Magazinrundschau

Gesellschaft der Unzufriedenen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
24.08.2021. Harper's Magazine erzählt, wie eine Kommission mit Prince Harry, sowie ehemaligen Facebook-, Google-und Murdoch-Mitarbeitern den Menschen den Glauben an die evidenzbasierte Realität wiedergeben wollen. Atlantic stellt einen frühen Aufklärer und Feministen vor: den französischen Cartesianer François Poullain de La Barre. New Easter Europe fragt: Wen interessiert noch die Besetzung der Krim? In Eurozine macht der ukrainische Philosoph Mykola Riabchuk seinen Frieden mit der Ukraine.

Harper's Magazine (USA), 01.09.2021

Joseph Bernstein erzählt die Geschichte der Nachrichten. Es war einmal, da knippste der amerikanische Mann nach Feierabend die Glotze an, und er wusste, wo sein Platz war zwischen Frau und Kindern und den Nachbarn, in seiner Stadt, seinem Land, in der Welt: "Heute sind wir verloren. Die Medien begreifen wir mit Hilfe einer Metapher ('Informations-Ökosystem'), die dem US-Bürger suggeriert, in einem hoffnungslos denaturierten Habitat zu leben. Immer wenn er sich bei Facebook oder Twitter einloggt, begegnet er den toxischen Nebenprodukten der Moderne: Hassrede, Trollen, Interventionen fremder Nationen. Es gibt Lügen über die Größe von Inaugurationsfeiern, über den Ursprung von Pandemien und über Wahlergebnisse … Was anfangen mit all dem miesen Content? Im März kündigte das Aspen Institute an, unter dem Vorsitz von Katie Couric eine unparteiische Kommission für Informationsstörungen einzuberufen, die 'Empfehlungen liefern soll, wie auf den Verlust des Vertrauens in wichtige Institutionen reagiert werden soll'. Zu den fünfzehn Kommissaren gehören Yasmin Green, die Direktorin für Forschung und Entwicklung bei Jigsaw, einem Technologie-Inkubator von Google, der 'Bedrohungen für offene Gesellschaften erforscht'; Garry Kasparov, Schachgroßmeister und Kreml-Kritiker; Alex Stamos, Ex-Sicherheitschef von Facebook und jetzt Direktor des Stanford Internet Observatory; Kathryn Murdoch, Rupert Murdochs entfremdete Schwiegertochter, sowie Prinz Harry, entfremdeter Sohn von Prinz Charles. Zu den Zielen der Kommission gehört es zu bestimmen, 'wie Regierung, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten können, um eine Gesellschaft der Unzufriedenen anzusprechen, die den Glauben an die evidenzbasierte Realität verloren hat'." Seit der Pandemie aber scheint genau das noch schwieriger geworden zu sein, wie Bernstein im weiteren festhält: "Mit dem Virus bot sich eine epidemiologische Metapher für schlechte Informationen an. Des- und Fehlinformationen waren keine exogenen Toxine mehr, sondern ansteckende Organismen, die bei Exposition so unweigerlich Überzeugungskraft entfalteten wie Husten oder Fieber. In perfekter Umkehrung der Sprache des Digital-Media-Hypes war 'going viral' plötzlich eine schlechte Sache. Im Oktober verkündete Anne Applebaum in The Atlantic, Trump sei ein Superspreader von Desinformation'. Eine Studie von Cornell-Forschern von Anfang des Monats ergab, dass 38 Prozent der englischsprachigen 'Desinformations-Narrative' über COVID-19 Trump erwähnten, was ihn laut New York Times zum 'größten Treiber der Infodemie' macht." Trump war damit so erfolgreich, dass ihn jetzt seine Fans in Alabama ausbuhten, als er sie zum Impfen aufforderte, berichtete vor zwei Tagen der Guardian.

HVG (Ungarn), 22.08.2021

Die katholische Theologin Rita Perintfalvi spricht im Interview mit Györgyi Balla u.a. über den Verlust der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Ungarn heute: "Wenn die Regierung eine Gruppe - wie jetzt die Homosexuellen - kriminalisiert und bestraft, wäre es die Aufgabe der Kirche ihre Stimme zu erheben, sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Doch die Kirche interessiert die Situation ihrer Gläubigen nicht, was kein Zufall ist, denn sie wird nicht von den Gläubigen am Leben gehalten. (...) Die Ungarische Katholische Kirche muss sich mit ihrer kommunistischen Vergangenheit auseinandersetzen, die IM-Akten müssen geöffnet werden, sie muss der eigenen politischen Prostituierung, der Verflechtung mit den gegenwärtigen Machthabern ein Ende setzen. Buße und Wiedergutmachung werden benötigt, nur so kann Glaubwürdigkeit bewahrt werden. Seit der Flüchtlingskrise 2015 beobachte ich, dass die ungarische Katholische Kirche ihren eigenen Sarg zimmert."
Archiv: HVG

