Magazinrundschau

Listen aller Mädchen und Frauen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.08.2021. Der Krieg in Afghanistan ist vorbei. Für uns. Für viele Afghanen hat er gerade erst angefangen. Nach 20 Jahren Aufbauarbeit, mit Geld in der Höhe (auf heutige Verhältnisse umgerechnet) des Marshallplans für Deutschland - wie konnte das alles in einem derartigen Desaster enden? Der New Statesman, Spectator, Unherd, der New Yorker und Atlantic suchen nach Antworten.

New Statesman (UK), 15.08.2021

Der Krieg in Afghanistan ist vorbei, für uns im Westen jedenfalls. Nach 20 Jahren Aufbauarbeit, mit Geld in der Höhe (auf heutige Verhältnisse umgerechnet) des Marshallplans für Deutschland - wie konnte der Einsatz in einem derartigen Desaster enden? Westliche Halbherzigkeit und eine Korruption, die Teile der afghanischen Elite zu Großgrundbesitzern in den Golfstaaten werden ließ? So jedenfalls denkt der britische Historiker Adam Tooze: "Das charakteristische Merkmal des modernen Afghanistans ist die ungleiche Entwicklung und die große Ungleichheit. Die sechs Großstädte Kabul, Mazar, Dschalalabad, Herat, Kundus und Kandahar sind eine Welt für sich im Vergleich zu den anderen 28 Provinzen des Landes. Kritiker des Hilfssystems bezeichnen Afghanistan als 'Rentierstaat'. Die westliche Hilfe, die in ein hierarchisches und balkanisiertes soziales und politisches System fließt, hat zur Entstehung von Parallelwirtschaften geführt. Die Eliten haben das Wachstum für sich monopolisiert, während die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft das Nachsehen haben. Die Taliban stützen sich auf eine solide Organisation, auf ihr Engagement und auf eine umfangreiche Schattenwirtschaft. Aber was ihre Bewegung letztlich am Leben erhält, ist das Elend auf dem afghanischen Lande und die Wut vieler junger Männer gegen die allgegenwärtige Korruption und Ungerechtigkeit. ... Die grandiosesten Pläne der USA für Afghanistan sahen das Land als eine wichtige Station auf einer 'Neuen Seidenstraße' vor. General Petraeus und ein 'Tigerteam' im US Central Command (CentCom) sahen in Afghanistan ein wichtiges Glied einer transkontinentalen Handelsroute. Handel und Wirtschaftswachstum sollten die Lücke füllen, die nach dem Ende der amerikanischen Truppenverstärkung entstand. Am 20. Juli 2011 begrüßte die US-Außenministerin Hillary Clinton in einer Rede in Indien die CentCom-Initiative Neue Seidenstraße. Doch die Idee wurde nie umgesetzt. ... Es war China, das die Vision der Neuen Seidenstraße mit seiner 2013 beschlossenen Belt and Road Initiative (BRI) aufgriff. Aber Chinas BRI umgeht Afghanistan und überlässt es den Amerikanern."

Ido Vock knabbert noch an der Tatsache, dass amerikanische Regierung und die Medien die Realität derart unterschätzt haben, dass sie noch am 12. August glaubten, Kabul könnte sich noch drei Monate gegen die Taliban halten: "Die Regierung Biden wird sich auch fragen lassen müssen, ob der Abzug einer historisch niedrigen Truppenstärke - nur rund 3.500, was einem Höchststand von rund 110.000 im Jahr 2011 entspricht - den Zusammenbruch des afghanischen Staates wert war. Die Verbündeten der USA, die in Afghanistan waren, werden sich fragen, ob es richtig war, dem amerikanischen Beispiel zu folgen und ihre Truppen ebenfalls abzuziehen."

