Magazinrundschau

Unsere geisterhafte Verfassung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.06.2021. Atlantic sucht bei den Amerikanern vergeblich nach gemeinsamen Werten. Auch Denik N vermisst einen Wertekompass bei den Tschechen. La vie des idees fragt, wie Irland sich säkularisieren kann, wenn an den Schulen weiter das katholische Wertesystem gilt. Peter Nadas denkt in Elet es Irodalom über Vor- und Nachteile der digitalen Fotografie nach. Die London Review fragt, warum Afrika so wenig interessiert ist an sich selbst. Der New Yorker ortet einen Gelbhaubenkakadu in einem Gemälde von Mantegna und überlegt, wie der australische Vogel dahin kam.

London Review of Books (UK), 01.07.2021

Die britische Journalistin Michela Wrong, die einst ein exzellentes Porträt von Kongos legendärem Kleptokraten Joseph Mobutu verfasste, widmet sich in ihrem neuen Buch "Do not Disturb" Paul Kagame, der sich nach dem Völkermord an den Tutsi als ewiger Machthaber in Ruanda installiert hat. Wrong verfolgt vor allem einen der zahlreichen politischen Morde, die Kagame an einstigen Weggefährten, Rivalen und Dissidenten in In- und Ausland hat ausführen lassen. Es muss ein hervorragendes Buch sein, doch am Ende seiner Besprechung fragt sich der britisch-nigerianische Adewale Maja-Pearce, warum Michela Wrong eigentlich nur westliche Quellen zitiert, Diplomaten oder Journalisten. Da erinnert er sich an seinen eigenen Besuch in Ruanda zu der Zeit, als die vertriebenen Hutu aus dem Kongo zurückkehrten: "Die Erinnerung an den Völkermord war noch frisch, und doch war kein einziges afrikanisches Medium anwesend. Kein Journalist aus Kenia war da, der Regionalmacht, keiner aus Nigeria, dem afrikanischen Giganten, und niemand aus dem gerade befreiten Südafrika. Hier sprach der Westen zu sich selbst. Ein Entwicklungshelfer erklärte Reportern: 'Gestern gab es fünf Tote. Das ist nicht viel, drei von ihnen waren unter fünf.' In Krisen wie diesen bleiben wir für uns selbst unsichtbar, wir schaffen es nicht, gegenüber unserem eigenen Kontinent und unserer eigenen Geschichte Zeugnis abzulegen. Wir sind Komplizen unserer geisterhaften Verfassung."

Susan Sontag sagte über Simone Weil, dass nicht unbedingt ihre Ideen selbst bewunderungswürdig seien, sondern vielmehr diee absolute Ernsthaftigkeit, mit der sie sich ihnen hingab. Toril Moi kann dem in ihrer Hommage auf die sozialrevolutionäre Mystikerin nur halb zustimmen: "Weil wollte ernstlich das Leiden anderer teilen. Als Lehrerin verbrachte sie einen Großteil ihrer Zeit mit Gewerkschaftsarbeit. 1934 bis 35 nahm sie eine Auszeit und arbeitete an einer syndikalistischen Analyse des Marxismus, die später als 'Unterdrückung und Freiheit' veröffentlicht wurde. Im Dezember begann sie am Fließband von Alsthom zu arbeiten, wo elektrische Maschinen gefertigt wurden. Die Arbeit war gefährlich, und sie wurde von den Vorarbeitern schikaniert. Da es ihr an Kraft und Gewandtheit mangelte, machte sie Fehler und konnte ihre Quoten nicht erfüllen. Nach einem Monat wurde sie krank und musste sechs Wochen aussetzen. Zur besseren Genesung schickten ihre Eltern sie in ein Sanatorium in die Schweiz. Sobald es ihr besser ging, kehrte sie in die Fabrik zurück, wo sie einen weiteren Monat überstand, bevor sie kündigte (oder gekündigt wurde). Danach fand sie Arbeit bei Carnaud, wo Gasmasken und Ölkännchen produziert wurden, auch da wurde sie nach wenigen Wochen entlassen. Dann wurde sie von Renault eingestellt, aber Ende August entlassen. Das Erleben von gefährlicher, körperlich erschöpfender und seelisch zermürbender Fabrikarbeit bildet den Hintergrund für ihre Schrift 'La condition ouvrière' - eine Sammlung von Tagebuchnotizen, Briefen und Essays -, in denen sie untersucht, wie der Kapitalismus Körper und Seelen der Arbeitenden zerstört. Als Hannah Arendt dies in den fünfziger Jahren las, meinte sie, es sei das Beste, was je zu diesem Thema geschrieben wurde."

