Magazinrundschau

Gott hat mich zu Q geführt

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.05.2020. The Atlantic bringt eine tolle Reportage zu Verschwörungstheorien und ihren Fans. In Eurozine erzählt Enda O'Doherty vom herzlichen Hass zwischen den politischen Parteien Irlands. Der New Yorker sucht im Iran den Nachfolger von Ali Chamenei. Wired gruselt sich vor einer chinesischen Stimmmuster-Datenbank. Der Guardian gruselt sich vor einer westlichen Public-Private-Partnership zwecks Massenüberwachungen. Richtig geweint wird nur im Cinéma d'Auteur, behauptet La Regle du jeu. Elet es Irodalom geißelt den "Vulgärschmittismus" Viktor Orbans.

The Atlantic (USA), 30.06.2020

Wenn man nur einen Text über Verschwörungstheoretiker lesen will, dann sollte es dieser sein. Reporterin Adrienne LaFrance zeigt am Beispiel von QAnon, einem anonymen Nutzer des inzwischen geschlossenen Messengerboards 4chan, wie sich Verschwörungstheorien ausbreiten. Q erweckte den Anschein, zum Geheimdienst zu gehören und schuf mit meist kryptischen religiösen Botschaften eine große Anhängerschaft. Diese Fans sind bunt gemischt, von rechts bis links, manche einsam, andere Wichtigtuer, sie sind Apokalyptiker, religiöse Irre oder einfach nur Irre. Gemeinsam ist ihnen eine Enthemmtheit, wie sie eine sehr nette Frau namens Lorrie Shock an den Tag legt. Shock arbeitet mit behinderten Kindern, außerdem ist sie tief religiös und Trump-Anhängerin: "Ich sollte aber verstehen, dass es bei ihrer Besessenheit von Q nicht um Trump ging. Das war etwas, worüber sie anfangs nur widerwillig gesprochen hatte. Jetzt sagte sie: 'Ich habe das Gefühl, dass Gott mich zu Q geführt hat. Ich habe wirklich das Gefühl, dass Gott mich in diese Richtung gedrängt hat. Ich habe das Gefühl, wenn es trügerisch wäre, würde Gott mir sagen: Genug ist genug. Aber ich fühle das nicht. Ich habe gebetet: Vater, sollte ich meine Zeit damit verschwenden? ... Und ich fühle nicht das Gefühl Du solltest damit aufhören.'" Zugleich lernt man aber auch, wie von Trump abwärts Politiker diese Verschwörungstheorien zum eigenen Nutzen weiterverbreiten: "Laut einer Online-Zählung der progressiven gemeinnützigen Organisation Media Matters for America haben sich mindestens 35 derzeitige oder ehemalige Kongresskandidaten für Q ausgesprochen. Diese Kandidaten haben entweder QAnon in der Öffentlichkeit direkt gelobt oder sich zustimmend auf QAnon-Slogans bezogen. (Ein republikanischer Kandidat für den Kongress, Matthew Lusk aus Florida, behandelt QAnon unter der Rubrik 'Themen' auf seiner Wahlkampf-Website und stellt die Frage: 'Wer ist Q?'" Vor allem aber bezieht sich der höchste Mann im Staat, Donald Trump, immer wieder auf Q. "Drei Tage bevor die Weltgesundheitsorganisation das Coronavirus offiziell zur Pandemie erklärte, twitterte Trump ein Mem mit dem QAnon-Thema. 'Wer weiß, was das bedeutet, aber für mich klingt es gut', schrieb der Präsident am 8. März und teilte ein mit Photoshop bearbeitetes Bild von sich selbst, wie er eine Geige spielt, mit den Worten 'Nichts kann das Kommende aufhalten'", eine Phrase, so LaFrance, die Q immer wieder benutzt.

