Magazinrundschau

Die Mutter der Metissage

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
07.01.2020. Die NYT fragt, welche Folgen der Brexit für Nordirland haben wird. Respekt rehabilitiert das "Prager Kaffeehaus". Wer Veränderungen verstehen will, findet das Rüstzeug dazu in der Kultur, erkennt der Merkur. Selbst die Mafia hat ein paar nützliche Kulturtechniken entwickelt, meint Elet es Irodalom mit Blick auf Greta Thunberg. Die LRB feiert ihre sechs Prozent Neanderthal-DNA. Atlantic sucht nach positiven Rollenbildern für Jungs. En attendant Nadeau versinkt im geheimen Büro der Erinnung von Lydia Tschukowskajas und Anna Achmatowa. Die NYRB liegt zu Füßen der schillernden Alma Mahler. Der New Yorker warnt vor einem Kalten Krieg zwischen den USA und China.

London Review of Books (UK), 02.01.2020

Francis Gooding liest mit angehaltenem Atem Tim Flannerys Frühgeschichte Europas, die bis in die Kreidezeit zurückreicht, als der Kontinent ein Archipel und von Dinosaurier bevölkert war. Ein paar Meteoriteneinschläge, Temperaturschwankungen und Kontinentdrehungen später entwickelten sich die Neanderthaler, von denen wir so wenig wissen, obwohl sie etwa in der Höhle von Bruniquel faszinierende Steinkreise hinterließen: "Unsere nächsten Verwandten, und die letzte andere menschliche Spezies, mit der wir den Planeten teilten, sind uns noch immer ein 'tiefes Rätsel', schreibt Flannery. Nach ihrer Auslöschung in Westeuropa vor ungefähr 39.000 Jahren waren wir allein.' Was ist mit ihnen passiert? Es gibt wenig konkrete Beweise, aber wie auch bei den Miniaturelephanten des Mittelmeers lautet die Antwort wahrscheinlich, dass ihnen der Homo Sapiens passierte. Vielleicht gab es Konkurrenz um Nahrung und Habitat, vielleicht Krankheiten oder Krieg und Vernichtung. Außer Zweifel steht, dass es enge Kontakte zwischen beiden Spezies gab, denn was auch sonst geschehen sein mag, wir wissen, dass es erfolgreiche Kreuzungen gab. Tatsächlich scheint es, als wäre eine hybride Bevölkerung aus der Sapiens-Neanderthaler-Vereinigung hervorgegangen, die die ursprünglichen Neanderthaler ersetzte. Fossile menschliche Überreste aus ganz Europa legen nahe, dass in den ersten 25.000 Jahren der menschlichen Besiedelung alle Europäer auf diese ersten Hybride zurückgeführt werden können und ungefähr sechs Prozent Neanderthal-DNA in sich tragen. Flannery nennt sie 'Bastarde' und fragt sich, ob Wissenschaftler, hätte es sie damals gegeben, 'Europäer als eine neue hybride Spezies klassifiziert hätten'. Hybridität, Immigration, Transformation: Das natürliche Europa ist für Flannery am stabilsten in seiner Wandelbarkeit, am reinsten in seiner Gemischtheit. Es ist die Mutter der Metissage, ein Schmelztiegel der Kreuzungen, in dem Frösche, Elefanten, Vögel, Huftiere, Menschen und andere sich erfolgreich mit ihren nahen Verwandten mischten."