Besprochen werden zudem Anne Sebbas Biografie der 1951 in den USA zum Tode verurteilten Sowjetspionin Ethel Rosenberg und David Storeys Memoir "A Stinging Delight".

Elet es Irodalom (Ungarn), 25.06.2021

Der Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas schreibt über die Nachteile der digitalen Fotografie und wie sie sich beim Schreiben doch als nützlich erweisen können. "Bei Digitalbildern ist es einerlei, ob die Lichtquelle künstlich oder natürlich ist. Der Unterschied wird lediglich als Farbe wahrgenommen. Einzig die Farbe des Gegenstandes zählt und was in der wahren Welt wodurch verfärbt wird, worauf es reflektiert oder durch welchen Lichtbruch es als Farbe entsteht, wo und wie es sich im Paradies der Farben befindet, ist beim Digitalen gleich. Auf dem digitalen Bild ist jegliches Drama dahin. Das digitale Fotografieren, ob es das weiß oder nicht, bildet ein Weltuniversum, in dem es mit Rorty gesagt keine Antwort gibt, denn es gibt auch keine Frage, es gibt keine Misere, denn es gibt kein Problem. (...) Wenn ich aber schon zwei Augen für die Raumsicht, sowie ein teures Smartphone habe, dann drücke ich halt manchmal auf den Auslöser. (...) Die Farben der Dunkelheit zum Beispiel werden wesentlich genauer erkannt, als das menschliche Auge es tut. Es sieht alles heller als das menschliche Auge. Vielleicht aus diesem Grund verträgt es die Kantenlichter nicht. (...) Man kann sagen, dass ich anfing mit den Schwächen der Konstruktion zu spielen. (...) Das Spiel mit den natürlichen menschlichen Schwächen wurde auch aus dem Grunde wichtig, weil ich gerade Gruselgeschichten schreibe und je gruseliger eine Geschichte ist, also je mehr sie aus den magischen und archaischen Schichten der menschlichen Seele stammt, umso mehr brauche ich beim Schreiben eine klare Sicht."

The Atlantic (USA), 01.08.2021

In einem Artikel des Magazins stellt George Packer fest, dass sich die Amerikaner nicht mehr auf gemeinsame Werte und Geschichte berufen mögen. Stattdessen hat das Versagen der Mittelklassendemokratie der Nachkriegsjahre laut Packer vier maßgebliche neue Narrative hervorgebracht, die sich aber nicht ohne Weiteres vereinen lassen: "Sie reagieren auf reale Probleme. Jedes von ihnen bietet einen Wert an, der den anderen fehlt und umgekehrt. 'Free America' feiert die unumschränkte Kraft des Individuums. 'Smart America' respektiert Intelligenz und möchte Veränderung. 'Real America' engagiert sich für einen Ort und verfügt über einen Sinn für Beschränkungen. 'Just America' fordert die Konfrontation mit dem, was die anderen zu vermeiden suchen. Die vier gründen in einer einzigen Gesellschaft, und sogar in einer so polarisierten wie der unseren formen, absorbieren und überschneiden sie ineinander. Doch zugleich neigen sie dazu, uns zu trennen und gegeneinander auszuspielen. Diese Spaltungen verkleinern jedes der Narrative in eine beschränkte und immer extremere Version seiner selbst. Alle vier Narrative sind außerdem von einem Statuswettbewerb angetrieben, der Angst und Ressentiments fördert und Gewinner und Verlierer hat. In 'Free America' sind die Macher die Gewinner und die Nehmer sind die Verlierer, die den Rest mit in die erstickende Abhängigkeit des Staates zwingen wollen. In 'Smart America' sind die ausgewiesenen Meritokraten die Gewinner, die Verlierer sind die schlecht Ausgebildeten, die sich gegen den Fortschritt stellen. In 'Real America' sind die hart arbeitenden Leute des weißen, christlichen Herzlandes die Gewinner, und eine verräterische Elite und andere, die das Land bedrohen, zählen zu den Verlierern. In 'Just America' sind die Gewinner die marginalisierten, die Verlierer die dominanten Gruppen, die die Macht nicht abgeben wollen. Ich möchte ungern in einer dieser Welten leben."