Wie plump und bösartig Verschwörungstheorien genutzt werden, kann man sehr gut auch an dieser Geschichte in der FR über Donald Trump Junior sehen, der dem Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, Joe Biden, ohne jeden Anhaltspunkt Pädophilie unterstellt. "Auch eine Verschwörungstheorie der diffusen rechten Gruppierung namens QAnon* findet bei Trump Junior immer wieder Anklang", schreibt Daniel Dillmann. "Laut QAnon betreiben die Clintons gemeinsam mit weiteren demokratischen Führungspersönlichkeiten einen Kinderpornoring in Washington. Der Menschenhandel erfolge laut der Theorie aus dem Keller einer Pizzeria, die in der US-amerikanischen Hauptstadt beheimatet ist. Deshalb ist die Geschichte unter dem Namen 'Pizzagate' bekannt geworden. Es gibt bis heute kein Indiz für die Wahrheit dieses Mythos. Bislang gibt es auch keine Hinweise auf pädophile Neigungen von Joe Biden. Donald Trump Junior scheint weder das eine noch das andere zu stören."
Archiv: The Atlantic

Eurozine (Österreich), 18.05.2020

Ein Land muss nicht groß sein, um eine überaus komplizierte Geschichte zu haben, in der es eine Menge politischer Fraktionen gibt, die einander in herzlichem Hass verbunden sind. In bewundernswerter Trockenheit, aber dennoch die ganze Zeit spannend erzählt Enda O'Doherty, ehemaliger Redakteur der Irish Times, im Grunde die ganze irische Geschichte der letzten hundert Jahre, um zu erklären, wie es in den letzten Wahlen in der Republik Irland zu einem so großen Erfolg von Sinn Féin kommen konnte. Sinn Féin ist jetzt im Dáil Éireann, dem Parlament in Dublin, die stärkste Partei, wird aber wohl kaum an die Regierung kommen. Erstmals könnten die beiden "Bürgerkriegsparteien" Fianna Fáil und Fine Gael mit ein paar weiteren Kräften koalieren. Diejenige Partei, die in der Außensicht eigentlich den Namen "Bürgerkriegspartei" verdient, also Sinn Féin, ist für die Republik so etwas wie ein Auffangbecken für die Frustrierten, so O'Doherty, spielt also die Rolle der Rechtspopulisten, ist dabei aber "links". Was den Norden angeht, bleibt sie aber unversöhnlich: "Die Politik von Sinn Féin gegenüber den Protestanten im Norden seit dem Abkommenm von Belfast war weniger eine Politik der 'ausgestreckten Hand' als eine Strategie der Spannung. In der Tat könnte man sagen, dass für Sinn Féin Politik in Nordirland auf die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln hinausläuft: Da mit den Protestanten kein sinnvoller Kompromiss erzielt werden kann, kann man auch alles tun, um sie zu besiegen. Darum drängt man im Moment auf ein baldiges Referendum zur irischen Wiedervereinigung, eine Strategie, die viele als potenziell gefährlich ansehen: Könnten Elemente innerhalb einer in die Enge getriebenen Community nicht zur Gewalt zurückkehren?"
Archiv: Eurozine

