Magazinrundschau

Suche nach dem Sündenbock

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
16.04.2024. In Desk Russie fragt Sergej Lebedew, wann die russischen Interellektuellen anfangen wollen, die stalinistischen Verbrechen aufzuarbeiten. Im New Statesman sieht John Gray schwarz für den akademischen Betrieb. The Critic fragt, warum sich niemand für das Elend im Sudan interessiert. Quietus hört sich durch die elektronischen Subgenres südafrikanischer Popmusik. The Insider nimmt eine Unterrichtsstunde in der U-Bahn von Charkiw. Und der New Yorker lädt 27 verschiedene Blutlachen bei Quixel herunter.

Desk Russie (Frankreich), 15.04.2024

Der in Deutschland lebende russische Schriftsteller Sergej Lebedew schildert im Interview mit Andrej Archangelski, wie es die russischen Intellektuellen - sich selbst schließt er nicht aus - versäumten, die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen zu fordern. Bis heute, meinte er, sei keine "historische Verantwortung" übernommen worden, die sich für ihn in zwei Teile gliedert: "Erinnerung und Rechenschaft. In den letzten dreißig Jahren haben wir uns nur auf den ersten Teil konzentriert. Kaum jemand bei uns hat es gewagt, die Frage der Gerechtigkeit und der Rechenschaftspflicht aufzuwerfen." Die fehlende Aufarbeitung begünstigte eine Kontinuität der Gewalt und verhinderte, so Lebedew, dass Schuldige zur Rechenschaft gezogen wurden: "Das erinnert an die Debatten im frisch wiedervereinigten Deutschland der 1990er Jahre. Es ging um die Frage, was mit den Stasi-Unterlagen geschehen sollte. Damals hatten die Verantwortlichen in Westdeutschland große Angst, dass die Leute anfangen würden, ihre Rechnungen zu begleichen, wie Sie es nennen. (In Wirklichkeit geschah nichts dergleichen.) Übrigens hatte der KGB Ende der 1980er Jahre auf das gleiche Argument zurückgegriffen: 'Die Leute werden sich rächen wollen, wenn sie die ganze Wahrheit kennen.' Wenn das Argument des einen (Vermeidung einer sozialen Explosion) mit dem des Gegners übereinstimmt, sollte man meiner Meinung nach auf der Hut sein! Natürlich lag die eigentliche Ursache woanders. Ab den 1960er Jahren beruhte der gesamte Mechanismus der poststalinistischen Rehabilitierung genau auf der Vorstellung, dass die Repressionen auf eine Reihe individueller Justizexzesse zurückzuführen waren, dass sie nicht Ausdruck des kriminellen Charakters des sowjetischen Staates als solchem waren. Dieses Thema wurde in den 1980er Jahren von den Machtorganen wieder aufgegriffen. Die ersten Gedenktafeln für die Opfer von Repressionen wurden manchmal unter Beteiligung von KGB-Offizieren angebracht. Sie sagten: 'Ja, ja, das Gedenken ist sehr wichtig. Aber wir sind jetzt anders! Wir sind nicht mehr wie die alten Strafdienste. Vielmehr wurden auch unsere Kameraden Opfer von Repressionen."
Archiv: Desk Russie