The Atlantic (USA), 01.09.2021

Poullain de la Barre, zeitgenössischer Stich.
Judith Shulevitz schickt über eine Distanz von mehr als dreihundert Jahren fast schon so etwas wie ein billet doux an den frühen Aufklärer und Cartesianer François Poullain de La Barre, einen der frühesten radikalen Feministen, der überhaupt erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurde - auch Simone de Beauvoir zitiert ihn im "Anderen Geschlecht". Poullain (auch Poulain geschrieben) hat für Shulevitz zwei faszinierende Seiten: Sein Feminismus schließt den der Sorge ein: das Gebären und Aufziehen von Kindern gilt ihm als vollgültiger gesellschaftliche Beitrag mit Anspruch auf Honorierung. Aber er bleibt nicht dabei stehen: "Ein weiteres Verdienst von Poullain ist, dass er das Engel-im-Haus-Syndrom vermeidet, das die Frauen im viktorianischen Zeitalter einschränkte. Frauen können Mütter sein, aber sie können auch alles andere, behauptet er. Schließlich trennen die Cartesianer Geist und Körper, woraus folgt, dass, wie Poullain schreibt, 'der Geist kein Geschlecht hat'. Frauen sind genauso gut wie Männer in allen Bereichen, die keine rohe Kraft erfordern. 'Eine genaue anatomische Untersuchung zeigt keinen Unterschied', schreibt er an die Adresse seiner männlichen Leser. 'Das Gehirn einer Frau ist genau das gleiche wie unseres.' In seinem zweiten Buch, 'Über die Erziehung der Damen' (1674), schlägt Poullain eine wissenschaftliche Ausbildung für Frauen vor - und zwar für alle. Seine Vorstellung von Wissenschaft privilegiert Frauen sogar, denn wenn er 'wissenschaftlich' sagt, meint er evidenzbasiert, und er sieht Frauen als natürliche Wissenschaftlerinnen - nicht, weil sie so geboren werden, sondern weil zu seiner Zeit und unter den Mitgliedern seiner Klasse Frauen enger mit der materiellen Welt interagierten als Männer."
Archiv: The Atlantic

Respekt (Tschechien), 23.08.2021

Jindřiška Bláhová berichtet vom Filmfestival in Karlovy Vary, auf dem der Dokumentarfilm "Rekonstrukce okupace" über das Ende des Prager Frühlings 1968 gezeigt wurde (Trailer), der jetzt in die tschechischen Kinos kommt: Filmemacher Jan Šikl hat jahrelang Filmmaterial aus Privatbesitz gesammelt und entdeckte viele Stunden Material, die Momente der russischen Okkupation in Prag zeigen und von der Öffentlichkeit nie gesehen wurden ("Wen soll das interessieren?", fragte ein siebzigjähriger Filmrollenbesitzer.) Manches wurde ihm auch anonym zugeschickt. Anschließend spürte Šikl in detektivischer Arbeit einzelne Menschen auf, die auf den Filmausschnitten zu sehen sind. Wodurch sich weitere Kontakte und Erinnerungen ergaben. Es erzählen Zeitzeugen, "die bereuen, damals die Konfrontation gescheut zu haben, und solche, die stolz sind, die Konfrontation gemieden und dadurch weiteres Blutvergießen verhindert zu haben." Bláhová hält den Ansatz des Dokumentarfilms für sehr gelungen, denn Šikl folge der Prämisse, dass "das Banale und das Bedeutende eng miteinander verflochten sind. Dass die große Geschichte nicht existiert ohne die sogenannte kleine, private. Dass die persönliche zur großen Geschichte werden kann und die große sehr persönlich."
Archiv: Respekt