Die Tories konspirieren langsam, aber handeln schnell, lernt David Runciman von Charles Moore, der nun den dritten Teil seiner Margaret-Thatcher-Biografie vorlegt, in dem es vor allem um den Sturz der britischen Premierministerin ging. Ihr eigenes Kabinett drängte sie zum Rücktritt, um Michael Heseltine Parteirevolte zu ersticken und stattdessen John Major als Premier zu installieren: "Es war, wie Moore es ausdrückt, 'eine Verschwörung in der Tradition des Tory-Establishments - hier entschloss sich nicht ein kleiner Kreis von Extremisten zum politische Mord, sondern ein größerer, locker Verbundener Männerclub wollte an seinen Gewohnheiten festhalten'. Sie litten unter ihrer unaufhörlichen Kampfeslust und ihrem Appetit auf Veränderung. Schlimmer noch, sie glaubten, dass sie unter Thatcher niemals die Chance bekämen, die Dinge auf ihre Art zu erledigen. Eineinhalb Jahre später standen Wahlen an, und wenn sie die verlöre, verbrächten sie die beste Zeit ihres politischen Lebens in der Opposition. Andererseits stünden, wenn Heseltine gewänne, die meisten von ihnen völlig im Regen. 'Die Stammesältesten, aber eigentlich auch die führenden jungen Parteimitglieder, wollten ein ruhiges Leben und ein gemeinsames Fortkommen. Sie arbeiteten dafür im Geheimen, diskret und ohne leninistische Klarheit in Bezug auf die Mittel.' Thatcher betrachtete dies später als 'Verrat - mit einem Lächeln im Gesicht'. So sahen sie es gewiss nicht, auch wenn sich viele von ihnen schuldig fühlten. Sie glaubten einfach, dass das Spiel manchmal so gespielt werden müsste."

Magyar Narancs (Ungarn), 19.12.2019

Der Opernregisseur Balázs Kovalik inszeniert im Budapester Örkény Theater das letzte Drama des im vergangenen Jahr tragisch verstorbenen János Térey. Im Interview mit Jozsef Kling spricht er über den gesellschaftlichen Auftrag des Theaters, dessen Begrenzung er auch in politisch unruhigen Zeiten deutlich sieht: "Man kann nicht alles vom Theaten erwarten, denn es wird nur von einer schmalen Schicht der Gesellschaft besucht, vor allem von jenen, die bereits eine Alternative zur Massenkultur suchen. Die gegenwärtige Formsprache des Theaters sowie die Themenwahl spiegeln den Bedarf dieser Schichten. Das verantwortungsvolle Theater kann lediglich soviel tun, indem es anspruchsvoll und auf hohem Niveau seinen Standpunkt formuliert. Wenn es damit das Interesse der Massen weckt, wird der Bedarf steigen, andernfalls besuchen es nur einige hundert Menschen Abend für Abend."
Archiv: Magyar Narancs

En attendant Nadeau (Frankreich), 28.12.2019

Nathan Altman: Anna Achmatowa (1914)


Im Jahr 2015 brachte der heroische Dörlemann-Verlag den Roman "Untertauchen" der hierzulande fast unbekannten Autorin Lydia Tschukowskaja heraus. Das Werk wurde überall besprochen, aber hatte es den Erfolg, den es verdiente? Der kleine französische Verlag Le Bruit du Temps könnte Dörlemann nun zu einer weiteren Tollkühnheit inspirieren, die Übersetzung aller Gespräche mit Anna Achmatowa, die Tschukowskaja über Jahre und Jahre getreulich aufzeichnete und die überhaupt erst ein Licht auf das Werk Achmatowas und die Bedingungen seiner Entstehung werfen. Im Französischen hat der Band, hier besprochen von Christian Mouze, über 1.200 Seiten: "Wir werden Zeuge eines erstaunlichen Spiels von immerwährendem Aufbau und vorübergehender Zerstörung: Achmatowa schreibt und verbrennt dann sofort ihre Gedichte, die Lydia auswendig gelernt hat. Tisch, Blätter, Streichhölzer und Aschenbecher bilden die Elemente eines geheimen Büros der Erinnerung. Ein ebensolches Erstaunen lösen die Gespräche aus, als die beiden in der etwas friedlicheren Periode, die dem Tod Stalins und dem Geheimbericht des 20. Parteitags (1953 und 56) folgt, mit Geduld die Wörter zusammensetzen, die sie aus dem Gedächtnis verloren haben (es kann Monate dauern, bis zwei Verse wiedervereint sind), aus Gedichten, die sie nun endlich schreiben und mit Vorsicht aufheben können, auch wenn es noch nicht möglich ist, sie zu publizieren. So rekonstruiert und vollendet sich, mit zwei Erinnerungen zu vier Händen, das lyrische Werk Anna Achmatowas, so wie wir es heute lesen können."