Wired (USA), 18.05.2020

Schon alleine, weil sich die chinesischen Sprachen kaum sinngemäß in lateinische Buchstaben übertragen lassen und die Tipparbeit am Computer in China daher eine erhebliche Last darstellt, gab es dort von Anfang an einen erheblichen Bedarf für intelligente Lösungen zur Spracherkennung, erklärt Mara Hvistendahl in einer ausführlichen Firmen- und Softwaregeschichte. Heutzutage läuft ein erheblicher Teil der alltäglichen digitalen Kommunikation bereits via Spracherkennung und das wiederum weckt Begehrlichkeiten bei der chinesischen Regierung - zumal sich Audio lange Zeit deutlich weniger leicht überwachen und gegebenenfalls zensieren ließ als geschriebener Text: "Doch der Kommunistischen Partei Chinas geht es anscheinend um mehr als Zensur. 'Stimm- und Videodaten zu sammeln kann dabei helfen, Menschen und Netzwerke zu identifizieren. Wie sie sprechen, was ihnen wichtig ist und welche Trends sich abzeichnen', sagt Samantha Hoffman, eine Analystin beim Australian Strategic Policy Institute's Cyber Centre in Canberra. Die chinesische Firma iFlytek hat ein System patentiert, das es gestattet, riesige Mengen an Audio und Video zu durchforsten, die kopiert oder repostet wurden - Teil einer Operation, die das Patent als 'sehr wichtig für die Informationssicherheit und den Überblick über die öffentliche Meinung' einschätzt. iFlytek erklärt, dass 'die Analyse von Audio- und Videodaten eine Vielzahl verschiedener Anwendungen ermöglicht, darunter etwa, populäre Lieder zu identifizieren und Spam-Anrufer ausfindig zu machen.' Aber iFlytek ermöglicht auch Security-Arbeit. 2012 kaufte das Innenministerium auf intelligente Stimmtechnologie spezialisierte Geräte von iFlytek. Das Ministerium wählte die Anhui-Provinz, wo das iFlytek-Hauptquartier liegt, als Ort für ein Pilot-Projekt aus, um eine Stimmmuster-Datenbank zu erstellen - ein Katalog voller einzigartiger Stimmen der Bevölkerung, der es den Behörden gestatten würde, die Sprecher allein am Klang ihrer Stimme zu identifizieren."

Weiteres: In einem langen, sehr langen, wirklich sehr, sehr langen Longread erzählt Andy Greenberg die Geschichte des Hackers Marcus Hutchins, der im Mai 2017 das Internet vor der WannaCry-Ransomware-Attacke rettete. Zum Dank hat ihn das FBI erst einmal eingesperrt.

Archiv: Wired

Magyar Narancs (Ungarn), 16.04.2020

In einem redaktionellen Beitrag versucht die Wochenzeitschrift Magyar Narancs Hintergründe einer Entscheidung aus der Pandemiezeit nachzuvollziehen, wonach den Mitarbeitern staatlicher Kulturinstitutionen wie Archiven, Bibliotheken, Museen usw. (mit Ausnahme des umstrittenen Veritas Instituts) der Angestelltenstatus entzogen wurde: "Etwas ist im Kopfe Orbáns entstanden - vielleicht dass in seiner 'Workfare-Gesellschaft' kein Arbeitsplatz eine soziale Absicherung verdient, denn jeder kann sich für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anmelden, und so kann der öffentliche Angestelltenstatus aufgehoben werden - und seine Untertanen versuchen passend hierzu einen rechtlichen Rahmen zu fabrizieren."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Kulturinstitutionen