Lynne O'Donnell erzählt von ihrer Flucht aus der Provinz Balkh, die von einer Gouverneurin regiert wurde (sie, ihr Ehemann und der Fotograf Massoud Hossaini flohen mit O'Donnell). Dabei kamen sie auch durch Bamiyan, dessen frisch ernannten Gouverneur O'Donnell interviewte: "Er ließ in unser Gespräch fallen, dass die Taliban, die einen Bezirk in einem abgelegenen Tal kontrollieren, Listen aller Mädchen und Frauen verlangt hatten und sie mit jungen bewaffneten Aufständischen verheiraten wollten. Die Geschichte, die Massoud und ich berichteten, bestätigte die erschreckenden Gerüchte, die seit Beginn des Vormarsches der Taliban im Mai im Umlauf waren. Es gab enorme Gegenwehr. Taliban-Sympathisanten und Trolle beschuldigten uns der Lüge, der Erfindung, der Fake News - und das, obwohl wir über ein halbes Dutzend Quellen sowie Video- und Fotomaterial von unseren Gesprächspartnern verfügten."
Archiv: New Statesman

Spectator (UK), 16.08.2021

Eine Korruption unvorstellbaren Ausmaßes macht auch David Loyn mitverantwortlich für den fast kampflosen Rückfall Afghanistans an die Taliban: Die afghanische Armee bestand zum Teil nur "aus 'Geistersoldaten', Phantomtruppen, deren Sold von höheren Offizieren eingetrieben wurde." Die größte Verantwortung dafür liegt für Loyn allerdings bei den USA, und ganz besonders bei George W. Bush. Er "machte einen großen Fehler, als er Donald Rumsfelds Plänen zustimmte, die afghanischen Milizen zur Hauptkraft vor Ort zu machen, um die Taliban und Al-Qaida zu besiegen. Die internationale Unterstützung sollte nur aus Luftstreitkräften und einem 'leichten Fußabdruck' von Spezialkräften bestehen. Doch die afghanischen Milizen, die er mit Millionen von Dollar überhäufte, wurden von eben jenen Kriegsherren angeführt, deren Banditentum und Gewalt Mitte der 1990er Jahre überhaupt erst zum Aufstieg der Taliban geführt hatte. Nach 2001 nutzten die Warlords ihre neue, von den USA finanzierte Seriosität, um sich in Machtpositionen in der Post-Taliban-Regierung zu drängen, die zu einem ständigen Motor der Korruption wurde. Was auch immer in den folgenden 20 Jahren an anderen Mängeln auftrat, und es gab viele ... sie wurden von diesem grundlegenden Versagen im Afghanistankrieg in den Schatten gestellt."

Gut, dass wir raus sind, findet Mary Dejevsky. Vielleicht gab es triftige Gründe zu bleiben, "aber sie kommen fast ausschließlich von einer Seite: im Wesentlichen von der Elite. Hört man sich die Vox-Pops, die Telefonanrufe an, liest man die Kommentare unter dem Strich in den Zeitungen und in Teilen der sozialen Medien, so erhält man eine ganz andere Botschaft. Zusammengefasst lautet diese, dass die Mission immer zum Scheitern verurteilt war. Dass niemand, wie fortschrittlich oder motiviert er auch sein mag, in der Lage war, das afghanische Volk seinem Willen zu unterwerfen; dass der Versuch, Afghanistan zu einem demokratischen Staat nach westlichem Vorbild umzugestalten, ein Irrweg war; dass das Vereinigte Königreich Afghanistan schon vor langer Zeit hätte verlassen sollen, wenn es überhaupt jemals dort hätte sein sollen, und dass, ja, der Preis zu hoch war ... Wieder einmal, so scheint es, gibt es eine Kluft zwischen der Elite und dem Rest - eine Kluft, die für die Machthaber nahezu unsichtbar zu sein scheint. Sie ähnelt der Kluft, in die David Cameron im Zusammenhang mit dem Brexit gestürzt ist".
Archiv: Spectator