Bei France Culture ist ein einstündiges Gespräch mit der französischen Übersetzerin Sophie Benech über diesen von ihr herausgebrachten Band zu hören:

New Yorker (USA), 13.01.2020

Für einen Beitrag des neuen Hefts blickt Evan Osnos in die Zukunft der Beziehungen zwischen den USA und China, die in einen neuen Kalten Krieg zu fallen drohen. "Chinesische Führer sind alarmiert von der amerikanischen Unterstützung für Volksaufstände weltweit - zuerst die 'Farben-Revolutionen' im ehemaligen Sowjetblock und dann der arabische Frühling - und sie verübeln Amerikas Bemühungen, seinen Einfluss in Asien zu vertiefen. Seit November 2011 erweiterte Obama die militärische Präsenz Amerikas in Australien und arbeitete am Aufbau des Trans-Pacific Partnership, einem Handelsabkommen zwischen zwölf Nationen - China gehörte nicht dazu. 'China sah das als einen Versuch, es auszuschließen', sagt Herausgeber Deng Yuwen. 'All diese Dinge schienen aus verschiedenen Perspektiven auf China zu zielen - wirtschaftlich, geopolitisch und militärisch.' Xi glaubt, dass ein orthodoxes Bekenntnis zum Kommunismus von größter Wichtigkeit ist, während sein Land den westlichen Einfluss abwehrt. In einer Rede in 2013 fragte er: 'Warum brach die sowjetische kommunistische Partei zusammen?' Seine Antwort: 'Ihre Ideale und Überzeugungen schwankten.' Peking propagiert seitdem eine ideologische Wiederbelebung. ... Zensoren reinigen das Internet Tag für Tag von subversiven Ideen, und Gesichtserkennungstechnologien verfolgen das Kommen und Gehen der Menschen. Unter Xi sind die Marktreformen ins Stocken geraten, und die Schulen haben Bücher westlicher Ökonomen durch Traktate des Marxistischen Theorie Forschungs- und Bauprojekts ersetzt. Einige Parteieliten fragen sich, ob Deng Xiaopings Offenheit zu weit gegangen ist. 'Während die Partei zu der Idee zurückkehrt, dass ihre absolute Macht das Einzige ist, was zwischen China und dem Chaos steht, werden die Vereinigten Staaten und die Umarmung der Märkte zunehmend als Feind gesehen', meint der Yale-Historiker Odd Arne Westad."

Außerdem: Joshua Rothman wägt Arten der Gleichberechtigung gegeneinander ab. Ariel Levy fragt, ob nicht erst der Schmerz uns menschlich macht. Giles Harvey las das neue Buch von Javier Cercas, "Lord of All the Dead". Alex Ross hörte Alban Bergs "Wozzeck" in der Inszenierung von William Kentridge an der Met. Und Anthony Lane sah Ladj Lys Film "Les Misérables" im Kino.
Archiv: New Yorker

Respekt (Tschechien), 06.01.2020

Erik Tabery geht der Herkunft des Schimpfworts "Prager Kaffeehaus" (pražská kavárna) nach, das in Tschechien durch Präsident Miloš Zeman und populistische Medien wieder eifrig in Gebrauch gekommen ist: "Bisher dachte ich immer, dass der Begriff seine Wurzeln in der kommunistischen Ära habe. In der damaligen Propaganda wurde häufig versucht, intellektuelle Müßiggänger als Gegenstück zum hart arbeitenden Volk darzustellen, sodass es nicht schwer war, diesen absurden Feldzug in der Gegenwart wieder neu aufzuwärmen. Es gibt immer noch genug Leute, die sich daran erinnern, weshalb der tschechische Präsident und nationalistische Medien mit dem Terminus operieren." Bei seinen Recherchen zu einem Artikel über Karel Čapek entdeckte Tabery jedoch, dass die Herkunft weiter zurückreicht und aus dem entgegengesetzten politischen Spektrum stammt. Nicht kommunistische, sondern rechtskonservative Presseorgane, häufig aus der Provinz (etwa landwirtschaftliche Zeitungen) versuchten schon Anfang der dreißiger Jahre, linke städtische Intellektuelle (wie Karel Čapek) mit diesem Begriff zu diskreditieren. Die derzeitige verächtliche Verwendung des Worts stehe also in einer langen Tradition, so Tabery. "Das eigentlich so nicht existierende Kaffeehausmilieu soll als Schreckgespenst fungieren. Die Kinder hat man vom Teufel abgeschreckt, die Erwachsenen vom Kaffeehaus. Was das 'Prager Kaffeehaus' der Ersten Republik betrifft, mag es tröstlich sein, dass es später zu einem Pfeiler der tschechischen Kultur und Gesellschaft wurde, während seine Kritiker der Vergessenheit anheimfielen."
Archiv: Respekt
Stichwörter: Tschechien, Kaffeehaus