Guardian (UK), 18.05.2020

Bisher gab es in den USA noch Bedenken gegen Telegesundheit, Online-Unterricht und Smart Cities, aber die Geschwindigkeit, mit der jetzt Google und Co. die Pandemie für sich nutzen, macht sogar Naomi Klein fassungslos. Gerade hat New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo Googles ehemaligem Chef Eric Schmidt grünes Licht für eine Art Screen New Deal gegeben, den Schmidt schon seit Monaten in einschlägigen Lobby-Zirkeln vorantreibt: "Herzstück dieser Vision bildet die nahtlose Integration der Regierung mit einer Handvoll Giganten des Silicon Valley - mit dem Ziel, das öffentliche Schulen, Krankenhäuser, Arztpraxen, Polizei und Militär allesamt - zu einem hohen Preis - einen Großteil ihrer Kernaufgaben an private Tech-Firmen ausgliedern sollen... Das Electronic Privacy Information Center (Epic) gelangte kürzlich dank einer Anfrage über den Freedom of Information Act an die Folien, die Schmidt bei einem solchen Treffen präsentierte. Diese Folien stellen einige alarmierende Behauptungen darüber auf, wie in China lockere Regulierung und eine maßlose Überwachung dazu geführt hätten, dass das Land die USA in mehreren Bereichen überholt habe: bei 'Künstlicher Intelligenz in der Medizin', selbstfahrenden Autos, digitaler Infrastruktur, Smart Cities, Ride-Sharing und bargeldlosem Handel. Für Chinas Vorsprung gibt es Myriaden von Gründen, zu ihnen zählen die schiere Masse der Konsumenten, die online kaufen;  das Fehlen eines traditionellen Bankensektors in China, was dem Land erlaubte, Bargeld und Kreditkarten zu überspringen und einen 'riesigen E-Kommerz und digitalen Dienstleistungsmarkt' zu entfesseln, auf dem digital gezahlt wird; ein gravierender Arztmangel, der die Regierung dazu brachte, eng mit Tech-Firmen wie Tencent zusammenzuarbeiten, um KI für die medizinische Prognostik zu nutzen. Schmidts Folien bemerken, dass es Tech-Firmen in China mit Behörden zu tun haben, die ihnen schnell regulatorische Hindernisse aus dem Weg räumen, während amerikanische Initiativen von Gesundheitsschutz und Arzneimittelüberwachung aufgehalten würden. Vor allem aber erklärt sich Schmidt Chinas Vorsprung mit der Bereitschaft zu Public-Private-Partnership bei Massenüberwachung und Datensammeln. Die Präsentation preist die 'explizite Unterstützung der Regierung und ihr Engagement in der Gesichtserkennung'. Und sie erklärt, dass 'die Überwachungsindustrie eine der ersten und besten Kunden für KI' sei. Und: 'Massenüberwachung ist eine Killer-App für maschinelles Lernen."
Archiv: Guardian

El Pais Semanal (Spanien), 17.05.2020

Alma Guillermoprieto, die Grande Dame der lateinamerikanischen Reportage, präsentiert ein großes El País-Dossier zur Corona-Pandemie in Lateinamerika: "Was mich am wütendsten macht, ist all die verlorene Mühe! Wir besiedeln eineinhalb Kontinente, von der Wüste um Ciudad Juárez an der Grenze zu den USA bis zum nebligen Ushuaia, das so nah an der Antarktis liegt, wie kein anderer bewohnter Ort dieser Welt. Wir sind ein vielfarbiges Universum über 600 Millionen Anstrengungen gewohnter, fortschrittshungriger, zum Großteil mit einer unbegreiflichen Neigung zur guten Laune ausgestatteter Menschen. Wir überleben Wirtschaften, die langsam anwachsen, um erneut in Abgründen der Ungleichheit und Inflation zu versinken. Wir kämpfen seit mehr als zweihundert Jahren für Gleichheit und Demokratie - die Diktaturen lösen einander ab, und dennoch ist der Drang nach Veränderungen nie ganz erloschen. Millionen von Familien schuften hier wie Ameisen und sparen, um eine Wohnung abzuzahlen oder das Geld für die Studienkosten des ersten Familienmitglieds aufzubringen, das es an die Universität schafft. Und all diese jahrelangen Anstrengungen und Kämpfe lässt die blindwütige Macht eines Virus innerhalb weniger Wochen verschwinden wie ein Schwamm, der eine Tafel wischt. Denn vom Verlust menschlicher Leben einmal abgesehen, erwartet uns der Kollaps der Industrien, Geschäfte und Familienunternehmen dieser Region, die schon davor in einem schwierigen wirtschaftlichen Abstieg begriffen war, von Nicht-so-besonders zu Noch-viel-schlimmer. Ich muss an ein kleines indisch-afrikanisch-libanesisch-englisch-mexikanisches Restaurant in meinem früheren Viertel in México Ciudad denken, das zweimal täglich einer Handvoll Gästen teure exotische Gerichte servierte, oder an ein kleines Lokal nur zwei Straßen weiter, das seit Jahren bescheidene Mittagsmenüs anbot. Was wird aus ihnen werden, wenn monatelang kein Geld in ihre Kassen kommt? Oder aus den Bauern, die mühsam Bio-Kaffee für gehobene Ansprüche produzieren, jetzt, wo die neue Klasse von Leuten mit gehobenen Ansprüchen selbst verzweifelt nach Rettung sucht, weil ihre Kunstgalerien, Werbeagenturen oder Investmentfonds untergehen?" Im Folgenden überaus lesenswerte Reportagen aus El Salvador, Kolumbien, Argentinien, Brasilien, Venezuela, Chile, Nicaragua, Mexiko und von der amerikanisch-mexikanischen Grenze."
Archiv: El Pais Semanal