Eurozine (Österreich), 15.04.2024

Reinhard Bingener und Markus Wehner, die Autoren des Buchs "Moskau Connection", unterhalten sich im Interview mit Kaja Puto (ursprünglich publiziert bei Krytyka Polityczna) über die Deutsche Wiedervereinigung, die russlandfreundliche Politik der SPD und warum man dringend darüber nachdenken sollte, ob es nicht Zeit für eine europäische Abschreckung ist. Bingener und Wehner erklären, wie es dazu kommen konnte, dass die SPD unter Gerhard Schröder ins "big buisness" mit russischen Gasexporteuren einstieg. Zunächst einmal, so Bingener, saß Schröder als Ministerpräsident von Niedersachsen im Aufsichtsrat von Unternehmen, die vom Handel mit Russland profitierten. Ein weiterer Grund liege in der Vorliebe Schröders für das "Macho-Buisness" - Geld, Luxus, Macht. Eine Freundschaft mit Putin konnte ihm das alles bieten: "Auf die Frage, was er für den KGB tue, antwortete Putin, er sei ein Experte für menschliche Beziehungen. In der Tat ist er darin sehr gut und lernt viel über das Objekt seines Interesses, sowohl die guten als auch die schlechten Seiten. Auch Putin stammt aus ärmlichen Verhältnissen, aus einem Leningrader Viertel mit - wie er sagt - Glasscherben. Wie Schröder hat er in seiner Jugend Sport getrieben und sich mit der kriminellen Szene herumgetrieben, bevor er den Weg in die Politik fand und an die Macht kam. Außerdem versteht es Putin, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie besonders wichtig sind. Er ließ Schröder wissen, dass er, Putin, viel von dem älteren und erfahreneren Politiker lernen könne. Er lud Schröder privat nach Moskau ein und sprach mit ihm ohne Dolmetscher auf Deutsch. Die Männer gingen gemeinsam in die Sauna, fuhren mit ihren Frauen Schlitten im Park, und zu Schröders sechzigstem Geburtstag brachte Putin einen Kosakenchor ins Theater nach Hannover, der die Niedersachsenhymne sang. Später vermittelte Putin seinem deutschen Freund sogar die Adoption zweier russischer Kinder. Schröder pflegte zu sagen, dass die deutsch-russischen Beziehungen tiefer geworden seien als je zuvor. Aber eigentlich waren es seine privaten Beziehungen."
Archiv: Eurozine

The Insider (Russland), 12.04.2024

Für The Insider begleitet Victoria Ponomareva eine ukrainische Klasse aus Charkiw, die jetzt nach einer langen Zeit des Online-Lernens wieder physisch zusammenkommt - in der U-Bahn. "Die Unterrichtsräume in der U-Bahn wurden in Servicebereichen eingerichtet, die sich über den eigentlichen Fahrgastbahnsteigen befinden. Im Inneren der Räume wurden schalldämpfende Materialien sowie Luftzirkulations- und Heizsysteme installiert. 'Wenn es im Klassenzimmer ruhig ist und die Kinder schreiben, kann man den Zuglärm hören, aber er ist fast nicht wahrnehmbar und stört niemanden', sagt Lehrerin Neelova. (...) Nach der zweiten Unterrichtsstunde des Tages erhalten die Schüler kostenlose Mahlzeiten - Lunchpakete mit Sandwiches, Gemüse, Obst und Säften. Außerdem gibt es an jeder U-Bahn-Station Wasserspender, Toiletten und ein medizinisches Büro. Anna Neelova sagt, dass die Kinder es in den U-Bahn-Klassen warm haben - sie ziehen alle ihre Mäntel aus. (...) Kinder und Lehrer erfahren durch Eltern von Granateneinschlägen. 'In solchen Fällen schreiben mir die Eltern, um mich vorzuwarnen. Einmal haben wir eine Stunde lang gewartet, aber in der U-Bahn gibt es immer etwas, womit die Kinder beschäftigt sind: mit ihnen spielen oder einen Film ansehen', sagt die Lehrerin."
Archiv: The Insider
Stichwörter: Ukraine, Charkiw