The Atlantic (USA), 01.01.2020

In der Titelgeschichte macht sich Peggy Orenstein Sorgen um die Seele des männlichen US-Teenagers und fordert neue und bessere Rollenmodelle für die armen Kerle. Denn während der Feminismus Mädchen Alternativen zu einem traditionellen Frauenbild anbietet, gibt es für Jungs eigentlich kein Äquivalent. Und der Druck, einem konventionellen Männlichkeitsbild zu entsprechen, ist nach wie vor riesig: "Zwei Jahre lang habe ich mit jungen Männern zwischen 16 und 21 über Männlichkeit, Sex und Liebe gesprochen, über die sicht- und unsichtbaren Kräfte, die sie zu Männern machen. Sie kamen aus allen möglichen ethnischen Gruppen, gingen aber alle auf die Universität, einfach, weil es diese jungen Männer sein werden, die künftig die kulturellen Normen setzen. Fast jeder von ihnen hatte egalitäre Ansichten über Mädchen und hielt sie für smart, kompetent und verdienterweise an ihrem Platz auf der Uni. Sie alle hatten weibliche, die meisten auch homosexuelle Freunde. Ganz anders als vor 50, 40, vielleicht sogar 20 Jahren. Sie kannten die Männlichkeitsexzesse wie Schießereien, häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung. Vergewaltigungen auf dem Campus, Twitter-Ausraster … Gefragt nach den Attributen des 'idealen Mannes' fallen dieselben Jungs jedoch zurück ins Jahr 1955. Dominanz, Aggression, gutes Aussehen (Größe vor allem), sexuelle Potenz, Gleichmut, Sportlichkeit, Wohlstand.  ... Ein Drittel von ihnen fühlte den Zwang, Gefühle zu unterdrücken, 'ein Mann zu sein', wenn sie traurig oder ängstlich waren, und mehr als 40 Prozent waren der Meinung, die Gesellschaft erwarte von ihnen kämpferisches Auftreten, wann immer sie zornig seien. ... Wenn ich fragte, was sie am Jungssein mochten, fiel ihnen nichts ein. 'Uff', meinte einer, 'interessante Frage. Habe ich nie drüber nachgedacht. Normalerweise hört man nur, was falsch daran ist.'"

Weitere Artikel: Wil S. Hylton fürchtet die Folgen der rücksichtslosen Ausbeutung und Verschmutzung der Meere - vor allem was den geplanten Abbau von Bodenschätzen in der Tiefsee angeht. Und Adam Hochschild erklärt am Beispiel des Königlichen Museums für Zentralafrika bei Brüssel die Probleme, die entstehen, wenn man ein Museum dekolonisieren will.
Archiv: The Atlantic