La regle du jeu (Frankreich), 14.05.2020

Diesen Artikel sollten Filmhochschulen für didaktische Zwecke unbedingt übersetzen. Konziser lässt sich der Unterschied zwischen der Ästhetik der modernen Serien, wie sie nach den "Sopranos" entstanden, und dem Autorenfilm französischer (aber auch italienischer und deutscher) Prägung nicht beschreiben, als es der Filmkritiker Jean-François Pigoullié hier tut. Dass er von den Cahiers du Cinéma kommt, merkt man seinen Vorlieben an, aber zum Glück nicht seinem Schreiben, das auf alle Schwurbelei verzichtet. Denn wider Willen und trotz aller Bewunderung für die neuen Formate, die die Arbeitsteilung Hollywoods für das intime Medium des Streaming neu deklinieren, kann er nicht umhin, die Überlegenheit des Cinéma d'Auteur zu verfechten. Es erzählt die Welt nicht, es zeigt sie, es ist die Wahrheit, 24mal die Sekunde. Es lässt die Schauspieler sie selbst sein, schreibt er: "Von allen Symptomen, an denen man den Wert des Spiels messen kann, hat eines der triftigsten mit den Tränen zu tun. Was sieht man, wenn ein Schauspieler oder eine Schauspielerin in einer Serie weint, in den meisten Fällen? Aus dem Auge, das sich nicht erst mit Tränen füllt, rinnt ein Tropfen und läuft das Gesicht entlang, das von keiner tiefen Emotion gezeichnet ist. Zwischen diesen Kinotränen und jenen in den Augen der Kinoheldinnen des Cinéma d'Auteur (die Brüder Dardenne, Kéchiche), ist ein tiefer Kontrast. Selten findet man in Serien Schauspieler, deren Spiel dieselbe emotionale Wucht hat." Fragt sich nur, warum nicht auch Serien mit den Mitteln der Nouvelle Vague entstehen können. ein Beispiel nennt Pigoullié: "P'tit Quinquin" von Bruno Dumont.
Archiv: La regle du jeu

London Review of Books (UK), 21.05.2020

Vielleicht überzieht Priyamvada Gopal ein wenig, wenn sie in ihrer Geschichte "Insurgent Empire" jedes Aufbegehren gegen das britische Empire rückwirkend als antikolonialistische Rebellion deutet, meint Adom Getachew in einer sehr lesenswerten Besprechung des Buches. Viele Dissidenten - James Williams, Dadabhai Naoroji und selbst Marcus Garvey - forderten, als britische Bürger und nach britischem Recht behandelt zu werden. Aber stark sei, wie sie eine andere Vorstellung herausfordert: "Gopal geht es weniger darum, wie die Untertanen in den Kolonien das Empire verhandelten, ablehnten oder für sich beanspruchten, als vielmehr darum, wie die Krise des Empires auch in den Metropolen Widerspruch erzeugte. Sie widerspricht der Vorstellung, dass der antikolonialen Widerstand britischen Freiheitsideen entsprang. Das 'abgenutzte Caliban-Modell', demzufolge der Sklave die Sklaverei in der Sprache seines Herren ablehnt, verstärkt ein Geschichtsbild, nach dem das britische Empire Kredit für seine eigene Auflösung beanspruchen kann. Dieser Mythos erwürgte und erstickte die britische Politik, argumentierte auch schon der (karibische Kulturtheoretiker) C.L.R. James: Die Neugestaltung der Beziehungen innerhalb des Empire sei durch die anhaltende Unfähigkeit der kolonialen Klasse vereitelt worden, sich auch nur vorzustellen, dass irgendetwas, was in den Kolonien passiert, 'die Menschen in den fortgeschrittenen Ländern inspirieren oder klüger machen könnte'."