New Yorker (USA), 29.04.2024

Quixel ist eine Firma, die mithilfe von hundertfach wiederholten Scans hyperrealistische Hintergründe, Objekte, Landschaften und Texturen nicht nur für Computerspiele herstellt. Sie fungiert fast wie ein digitales Archiv unserer Zeit und zeichnet unter anderem verantwortlich für Fortnite, gleichzeitig Spiel und sozialer Treffpunkt, in dem neben Live-Konzerten und Comedy-Auftritten auch das Holocaust-Museum simuliert wird, erzählt Anna Wiener. "Die Firma verfügt mittlerweile über einen enormen Online-Marktplatz, auf dem Digitalkünstler Scans von Requisiten und anderen Umgebungselementen teilen und downloaden können: Eine Banane, ein Knubbel, ein Büschel Seegras, Thaikorallen, ein bisschen Pferdemist. Eine kuratierte Auswahl dieser Elemente unter dem Titel 'Abattoir' beinhaltet eine Handvoll rostiger und beschmutzter Schränke, Ketten und Kisten, sowie 27 verschiedene Blutlachen (Pfütze, Archipel, Blutspritzer, die aus mit hoher Geschwindigkeit abgegebenen Schüssen resultieren). Das 'Medieval Banquet' bietet, neben anderen Kleinigkeiten, eine aggressiv geröstete Steckrübe, etliche Lammrippchen, hölzerne Becher und diverse Schweinefleischpasteten in verschiedenen Größen und Stadien der Verwesung. Die Scans sind detalliert genug, dass mich eine starke Übelkeit überrollt hat, als ich ein geröstetes Ferkel - die Haut ledern vor Hitze und gerissen - näher beschaute." Aber nicht nur zur Ekelerzeugung kann die Technik von Quixel genutzt werden: "Die gleichen Methoden wurden genutzt, um verschwindende Aspekte der analogen Welt festzuhalten. Kurz nachdem Russland 2022 die Ukraine überfallen hatte, hat Virtue Worldwide, eine Werbefirma, begonnen, an 'Backup Ukraine' zu arbeiten, einer Werbekampagne für UNESCO und Polycam, eine Fotogrammetie-Firma. Die Kampagne hat Freiwillige dazu aufgerufen, digitale Abbildungen von Antiquitäten, Denkmälern und Alltagsgegenständen anzufertigen, die bedroht waren, inklusive Skulpturen, antiken Büsten und Grabsteinen. ('Wie rettest du das, was du nicht physisch beschützen kannst?', fragte die Kampagne.) Die ursprüngliche Idee war, die Abbildungen als Blaupausen für zukünftige Rekonstruktionen zu nutzen, wenn es nötig werden sollte. Ein professionelles Team von Scannern hat millimetergenaue Modelle von Kirchen in Kiew und Lwiw kreiert - aber die Leute haben auch Scans von Alltagsgegenständen aus ihrem eigenen Leben hochgeladen. Neben Modellen von einem explodierten Panzer, einem ausgebrannten Auto und zerstörten Wohngebäuden gibt es auch Abbildungen einer Yoda-Figur und ausgetretener Chucks."

Außerdem: Dhruv Khullar erklärt, wie man bei guter Gesundheit stirbt. Alex Ross fragt: Was ist Lärm? Gideon Lewis-Kraus eruiert den Entwicklungsstand von fliegenden Autos. Manvier Singh liest Kelly Weills Buch über Fake News, "Off the Edge: Flat Earthers, Conspiracy Culture, and Why People Will Believe Anything". Amanda Petrusich hört Pop von Olivia Rodrigo. Maggie Doherty stellt den Dichter Delmore Schwartz vor. Jennifer Wilson liest zwei Romane über die Beziehung eines Menschen zu einem Roboter. Justin Chang sah im Kino Alex Garlands "Civil War" mit Kirsten Dunst. Jackson Arn besucht im Blanton Museum of Art in Austin die Anni-Albers-Ausstellung "In Thread and On Paper", die sich die Frage stellt, warum Albers irgendwann Weben gegen Druck tauschte - ein Moment, den Arn mit Dylans Schwenk auf die elektrische Gitarre vergleicht. Lesen darf man außerdem die Story "Late Love" von Joyce Carol Oates.
Archiv: New Yorker