Unherd (UK), 16.08.2021

Aris Roussinos geißelt das absolute Versagen der alliierten Mission in Afghanistan und blickt dann, gestärkt durch neueste soziologisch Untersuchungen zu 'rebel governance', in die Zukunft, die er gar nicht so schwarz sieht für die Afghanen: "Die Art der Machtübernahme durch die Taliban gibt Aufschluss darüber, wie sie ihre zweite Herrschaftsperiode angehen könnten. Ihre Betonung der Machtübernahme in dieser letzten Phase durch Verhandlungen und nicht durch offene Konflikte entspricht den traditionellen afghanischen, insbesondere paschtunischen Systemen der Streitbeilegung. ... Die Taliban haben bereits zahlreiche Proklamationen herausgegeben, in denen sie den Verwaltungsfunktionären der ehemaligen Regierung Amnestie zusichern: gefangene Soldaten werden freigelassen, abgetretene Regionalgouverneure werden nach Kabul zurückgebracht, und Bankangestellte, Straßenreiniger, Schullehrer und Verkehrspolizisten werden aufgefordert, ihre Arbeit wieder aufzunehmen - mit einigen Ausnahmen. Weibliche Bankangestellte wurden in Herat offenbar nach Hause geschickt und durch ihre männlichen Verwandten ersetzt; Lehrerinnen dürfen nur weiterarbeiten, wenn sie den Tschador und ihre Schülerinnen den Hidschab tragen. Die zweite Version der Taliban-Herrschaft wird für Frauen wahrscheinlich genauso restriktiv sein wie die erste. Dies schmälert nicht unbedingt die Legitimität der Gruppe im ganzen Land; in den konservativen ländlichen Provinzen könnte es sie sogar stärken." Na dann.
Archiv: Unherd

New Yorker (USA), 16.08.2021

In einem Interview zeigt sich der langjährige Reporter Steve Coll vor allem verärgert über Joe Biden, der die Afghanen (und ihre 300.000 Mann starke Armee) aufgerufen hatte, den Taliban auch selbst ein bisschen Widerstand zu leisten. Zwar habe Biden von Donald Trump den Beschluss zum Abzug geerbt, nicht jedoch Art und Weise: "Die Eile und die Gleichgültigkeit, die Schuldzuweisung an die Afghanen, die Verbindung der Entscheidung mit engen amerikanischen Interessen und dem Jahrestag des 11. Septembers, all das zeugt von der - Verachtung wäre wohl kein zu starkes Wort - für die Folgen, die dies in Afghanistan haben würde. Die Entscheidungen der Obama- und der Trump-Regierung in den ersten Jahren spiegelten einen seltenen politischen Konsens in den Vereinigten Staaten wider, dass man nämlich bereit war, ein relativ kleines Truppenkontingent und relativ geringe Ausgaben in Afghanistan aufrechtzuerhalten, um einen Ausweg zu finden, der nicht zu dem führt, was wir jetzt beobachten. Aber der Präsident selbst scheint persönlich entschieden zu haben, dass dies ein Irrweg war."

Robin Wright sieht das Gewicht der USA in der Welt für lange Zeit, wenn nicht gar für immer verspielt: "Amerikas Großer Rückzug ist mindestens so demütigend wie jener der Sowjetunion 1989, ein Ereignis der zum Ende des kommunistischen Reiches beitrug."
Archiv: New Yorker

The Atlantic (USA), 16.08.2021

Auch der pensionierte US-Colonel Mike Jason fragt sich, wie es zu diesem schäbigen Ende kommen konnte: "Von meinen Einsätzen im Irak bis hin zu meiner Zeit in Afghanistan wurden größere systemische Probleme nie wirklich angegangen. Es ist uns nicht gelungen, die irakischen und afghanischen Streitkräfte als Institutionen aufzubauen. Wir haben es versäumt, die notwendige Infrastruktur zu schaffen, die sich mit der militärischen Ausbildung, dem Training, den Gehaltssystemen, der Karriereentwicklung, dem Personal und der Rechenschaftspflicht befasst - all die Dinge, die eine professionelle Sicherheitstruppe ausmachen. Durch die Rotation der Teams in sechsmonatigen bis einjährigen Einsätzen konnten wir die drängenden Probleme der irakischen und afghanischen Armeen und Polizeikräfte nicht lösen: endemische Korruption, sinkende Moral, grassierender Drogenkonsum, miserable Instandhaltung und ungeschickte Logistik. Wir waren sehr gut darin, Züge und Kompanien auf die Durchführung von Razzien und das Betreiben von Kontrollpunkten vorzubereiten, aber dahinter funktionierte wenig. Es ist bezeichnend, dass die besten Kräfte in Afghanistan heute die Kommandos der Spezialeinheiten sind, kleine Teams, die mutige und großartige Leistungen erbringen - aber nicht wegen einer sie stütztenden Institution, sondern trotz einer solchen."