Weitere Artikel: Eric Foner nimmt die Ungerechtigkeiten des amerikanischen Wahlsystems unter die Lupe. Andrew O'Hagan schreibt über Robert Louis Stevenson.

Novinky.cz (Tschechien), 13.05.2020

Hart ins Gericht geht die tschechische Literaturwissenschaftlerin Eva Klíčová in einem Essay mit Tschechiens Autorinnen, von deren Seite kein Beitrag zur MeToo-Auseinandersetzung komme, (die in Tschechien sowieso praktisch nicht stattgefunden habe), sondern die im Gegenteil oft noch ein stereotypes Frauenbild zementierten. In populären Frauenromanen findet Klíčová allerorten Selbstvorwürfe von vergewaltigten Heldinnen, etwa bei Barbara Nesvadbová ("Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee kommen konnte, mich von niemandem begleiten zu lassen." - "Mein Rock war so kurz, dass er ihn mir nicht mal runterreißen musste"), wo die Vergewaltigung innerhalb der Geschichte die Funktion hat, eine verwirrte junge Frau wieder auf den rechten Weg zu bringen; oder bei Irena Hejdová, wo die dicke, unattraktive Protagonistin im Grunde froh sein muss, dass sich noch ein männliches Wesen für sie interessiert. Aber selbst in der höherwertigen Literatur findet Klíčová zu wenig weibliche Selbstermächtigung. In ihrem Erzählband "Wahnsinnig traurige Geschichten" entwerfe die Schriftstellerin Tereza Boučková ihre Protagonistin, die von ihrem Mann verlassene Marta, als Archetyp der verwünschten Prinzessin, deren schlummernde Weiblichkeit nicht von einem Prinzen, sondern einem sexuellen Raubtier befreit wird - freilich nicht nur mit einem Kuss. Im Kohlenkeller von einem fremden, stinkenden Kerl vergewaltigt, fühlt sie sich zunächst verwundet, erniedrigt und schmutzig, um dann schließlich ein ganz neues Selbstbewusstsein als Frau zu entdecken und sich entsprechend zu kleiden und zu schminken. Die Aussage, so Klíčová, ist klar: "Eine Frau, die nicht 'sexy' ist, ist keine richtige Frau, genauso wenig wie eine, die keinen Sex mit einem Mann hat. (…) Das alles ist natürlich 'nur' Literatur. Aber es sind auch starre Regeln, anhand deren wir verschiedene Situationen bewerten. Dass man in diesem toxischen Ambiente sexuelle Übergriffe oder Missbrauch zu melden wagt, ist nahezu nicht vorstellbar." Und tatsächlich würden Schätzungen nach in Tschechien überhaupt nur acht Prozent der Vergewaltigungen gemeldet.
Archiv: Novinky.cz

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.05.2020

Mitte April gab der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk dem Spiegel ein Interview, in dem er im Bezug auf das ungarische Notstandsgesetzes sagte, dass Carl Schmitt stolz wäre auf Viktor Orbán, wobei Tusk diese Aussage nicht weiter ausführte. Es entstand eine Empörungswelle in der ungarischen Politik und bei den angeschlossenen Medien. In Élet és Irodalom geht jetzt der Jurist und Historiker Péter Techet der Frage nach, was Tusk gemeint haben könnte: "Bei Schmitt ist Demokratie nicht parlamentarisch, sondern charismatisch. Der Wille des Führers und des Volkes können sich nur dann treffen, wenn dieses Volk homogen ist - profaner: wenn dieses Volk nichts anderes will als dessen Führer." Das "System der nationalen Zusammenarbeit", als das Orban seine Regierungsform beschreibt, beruhe "auf folgendem Vulgärschmittismus: die Feinde sind direkt unter uns 'lieben Freunden', und wenn wir eine wahre Demokratie sein wollen, müssen wir sie zunächst ausschließen (in der Terminologie von Carl Schmitt: 'wir müssen sie vernichten'). Wenn Tusk das meinte, als er sagte, dass Schmitt stolz auf Orbán wäre, dann ist das eine sehr starke Behauptung, denn hier geht es nicht um die Abstemplung als Nazi - sondern darum zu verstehen, was das Orbansche Versprechen der 'illiberalen Demokratie' bedeutet. In diesem Falle aber haben die Journalisten des Spiegel vergessen zu fragen: seit wann und wie lange haben die vulgarisierten Ansichten von Carl Schmitts einen Platz in der Europäischen Volkspartei, der Tusk vorsteht... Oder mit Schmitt gefragt: Wer ist der Souverän in der Europäischen Volkspartei?"