Fathom (Großbritannien), 01.04.2024

Mitchell Cohen war einst Redakteur der gemäßigt linken New Yorker Zeitschrift Dissent und bekennt sich zu sozialdemokratischen Ideen. Jüngst legte er ein Buch zur "Politik der Oper" vor. Er publizierte in der Vergangenheit auch zu den Themen Zionismus und Israel und hat 2007 in Dissent einen prophetischen Artikel über den neu aufblühenden linken Antisemitismus publiziert. Nun spricht er mit der Redaktion von Fathom erneut über dieses Thema - im grellen Licht des 7. Oktober und der Folgen. Dabei macht er zwei Dinge klar: Man konnte immer ein Linker sein, ohne Mord schön zu reden, auch etwa in Zeiten des Stalinismus. Und die israelische Rechte hat ein riesiges Stück Mitverantwortung am heutigen Schlamassel, wobei gegen eilfertige "Kontextualisierungen" festzuhalten ist: "So wie die 'white supremacy' und das Gift der Theorie vom 'großen Austausch' nicht Schuld der Afroamerikaner sind, sondern Ausdruck des Rassismus, so ist auch der Antisemitismus, einschließlich der antizionistischen Variante, nicht auf die bösen Juden und Zionisten zurückzuführen, sondern auf Vorurteile." Im grassierenden linken Antisemitismus erkennt Cohen Pathologien der westlichen Linken in der Stalin-Zeit wieder: Man bemäntelt "kognitive Dissonanzen", um sich seine "theoretischen Mythen" nicht kaputt machen zu lassen. Der von der Linken heute vergottete "globale Süden" spielt dabei eine ganz eigene Rolle, die Cohen an Südafrika exemplifiziert: "Widerstand gegen Imperialismus und Kolonialismus war schon immer Teil jedes moralisch intelligenten linken Programms und sollte es auch sein. Die Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg war von weltgeschichtlicher Bedeutung. Sie gipfelte in vieler Hinsicht in Nelson Mandelas heldenhafter Führung der Befreiung Südafrikas von der Apartheid. Doch drei Jahrzehnte später befindet sich die von ihm geführte Partei in einem miserablen Zustand, wie auch Südafrika insgesamt, und ihr droht der Niedergang bei den Wahlen. Also versucht sie, sich zum moralischen Anführer des 'Globalen Südens' zu machen und beschuldigt Israel des Völkermords und der Apartheid, will aber Russlands Invasion in der Ukraine nicht verurteilen. Das ist Suche nach dem Sündenbock und hat überall, auch bei der westlichen Linken, große Unterstützung gefunden."
Archiv: Fathom
Stichwörter: Linker Antisemitismus

New Statesman (UK), 15.04.2024

Ziemlich schwarz sieht John Gray für die Zukunft des akademischen Betriebs. Seine Klage über gleichgeschalteten "progressive doublespeak" ist geläufig und nicht allzu originell. Interessanter ist, dass er seine Kritik nicht auf eine ideologische, sondern auf eine ökonomische These hin zuspitzt: "Die aufgeblähte und in ideologische Geiselhaft genommene akademische Sphäre mag sich nicht für die Realität interessieren, aber die Realität interessiert sich für sie. Die finanziellen Grundlagen des Hochschulwesens sind zunehmend unsolide. Ein Teil der Branche steht vor dem finanziellen Kollaps und große Teile könnten von geopolitischen Krisen getroffen werden. Wenn der Konflikt mit China eskaliert und Beijing den Zufluss an Studenten rapide drosselt, werden zweitrangige Universitäten zusammenbrechen, genau wie es der Immobilienbranche während der globalen Finanzkrise erging. Da die finanziellen Mittel der Staaten des Westens bis aufs Äußerste ausgereizt sind, wird es kein Bailout geben, ganz egal welche Partei an der Macht ist. Die Universität hat sich am Modell des Marktes ausgerichtet, aber es gibt immer weniger Märkte für die Studenten, die sie rekrutiert. Altmodische Humanities-Studiengänge der Art, die nun nicht mehr erwünscht ist, haben kognitive Fähigkeiten trainiert, die in einer großen Anzahl von Tätigkeiten nützlich sein könnten. Belehrung in progressive doublespeak bereiten hochverschuldete Studenten auf Jobs als Baristas und Kuriere vor, Arbeiten, die bald von KI-geleiteten Robotern übernommen werden könnten."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 12.04.2024