In einem weiteren Beitrag zeichnet Kaitlyn Tiffany die Firmengeschichte von Kodak nach: "Das Geschäftsmodell war einfach: Verteile zigmillionenfach billige Kameras, mitunter waren sie sogar gratis, und erschaffe eine lebenslange Kundschaft für das viel lukrativere Produkt des Films. Der Reichtum machte Kodak ehrgeizig. Man schuf das Filmformat für Hollywood, die Super-8-Technologie für den Homemovie-Markt, das System, um den Mond zu kartografieren, und Spionagekameras … 'Beweise es mit Kodak', 'Urlaub ohne Kodak ist vergeudeter Urlaub', 'Lass Kodak die Geschichte erzählen', gingen die Werbeslogans. 'Kodaking' wurde zum Verb, so wie 'Instagramming'."

Außerdem: Timothy McLaughlin und Rachel Cheung schreiben einen Nachruf auf das Tabloid Apple Daily, "aufrührerisch und sensationslüstern, feurig und unverschämt prodemokratisch", mit dessen Schließung durch die chinesischen Behörden die Pressefreiheit in Hongkong zu Ende geht. Und anlässlich von Laura Fairries Filmdoku "Lady Boss: The Jackie Collins Story" feiert Sophie Gilbert die britische Bestsellerautorin, die Frauen mit ihren Romanen wieder und wieder versichert hat, dass "ihre Lust und ihre Autonomie" so wichtig ist wie von jedem anderen.
Archiv: The Atlantic
Stichwörter: USA, Kodak, Pressefreiheit, Hongkong

Denik N (Tschechien), 29.06.2021

Der Publizist Jiří Pehe bedauert, dass die tschechische Regierung sich kurz vor dem EU-Gipfel nicht dem Brief der 17 Länder angeschlossen hat, der das neue ungarische Anti-LGBT-Gesetz verurteilt. "Babiš begründete das Zögern der Tschechischen Republik damit, dass man das Gesetz erst einmal genauer analysieren müsse. Was im Politsprech gewöhnlich bedeutet, dass wir nichts zu tun beabsichtigen." Für Jiří Pehe ein generelles Symptom: "In den fünfzehn Jahren nach Fall des Kommunismus hatte Tschechien den Ruf eines Landes, das zwar keinen Wertemaßstab in Form irgendeiner Religion oder starker Traditionen besitzt, aber doch einen starken Wertekompass, der für die Einhaltung von Menschenrechten auf der Welt stand. Seine Außenpolitik knüpfte an das Vermächtnis der Dissidenten aus der Zeit vor 1989 an. Doch nach dem Abtreten Václav Havels als Präsident ist der Kampf für Menschenrechte nach und nach abgeflaut und hat einem zynischen Pragmatismus Platz gemacht."
Archiv: Denik N
Stichwörter: Tschechien, Lgbt, Havel, Vaclav

La vie des idees (Frankreich), 25.06.2021

Die Republik Irland hat sich säkularisiert. Die Katholische Kirche, die praktisch mit dem Erziehungs- und Sozialsystem des Landes identisch war, hat durch die Missbrauchsskandale Autorität verloren. Die Historikerin Nathalie Sebbane belegt das durch viele Zahlen. Aber Irland lebt im Widerspruch. Auch wenn die Bevölkerung in Referenden mit großer Mehrheit der Schwulenehe zugestimmt hat - der größte Teil der Schulen bleibt katholisch, und "das Gewicht der religiösen Tradition bleibt stark. Ein Lehrplan für Beziehungs- und Sexualerziehung in katholischen Grundschulen, der jüngst veröffentlicht wurde, ist ein typisches Beispiel dafür. Das Dokument mit dem Titel 'Flourish' aus dem Frühjahr 2021 besteht darauf, dass Sexualerziehung nicht von einem katholischen Wertesystem getrennt werden kann, einschließlich der Idee, dass die Ehe heilig und nur zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts möglich ist. Jede andere Version der Ehe wird daher als illegitim angesehen. Der Text bekräftigt auch die Unterordnung der Sexualität unter das Sakrament der Ehe."