New Statesman (UK), 23.08.2021

Noch ist Europa weit entfernt von Australien, doch auch in der nördlichen Hemisphäre werden die Waldbrände von Sommer zu Sommer verheerender, warnt der Klimaforscher Tim Flannery mit Blick auf die Brände in Griechenland, Portugal oder auch Sibiren und sieht ein Zeitalter der Megafeuer heraufziehen "Da die Feuer immer stärker genährt werden, werden die Brände größer und heißer. Manche werden so groß, dass sie selbst das Wetter verändern. Die australischen Brände des Schwarzen Sommers 2020 speisten sich aus einer noch nie dagewesenen Menge an Brennstoff, den das trockenste und heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen geschaffen hatte, sie wuchsen zu einem Feuer heran, wie es das zuvor noch nie gegeben hat. Vor dem Jahr 2000 brannten in einem schlechten Jahr etwa zwei Prozent der gemäßigten Laubwälder Australiens. Doch im Schwarzen Sommer 2020 gingen 21 Prozent in Flammen auf. Das ist ein Anstieg um das Zehnfache - in einem einzigen Jahr. Jede Wirkung des Feuers wurde durch sein Ausmaß noch verstärkt. Mehr als 400 Menschen, von denen einige viele Kilometer vom nächsten Feuer entfernt lebten, starben an Rauchvergiftung. Die Schäden an der Infrastruktur, einschließlich der Häuser, waren beispiellos und es wird viele Jahre dauern, bis sie beseitigt sind. Einige Gemeinden werden sich möglicherweise nie wieder vollständig erholen. Und als die Flammen schließlich durch sintflutartige Regenfälle und enorme Überschwemmungen gelöscht wurden, wurde giftige Asche in solchen Mengen in den Ozean vor Ostaustralien gespült, dass die Meeresumwelt verwüstet wurde, was zu einem Massensterben an den vorgelagerten Riffe führte."
Archiv: New Statesman

Eurozine (Österreich), 23.08.2021

Zu Sowjetzeiten mussten auch in der Ukraine alle Filme und Fernsehsendungen auf Russisch laufen, wer Ukrainisch forderte, wurde als Nationalist gebrandmarkt. Russen, die allen anderen Russisch aufoktroyierten, waren allerdings keine Nationalisten, sondern gute Sowjetbürger. Der ukrainische Philosoph Mykola Riabchuk hat seinen Frieden damit gemacht, ein ukranischer Nationalist zu sein: "Ich habe als Autor etliche Bücher über die ukrainische Transformation veröffentlicht und hunderte Artikel, in denen ich die Regierung, die Gesellschaft und gelegentlich auch den Westen geißelte. Heute lebe ich gewiss nicht in dem Land, das ich mir vor drei Jahrzehnten erträumt hatte, aber ich muss meine Frustration zügeln, denn noch vor vier Jahrzehnten hätte ich von einer unabhängigen Ukraine nicht einmal zu träumen gewagt. Das versetzt mich in eine unangenehme Lage, denn ich muss Bitterkeit und berechtigte Kritik mit der Anerkennung nüchterner Realitäten versöhnen: mit komplizierten Folge-Abhängigkeiten, einer schwachen Gesellschaftsstruktur sowie der begrenzten Kompetenz und unbegrenzte Dummheit der politischen Akteure. Ich möchte daher das Glas lieber als halbvoll ansehen denn als halbleer. Wir liegen sicherlich weit hinter unseren baltischen oder mitteleuropäischen Mithäftlingen im kommunistischen Lager zurück. Aber immerhin liegen wir weit vor all den postsowjetischen Republiken, da nur die Ukraine (und das winzige Moldawien) das demokratische System aufrechterhalten hat, das durch die Perestroika ermöglicht wurde - mit der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, regelmäßigen mehr-Parteien-Wahlen und dem Wechsel der Regierung, einer breiten Unterstützung der Demokratie und einem dauerhaften Engagement für die westliche Integration."
Archiv: Eurozine

New Eastern Europe (Polen), 24.08.2021

Für westliche Medien ist die russische Annexion der Krim Schnee von gestern, die Regierungen beharren verbal auf der Nichtanerkennung, aber de facto wird eine Reintegration der Halbinsel in die Ukraine unmöglich gemacht, schreibt Olena Yermakova. Zum Beispiel durch Dekret 201, das den Großteil der Krim zu russischem Grenzland erklärt: "Gemäß diesem Dekret haben ausländische Bürger oder Körperschaften ebenso wenig wie staatenlose Personen das Recht, Grund und Boden in Grenzland zu besitzen. Ausländer (also Ukrainer), die geschätzt 10.000 Grundstücke besitzen, sind gezwungen, ihren Besitz innerhalb eines Jahres zu verkaufen oder zu verschenken. Wenn die Frist nicht eingehalten wird, werden dem Donbas and Crimea Legal Un/Certainty project zufolge Gerichte den Besitz einer anderen Person übertragen. Die Fachleute des Un/Certainty projects halten den Schritt der russischen Behörden für ein Kriegsverbrechen gemäß dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und einen Verstoß gegen mehrere internationale Abkommen."