Der Dichter und Kulturmanager Renátó Fehér spricht im Interview mit Nikolett Antal unter anderem über die Rolle der Technologie in unserem Leben, die wiederum von den Intellektuellen zumindest bewusst gemacht werden sollte: "Es beschäftigt mich sehr, was das kapitalistische Spitzenprodukt unserer Zeit - das, was wir als soziale Medien bezeichnen - mit uns gemacht hat. Was es mit unseren Gemeinschaften, unserer Psyche, unserem Selbstverständnis und unserer Kommunikation macht. Nirgendwo sonst kann die Desinformationskriegsführung so gut funktionieren wie in den sozialen Medien, sei es bei Kriegen, Epidemien oder was auch immer. Der andere Aspekt ist, dass plötzlich die öffentliche Sphäre über uns zusammengebrochen ist: Was ich teile, halte ich für von öffentlichem Interesse, auch wenn es sehr persönlich ist. Es ist eine Atomisierungs- und Fluchtstrategie. Wir erschaffen unseren Avatar und beginnen, uns mit ihm zu identifizieren. Wir machen aus unserem eigenen Leben eine Truman-Show, während um uns herum Jumanji stattfindet. Es ist ein unbewusster Lifestyle-Deal."
Stichwörter: Feher, Renato, Soziale Medien

The Critic (UK), 13.04.2024

William Fear fragt sich, warum der Krieg im Sudan die Weltöffentlichkeit so gar nicht interessiert, obwohl die Milizen der Rapid Support Forces (RSF) Millionen Menschen vertrieben haben und an der Volksgruppe der Masalit einen regelrechten Völkermord verüben. Klar ist, dass die Vereinigten Arabischen Emirate eine aktive Rolle in der Unterstützung der RSF spielen und dass die USA mit den Emiraten verbündet sind. Aber ist das alles? "Niemand hängt sudanesische Flaggen ins Fenster oder boykottiert den Tourismus in den VAE als Folge des Konflikts. Schwer zu sagen, warum genau. Einige spekulieren, dass dies auf die historische Distanz zwischen dem Westen und dem Sudan zurückzuführen ist. Wenn Menschen gegen Israels Einmarsch in den Gazastreifen protestieren, verweisen viele auf die kollektive Rolle des Westens bei der Gründung Israels, das britische Weltreich und den Verkauf von Waffen aus westlicher Produktion an die IDF. All dies trifft natürlich auch auf den Konflikt im Sudan zu, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Der Sudan war einst eine britische Kolonie. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate kaufen Waffen aus dem Vereinigten Königreich. Wenn wir eine Verantwortung haben, uns um Palästina zu kümmern, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns um den Sudan zu kümmern."
Archiv: The Critic
Stichwörter: Sudan

iTvar (Tschechien), 15.04.2024

Die tschechische Literaturzeitschrift Tvar widmet ihr aktuelles Heft der ukrainischen Stadt Lwiw/Lemberg - dem einst vielsprachigen multikulturellen Zentrum und Mythos des Habsburger Reiches - in den gegenwärtigen Zeiten des Krieges. Die ukrainische Übersetzerin und Kulturmanagerin Sofia Tscheljak berichtet in ihrer Reportage, wie die Stadt eine zaghafte neue Bedeutung gewinnt. "Noch vor zwei Jahren hätte ich auf die Frage 'Erzählen Sie uns vom kulturellen Leben in Lwiw' geantwortet, dass es keines gibt." Kultur bedeutete: in Theatergebäuden Unterschlupfe für Flüchtlinge einzurichten und Sammlungen von Thermounterwäsche zu organisieren. Dann kehrte man vorsichtig zu konventionellen Kulturformaten zurück, um den Flüchtlingen ein wenig Zerstreuung zu bieten, und veranstaltete Versteigerungen ukrainischer Kunst, um die Armee zu finanzieren. "Aber es war unmöglich geworden, ein Buch zu lesen oder einen ganzen Film anzusehen, wollte man doch nichts von der Nachrichtenlage verpassen (…) Die Veranstaltung eines Literaturfestivals erschien völlig undenkbar." Dann fand im Oktober 2022 doch eines statt, und in erweiterter Form im Jahr 2023. Im ersten Jahr erlebten die ausländischen Teilnehmer kurz vor ihrer Abreise aus Kiew noch intensive Bombardements. "Die Erfahrungen, die sie in Kiew an einem einzigen Vormittag machten, waren intensiver, als wir es geplant hatten. So konnten sie als Augenzeugen Zeugnis abzulegen." Tscheljak berichtet auch von zahlreichen Beerdigungen und dem Versuch, durch bewusste Gedenkrituale gegen das Vergessen anzugehen. Im Jahr 2024 nun "dachte ich über all die Ausstellungen und neuen Kunstzentren nach, die in Lwiw seit Beginn der umfassenden Invasion eröffnet wurden, über die Künstler, die gezwungenermaßen in die Stadt kamen, sich aber entschlossen haben zu bleiben, über die neuen Restaurants, Literaturlesungen und Bibliotheksvorträge. Vor zwei Jahren konnten wir von etwas Ähnlichem - so vielen Kulturveranstaltungen - nur träumen. Inzwischen ist Lwiw eine Stadt in privilegierter geografischer Lage, aber die Kultur lebt im ganzen Land wieder auf".
Archiv: iTvar
Stichwörter: Lwiw, Lemberg, Ukraine-Krieg