Merkur (Deutschland), 06.01.2020

Heute wird Kultur oft als Gegenpol zur Migration gesetzt, als wäre sie das verlässlich Bleibende gegenüber dem stetig unzuverlässigen Wandel. Doch aus dem Blickwinkel der Deep History ergibt sich für den Wissenschaftsphilosophen Oliver Schlaudt eine ganz anderes Bild: Erst die Migration hat den frühen Menschen abgenötigt und ermöglicht, sich einen Vorrat an Techniken anzueignen, mit dem sie auf Veränderungen reagieren kann: "Das Rätsel, wie sich der Mensch in seiner langen Migrationsgeschichte neue Habitate erschließen konnte, löst sich nun auf. Mit dem Auftauchen von Kultur begegnen die frühen Menschen der Natur nicht mehr einfach mit einem unveränderbaren Organismus (beziehungsweise einem Organismus, der sich nur auf der unendlich langsamen Skala der Evolution verändert), sondern durch eine variable Kultur. Mit den schneidenden Kanten steinerner Abschläge, die bereits vor über drei Millionen Jahren auftreten, wurden große Tierkadaver als Nahrungsquelle zugänglich. Mit den - sehr viel jüngeren - Jagdwaffen war der Mensch nicht mehr darauf angewiesen, Aas zu finden oder Raubtiere von ihrer Beute zu vertreiben, sondern konnte nun selbst jagen. Auch mit dem Feuer vermochten Menschen sich als Nahrungsquelle zu erschließen, was vormals unerreichbar oder wertlos war. Die Kultur bildet einen Puffer zwischen dem menschlichen Organismus und seiner Umwelt. Sie transformiert die ökologische in eine kulturelle Nische."
Archiv: Merkur

Tablet (USA), 05.01.2020

Jacob Siegel porträtiert die New Yorkerin Devorah Halberstam, die 1994 bei einem frühen islamistischen Terroranschlag in New York ihren 16 Jahre alten Sohn verlor. Halberstam kanalisierte ihre Trauer und verbiss sich in den sich damals schon abzeichnenden islamistischen Terror und dessen zentrale antisemitische Komponente - auch aus Trotz, weil sie die Erklärung der Behörden, der Attentäter sei lediglich ein durchgeknallter Massenmörder gewesen, nicht gelten lassen wollte. Binnen kurzer Zeit mauserte sie sich zur Expertin und Warnerin. "Wenige nahmen Halberstam ernst - bis zum 11. September 2001. Nach all den Jahren, die sie damit zugebracht hatte, das System kennenzulernen, während sie gegenüber Regierungsbeamten Lobbyarbeit leistete, mit ihnen plauderte, sie in die moralische Pflicht nahm und beriet, zementierte der Anschlag auf die Twin Towers ihre Reputation. Sie wurde New Yorks exzentrische, einheimische Expertin für die Schnittstelle zwischen Strafjustiz und Terrorismusbekämpfung. Die städtische und Staatspolizei engagierten sie für Seminare, das FBI lud sie zu Vorträgen ein und Bürgermeister Rudy Giuliani, die New Yorker Senatoren Daniel Patrick Moynihan und Al D'Amato, sowie Governeur George Pataki unterstützten ihre Anliegen. Nach den jüngsten Anschlägen in Jersey City war es Devorah Halberstam, die der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio bei einer Pressekonferenz an seine Seite rief, vielleicht auch um seine nachlassende Glaubwürdigkeit zu stärken."
Archiv: Tablet

New York Review of Books (USA), 16.01.2020

Cathleen Schine taucht in die biografischen Tiefen der schillernden Alma Mahler und führt ihre unwiderstehliche Wirkungskraft auf die unzähligen Künstler ihrer Zeit en détail aus. Allumfassend beschreibt sie das Bild einer ausgesprochen begabten Frau, die für "Kunst und Musik, Genie und Sex" glühte, sich aber letztlich nie aus ihrer Rolle als Muse befreien konnte. Dabei diente sie bekanntlich nicht nur einem Genie: "Alma gab (ihrem Liebhaber) Walter Gropius den Laufpass, gerührt von der neu auflebenden Hingabe ihres Ehemanns Gustav Mahler und überzeugt davon, dass Gustav sich ohne sie in den Tod stürzen würde. Gustav schrieb ihr Liebesgedichte, bedeckte ihre Pantoffeln mit Küssen, begann aufs Neue ihre Musik zu hören und flehte sie an, die Arbeit an ihren Kompositionen fortzusetzen. Für Alma, die zweifellos talentiert war und deren Stücke noch heute bewundert werden, markierte dieser Lebensabschnitt ihr künstlerisches Talent, vor allem aber ihre Rolle als Muse für die Künstler ihrer Zeit. Ihre Tochter Anna berichtet: 'Wenn Alma durch die Tür trat, war der Raum elektrisch geladen. Sie war eine wahnsinnig leidenschaftliche Frau, schenkte ihren Zeitgenossen ungeteilte Aufmerksamkeit und regte sie in ihrem Schaffen an. Sie besaß die außergewöhnliche Gabe, Menschen innerhalb von Sekunden zu verzaubern.' Albrecht Joseph, später Annas fünfter Ehemann, den die 'schäbige' Erscheinung der heiß begehrten Verführerin zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung im Jahr 1931 sehr verwunderte, beschrieb ihre einzigartige Gabe damit, 'ein allumfassendes Verständnis davon zu besitzen, wonach die Künstler ihrer Zeit strebten und sie darin wachsen zu lassen.' Die Intensität, mit der sie an ihrem Glauben an den Künstler als Genie festhielt, wirkte auf ihre Zeitgenossen nahezu gewaltsam anziehend. Gustav konnte, wie die anderen Liebhaber Mahlers, sein künstlerisches Schaffen nicht mehr ohne Alma Mahler denken."