Magyar Narancs (Ungarn), 23.06.2021

Die Wochenzeitschrift Magyar Narancs kommentiert das skandalöse "Gesetz gegen Pädophile", das unter dem Vorwand des Kinderschutzes homo- und transsexuelle Menschen stigmatisiert und kriminalisiert, und die Reaktionen darauf: "Denn während die für die Dauer des Fußballspiels Ungarn gegen Deutschland auf das Münchener Rathaus gehängte Regenbogenfahne über die primäre Bedeutung hinaus lediglich soviel sagt, dass man mit der Diskriminierung von Homosexuellen in Ungarn nicht einverstanden ist, oder vielleicht 'Orbán ist ein Idiot', bedeutet die Unterstützung der Regenbogengemeinschaft durch Markus Söder, dass Viktor Orbán für ihn kein Partner ist - und dies kann in der Tat wehtun. Genau so wie die Wahrheit wehtun kann: nämlich, dass in Ungarn der Staat - sich auf den Schutz der Kinder berufend und Pädagogen mit Sanktionen bedrohend - die sexuelle Aufklärung in den Schulen beschnitten, einen bedeutenden Teil der Weltliteratur auf den Index verbannt und wiederholt eine Menschengruppe lediglich aufgrund ihrer sexuellen Identität stigmatisiert und kriminalisiert hat. (...) Die Schande kann nicht größer sein. (...) Doch der Protest erreichte, was so ein Protest erreichen kann, und eigentlich sogar mehr."
Archiv: Magyar Narancs

New Yorker (USA), 01.07.2021

Der australische Gelbhaubenkakadu. Ausschnitt aus Mantegnas "Madonna della Vittoria" von 1495.  

Wie kommt ein Gelbhaubenkakadu auf ein Gemälde Mantegnas (hier das ganze Bild)? Der Vogel hat sein Hauptvorkommen in Australien und einigen Inseln Indonesiens und belegt, dass es Handelsbeziehungen zwischen Europa und Gegenden gab, deren Namen man damals noch nicht mal kannte. Der Vogel thront über einer Madonna Mantegnas, die heute im Louvre hängt, und soll wohl auch den Reichtum seines Auftraggebers, des Herzogs von Gonzaga zeigen. Entdeckt hat den Vogel die Historikerin Heather Dalton, die in Melbourne lebt, und Rebecca Mead erzählt die Geschichte dieser Entdeckung. Dalton "hielt es für plausibel, dass der Papagei über das neunzig Meilen östlich gelegene Venedig nach Mantua gelangt war, wo Kaufleute Glas und Keramik exportierten und Luxusartikel einführten. In ihrem Aufsatz für die Zeitschrift Renaissance Studies bemerkte sie: 'Wohlhabende Bürger italienischer Stadtstaaten, die solche Waren kauften, wussten vielleicht ihre Seltenheit zu schätzen, verstanden aber wenig von ihrer geografischen Herkunft.' Waren, die auf venezianischen Märkten ankamen, hatten auf ihrer Reise viele Male den Besitzer gewechselt: 'Ein Papagei kann wie ein Kunstwerk eine ganze Reihe von Besitzern gehabt haben, während er nach Westen in Richtung Europa transportiert wurde.' Eine Handvoll italienischer Händler soll sich laut Dalton im 15. Jahrhundert bis nach Java und zu den Molukken vorgewagt haben, wo sie möglicherweise auf chinesische Kaufleute trafen, die auf bestehenden Handelsrouten noch weiter östlich unterwegs waren - und unterwegs einen prestigeträchtigen Papagei erbeuteten." Übrigens gab es schon im berühmten Falkenbuch des Stauferkönigs Friedrich II. aus dem 13. Jahrhundert einen solchen Kakadu.
Archiv: New Yorker