Quietus (UK), 10.04.2024

Wer die avancierteren Areale moderner populärer Musik verstehen will, muss den Einfluss jüngerer südafrikanischer Musik darauf zur Kenntnis nehmen, ruft Lior Phillips: Nicht nur findet sich heute südafrikanische Musik in den Billboard-Charts, sondern namhafte Künstler des globalen Nordens arbeiten auch ähnlich selbstverständlich mit Musikern aus Südafrika zusammen. "Der Zusammenfluss all dessen lässt sich in 'amapiano' und 'gqom' finden, unterschiedlich akzentuierte elektronische Subgenres, auf die man heute genauso wahrscheinlich in Boiler-Room-Mixes trifft wie in Rap-Beats. ... Dieser Entwicklung fügen südfafrikanische Rapper nun eine weitere Ebene hinzu: Sie bilden ein eigenes neues Subgerne, in dem sich Elemente dieser Stilrichtungen mit einem weiteren Import fusionieren: Drill. Dieser Rapstil entstand ursprünglich in Chicago und wurde mit seiner niedrigen, an den Nerven zerrenden BPM-Zahl, seinem verzerrten Bass, seinen Hi-Hats aus dem Trap und prägnanten Textzeilen rasch populär. Von Brookly bis Brixton entstanden Außenposten. Als Genre, das die harten Alltagsrealitäten junger Schwarzer in den Blick nimmt, bedeutet es für Südafrika einfach nur den nächsten logischen Schritt: Das Land steht noch immer im teuflischen Schatten der Apartheid. ... Jedes Element südafrikanischer Kultur besteht aus zusammengewürfelten Teilen: 12 offizielle Sprachen, zahlreiche weitere Stammeskulturen, ein tiefe und reiche Geschichte inklusive das erschreckende Gespenst der ethnischen Unterdrückung. Und selbst jenseits der wahrnehmbaren Unterschiede zwischen Sprachen und Aussprachen, schlagen sich die verschiedenen rhythmischen und melodischen Stammestraditionen mehr oder weniger ausgeprägt über Genregrenzen hinweg nieder. Und doch lassen sich Fäden ausmachen, die zahlreiche Schneisen der jüngeren Musik in diesem Land bündeln, insbesondere was den internationalen Aufstieg von Genres wie 'amapiano' und 'gqom' betrifft. Dasselbe gilt auch für Drill. Schon zeigen sich eindeutige Verbindungen, etwa im dahinjagenden Schlagzeug. Aber einige Künstler wagen sich weiter hinaus und befasen sich mehr und mehr mit dem jazzigen Synthie-Sound und der luftigen Produktion von 'amapiano' oder mit den klaustrophobischen rhythmischen Loops von 'gqcom', um eine ganz eigene Interpretation von 'Drill' zu schaffen." Klangbeispiele liefert Phillips auch zuhauf, darunter dieser Track von icebOy, dessen Sound mitunter "Portale ins All" öffnet.



Außerdem finden wir bei The Quietus ein großes Gespräch mit den Einstürzenden Neubauten, die mit "Rampen" gerade ein neues Album veröffentlicht haben. Blixa Bargeld ist um markige Sprüche mal wieder nicht velegen: "In einem anderen Sonnensystem wären die Einstürzenden Neubauten wohl so berühmt wie die Beatles in unserem."
Archiv: Quietus