Aber wurde wirklich gar nichts erreicht? Die Rückkehr der Taliban ist eine Katastrophe die afghanischen Frauen, schreibt Lynsey Addario. Und trotzdem gibt es Hoffnung: "Heute gibt es eine neue Generation afghanischer Frauen, die sich nicht mehr daran erinnern können, wie es war, unter den Taliban zu leben. 'Sie sind voller Energie, Hoffnung und Träume', sagte mir Shukriya Barakzai. 'Sie sind nicht so wie ich, wie ich es vor 20 Jahren war. Sie sind viel aufmerksamer. Sie kommunizieren mit der Welt. Es ist nicht [das] Afghanistan, das in einem Bürgerkrieg verbrannt wurde. Es ist ein entwickeltes, freies Afghanistan, mit freien Medien, mit Frauen."

George Packer, der Freunde und Kollegen in Afghanistan hatte, ist schlicht verzweifelt über den unglaublichen Bürokratismus, dem afghanische Helfer unterzogen werden, bis sie ein Visa und alle Papiere für die Aus- und Einreise beisammen haben. Hätte man nicht wenigstens das hinbekommen können? "Vielleicht waren die Bemühungen um den Wiederaufbau des Landes von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aber dass wir die Afghanen im Stich gelassen haben, die uns geholfen, auf uns gezählt und ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, ist eine endgültige Schande, die wir hätten vermeiden können. Die Regierung Biden hat es versäumt, die Warnungen zu Afghanistan zu beherzigen, sie hat nicht mit der gebotenen Dringlichkeit gehandelt - und ihr Versagen hat Zehntausende von Afghanen einem schrecklichen Schicksal überlassen."
Archiv: The Atlantic

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.08.2021

Norwegen zahlt zusammen mit Island und Lichtenstein in jeder EU-Haushaltperiode Ausgleichszahlungen an EU-Mitgliedsstaaten mit unterdurchschnittlichem Entwicklungsstand - so auch an Ungarn - als Kompensation für den Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Die Zahlungen sollen zivilgesellschaftlichen Initiativen zugute kommen, welche unabhängig von der jeweiligen Regierung sind, wobei über die geförderten Organisationen Konsens zwischen den zwei Staaten herrschen soll. Ungarn hat als einziges Land die Vereinbarung einseitig aufgekündigt, denn nach der Beurteilung der Regierung gehört eine der Organisationen dem "Soros-Netzwerk" an. Die Abrufbarkeit der Mittel ist damit laut Norwegen hinfällig, die ungarische Regierung wiederum spricht vom "Diktat der Geberländer", kündigt rechtliche Schritte an und überprüft laut einer Verordnung des Ministerpräsidenten die wirtschaftlichen Beziehungen zu Norwegen (mehr zu dem Thema in der NZZ). Der Publizist János Széky kommentiert die paradoxe, ja absurde Situation. "Das Problem ist einerseits, dass die Regierung des EU-Mitglieds Ungarn, mit ausreichend Zeit und Kapazität ausgestattet, seit 2010 Techniken perfektionierte, Brüssel für dumm zu halten und - siehe die Geschichte des EU-Haushaltes und des Corona-Hilfspakets - zu erpressen. Norwegen ist aber nicht die EU und auch nicht Deutschland. (...) Schon die 'Rechtsgrundlage' ist eine propagandistische Dummheit, also dass das Königreich Norwegen Ungarn diese Summe 'schuldet', weil 'es die Vorteile des Binnenmarktes der EU genießt', genau so wie die Gelder aus den EU-Kohäsionsfonds Ungarn 'zustehen'. Nicht mit dem 'Ziel', dass das Land sich schneller entwickelt, sondern aus dem 'Grund', dass private Firmen Euromilliarden in Form von Gewinnen aus dem Land herauspumpten, was jetzt die west-europäischen Steuerzahler lediglich zurückzahlten. Wenn jemand das hier zum ersten Mal liest: dieses auf betriebswirtschaftlichen Analphabetismus ruhende Geschwätz wurde vor Jahren entwickelt und seitdem mantraartig von Regierungsmitgliedern und Staatspresse wiederholt - dagegen soll man argumentieren, wenn man es mit der Lautstärke hinbekommt."
Stichwörter: Ungarn, Norwegen, Corona