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.08.2021

Eine historischen Analogie aus der Kádár-Ära verwendend, in der ein Mitglied des Schriftstellerverbandes Anfang der 80er-Jahre um die Einführung der Zensur bat, um die seelische Stabilität der Schriftsteller zu bewahren, bittet der Schriftsteller Zoltán András Bán auf den Seiten der Wochenzeitschrift Élet és Irodalom (ironisierend) um die Veröffentlichung einer Liste von verbotenen Büchern durch die Regierung, die im Rahmen des umstrittenen Gesetzes zur Diskriminierung von LGBTQI-Menschen unter das "Propagieren von Homosexualität" fallen könnten. "Mein bescheidener Antrag ist verhaltener, jedoch auch praktischer als die in der Idylle des Ancient Regime der Kádár-Ära formulierte Bitte. Denn ich bitte lediglich die weise Regierung darum, dass für das Sicherheitsgefühl der Buchhändler und der Autoren ein Verzeichnis der 'Verbotenen Bücher' eingeführt, und in allen Buchdruckertinte verkaufenden Geschäften und Institutionen ausgehängt werden soll. Obwohl unbestritten, dass in unserem zutiefst christlichen Lande das Index librorum prohibitorum über eine angenehm patinierte Nebenresonanz verfügen kann, hat es einen faden Beigeschmack, dass diese Liste durch die Verkündung der Glaubenskongregation vom 14. Juni 1966 offiziell rechtlich aufhörte zu existieren, obgleich - wie der spätere Papst, Kardinal Ratzinger bestätigte - moralisch weiterhin verpflichtend blieb. Was ist aber eine Verbotsliste wert, die lediglich moralisch verpflichtend ist?! Wie Immanuel Kant einst erwähnte, Legalität könne erzwungen werden, Moralität jedoch nicht."

Vulture (USA), 17.08.2021

In einem Beitrag des Magazins geht Reeves Wiedeman mysteriösen Bücherdiebstählen in Verlagen nach. Die Manuskripte werden über falsche E-Mail-Adressen in der engeren Verlagskorrespondenz erschlichen, ehe sie veröffentlicht sind, und niemand weiß genau, zu welchem Zweck: "Der Dieb schien ein starkes Verständnis von der Welt des internationalen Verlagswesens zu haben. Die ersten E-Mails aus dem Herbst 2016 wurden fast ausschließlich in einer kleinen Gruppe von Personen gewechselt, die den Manuskriptfluss zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsländern abwickeln, darunter ein Manager für ausländische Rechte in Griechenland, ein Redakteur in Spanien und ein Agent, der internationale Schriftsteller auf dem chinesischen Markt verkauft. Bei dem versuchten 'Millennium'-Raub (das neue Buch aus Stieg Larssons 'Millennium-Reihe, d. Red.) wussten nur wenige Dutzend Menschen auf der ganzen Welt überhaupt, dass das Buch mit ausländischen Verlagen geteilt wurde … Der Verdacht fiel schnell auf Literaturscouts, deren Arbeit es ist, sich frühzeitig Zugang zu Büchern zu verschaffen, um ausländische Verlage und Hollywood-Studios zum Kauf der Rechte zu beraten. 'Wir sind der Geist in der Publishing-Maschine', sagt Jon Baker, der als Scout arbeitet. 'Wenn dich jemand beiläufig nach etwas fragt, das bald herauskommen soll, ist es höchstwahrscheinlich ein Scout.' Der Job erfordert es, Bücher zu finden, die dem Geschmack eines Kunden entsprechen - ein deutscher Verlag, der historische Belletristik will, ein Streaming-Dienst, der starke weibliche Protagonisten mit einem Alkoholproblem sucht - aber Pfadfinder versuchen meistens, alles zu bekommen. Da Agenten oft kontrollieren wollen, wer wann ein Buch sieht, ist der ultimative Coup eines Scouts ein 'Ausrutscher' oder ein Manuskript, das man von einer befreundeten Quelle beim Kaffee ergattert hat und das dem Kunden des Scouts ein paar Extratage oder -Stunden verschafft, ein Buch in Betracht zu ziehen, bevor die Konkurrenz es in die Hände kriegt. Daher nennt man Scouts auch die Spione der Buchwelt."
Archiv: Vulture