New Yorker (USA), 25.05.2020

Für die aktuelle Ausgabe des Magazins begibt sich Dexter Filkins ins Innere des Iran, um herauszufinden, was geschieht, wenn Ali Chamenei abtritt: "Chameneis erste Wahl wird sein Sohn Modschtaba sein, Geistlicher in Teheran. In den vergangenen Jahren hat Chamenei ihm mehr Macht in der Regierung zugeteilt. Aber viele Iraner glauben, dass die Revolutionsgarden nach Chameneis Abtreten an der Suche nach einem neuen Anführer beteiligt sein werden. Manche halten es für möglich, dass die Garden die totale Herrschaft fordern werden. Einige frühere Befehlshaber haben bereits wichtige politische Positionen übernommen. 'Die Garden werden nicht auf einen Schlag übernehmen, es ist ein langsamer Prozess', meint ein Beobachter vom Institut der arabischen Staaten. Die meisten, mit denen ich sprach, glauben, die Garden werden eine Fassade klerikaler Herrschaft aufrechterhalten … Die Corona-Krise hat den Einfluss der Garden verstärkt. Im März gab Chameinei ihnen die Vollmacht, das Virus einzudämmen, seitdem haben sie zehntausende Truppen im ganzen Land stationiert … Ein Zuständiger aus dem Gesundheitsministerium erklärt: 'Die Garden sind entschlossen, jeden Schaden, der durch Chameneis Entscheidungen in der Sache entsteht, dem Präsidenten und dem Gesundheitsministerium anzulasten.' Westliche Beobachter glauben, dass die Offiziere der Garden bestrebt sind, den Status quo zu erhalten, von dem sie bisher profitiert haben. Es sieht aus, als würde der Iran nur noch konservativer werden. Vor den Parlamentswahlen im Februar schlossen Justiz und Klerus 7000 Kandidaten, die Hälfte aller Bewerber, aus, unter ihnen 90 derzeitige Mitglieder des Parlaments, darunter auch Konservative. 'Einige waren wohl korrupt, andere nicht loyal genug', schätzt ein westlicher Beobachter aus der Region. Dennoch gibt es Iraner, die innerhalb der Garden Kräfte sehen, die das Land näher an China binden wollen: strikte Politik, ein freierer Markt … Eine Regierung der Technokraten, nicht der Kleriker und Generäle, die mehr Rede- und Kleidungsfreiheit ermöglichen, um die Mittelklasse anzulocken."

Weitere Artikel: Amanda Petrusich stellt das neue Album der tollen Singersongwriterin Phoebe Bridgers vor. Margaret Talbot denkt über die Kompetenzen von Community Labs nach, die der Industrie den Schneid abkaufen. Brooke Jarvis empfiehlt Literatur über Aale. Anthony Lane sieht Seuchenfilme. Alex Ross ist dankbar für gestreamte Konzerte. Und Nicholas Lehman liest Walter Johnsons Buch "The Broken Heart of America: St. Louis and the Violent History of the United States", das die Sklaverei als Grundstein des Kapitalismus beschreibt.
Archiv: New Yorker