte die Verlagerung von Ansichten, die einst als marginal galten, in den Mainstream noch beschleunigen - und ihn selbst zu einem neuen Makler der Macht auf der Rechten in Amerika machen."

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube hat laut Deutschlandfunk betont, dass der Schirrmacher-Preis an Thiel für Schirrmacher selbst d'accord gegangen wäre. Sebastian Kurz war zum Zeitpunkt der Preisverleihung noch österreichischer Bundeskanzler. Laut Thiel-Biograf Max Chafkin schätzt Thiel seinen neuen Angestellten Sebastian Kurz, weil dieser den Brückenschlag von der extremen Rechten zum Mainstream geschafft habe, heißt es in einem Bericht des ORF.

Aufatmen kann man in dem Porträt, das Jonah Weiner über Bob Odenkirk schreibt: jenem genialen Darsteller eines kleinen Ganoven in "Better Call Saul", dem vielleicht auch gegen Thiel ein Rezept einfallen würde.
Archiv: New York Times