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.01.2020

Der junge Schauspieler-Regisseur Péter Valcz erklärt im Gespräch mit Maja Varga, welche Bedeutung Greta Thunberg für das Gegenwartstheater hat: "Vonnegut sagt, dass es nicht stimmt, dass das Gute nicht über das Böse siegen könne, nur müssten sich die Engel organisieren wie die Mafia. Greta Thunberg hat mit der Organisation begonnen und wir werden mit wunderbar provokativen Fragen konfrontiert, die lauten: Warum Wissenschaft, wenn man ihr nicht glaubt? Was treibt Politiker an? Gibt es wahre Selbstbestimmung? (...) Ob sich Theaterschaffende damit beschäftigen müssen? Selbstverständlich. Genau das ist ja mein Problem, dass ein Theaterabend vergehen kann, ohne dass etwas (mit mir) passiert. Bewegungen entstehen, weil es gesellschaftlichen Bedarf dafür gibt. Greta Thunberg ist ein Katalysator. Eine gute Inszenierung trifft beim Zuschauer genau so einen Punkt, der dann eine ernsthafte Reaktion auslöst. Sicherlich gibt es erklärendes, beruhigendes, zum Lachen bringendes Theater, doch es wäre sehr wichtig, dass das Theater erneut Kontakt zu den Menschen aufnimmt, denn der Elitismus ist langweilig."

New York Times (USA), 05.01.2020

In der aktuellen Ausgabe des Magazins fragt James Angelos, ob der Brexit in Nordirland alte Fronten aufreißen könnte: "In Nordirland kocht der Brexit ein besonders brisantes Gebräu auf. Konfessionelle Spannungen sind seit dem 17. Jahrhundert an der Tagesordnung, seit König James die Migration protestantischer Siedler von Schottland und England in die nordirische Provinz Ulster anregte, wo sie besondere Privilegien bekamen. Ein Gesetz des britischen Parlaments aus der Zeit des irischen Unabhängigkeitskrieges führte zu Irlands Teilung und zu einer protestantischen Mehrheit in Nordirland. Beschwerden der Katholiken über Diskriminierung heizte Feindseligkeiten an, die sich in einem Krieg niederschlugen. Bis zum 'Good Friday Agreement' wurden 3600 Menschen getötet und Zehntausende verletzt. Der Friedensvertrag schuf eine Regierung, die auf Teilung der Macht basierte, aber führte nicht zu wirklicher Versöhnung. Momentan sind die beiden größten Parteien in der nordirischen Nationalversammlung Sinn Fein, einst der politische Arm der I.R.A., und die sozialkonservative D.U.P., die für die Vereinigung mit Großbritannien eintritt. Der Graben zwischen den beiden ist so tief, dass die Versammlung seit drei Jahren nicht komplett einberufen wurde. Viele von den konfessionellen Kämpfen erschöpfte Nordiren orientieren sich inzwischen anders, erkennbar am Erfolg der konfessionsübergreifenden Alliance Party. Im Alltag ist der Graben dennoch spürbar, beim Fußball, in der Sprache … Doch die Meinungen über den Brexit verlaufen entlang der konfessionellen Linien. 60 Prozent der Protestanten in Nordirland wählten dafür, 85 Prozent der Katholoiken dagegen."
Archiv: New York Times