Magazinrundschau

Die Liebe, die wir gegeben haben

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.01.2019. Der New Yorker bewundert den Beitrag des Cantopop zur Demokratiebewegung in China. The New Republic staunt über die Biografie Jackie Chans, das krasse Gegenteil eines Schneeflöckchens. HVG deutet das Zeichen, das mit der Entfernung der Statue Imre Nagys vor dem Parlament gesetzt wurde. Auf iLiteratura plädiert der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov für die Verfeinerung des Geschmacks als Mittel gegen Populismus. Im New Statesman erklärt Chimamanda Ngozi Adichie, warum sie sich nicht als afrikanische Schriftstellerin in die Pflicht nehmen lässt.

New Yorker (USA), 21.01.2019

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker erzählt Jiayang Fan von der offen lesbischen Hong-Kong-Cantopop-Sängerin Denise Ho, die sich mit ihren pro-demokratischen Aussagen während des Regenschirm-Aufstands wenig Freunde bei Behörden und potenziellen Sponsoren gemacht hat. Wie ihr Vorbild, die Sängerin und Schauspielerin Anita Mui, hält auch sie das Gedenken an die Opfer des Massakers auf dem Tiananmen-Platz hoch: "Die Mahnwache dauerte etwa zwei Stunden. Als sie sich dem Ende zuneigte, kam ein Lied über die Lautsprecher: 'Vielleicht werden sich meine Augen nie wieder öffnen. / Wirst du meine stillen Gefühle verstehen? ... / Wenn es so sein soll, dann trauere nicht, / Der Boden unserer Republik enthält die Liebe, die wir gegeben haben!' Es war 'Bloodstained Glory', aber nicht die Version, die ich als Kind geliebt hatte. Vielmehr handelte es sich um eine Aufnahme, die Anita Mui kurz nach dem Tiananmen gemacht hatte, um des Todes der Demonstranten zu gedenken, Studenten, die ihr Land geliebt und sich dafür eingesetzt hatten, es etwas besser zu machen, als es war. Die Melodie wiederholte sich in meinem Hirn als wir aus dem Park gingen, und ich erinnerte mich daran, was Denise Ho darüber gesagt hatte, wie ein veränderter Kontext einem Lied neue Bedeutung geben kann. 'Bloodstained Glory' war eine Hymne der Regierungspropaganda, die sich in eine Hymne des Widerstands verwandelte, eine Hommage an tote Soldaten der Volksbefreiungsarmee, die heute an Menschen erinnert, die von Soldaten der Volksbefreiungsarmee getötet worden waren. Es schien irgendwie angemessen, dass eine Cantopop-Sängerin diese Verwandlung herbeigeführt hatte, und es kam mir in den Sinn, dass es in seiner Wurzel ein Liebeslied war."

Außerdem: D. T. Max bewundert die Graphic Novels des Chicagoer Zeichners Nick Drnaso. Dana Goodyear erzählt, wie Florian Henckel von Donnersmarck versuchte, Gerhard Richter für seinen neuen Film zu interviewen. Und Joshua Rothman führt ein in die Kunst der Entscheidungsfindung. Vorsicht, dieser Artikel könnte Ihr Leben verändern!

Archiv: New Yorker

New Republic (USA), 08.01.2019

Auch ein menschlicher Flummi kommt irgendwann ins Alter und schreibt seine Autobiografie - so wie jetzt der Hongkong-Superstar Jackie Chan. Ryu Spaeth staunt Bauklötze, mit welch sprühend guter Laune Chan sein Leben in der ehemaligen Kronkolonie schildert, als die Hafenstadt noch Zufluchtsort für chinesische Flüchtlinge war. Selbst die größten Quälereien, die aus Chan Kong-Sang (wörtlich: "der in Hongkong Geborene") den neben Bruce Lee größten und beliebtesten Kung-Fu-Star machten, werden weggelächelt. So etwa seine Ausbildung bei der China Dance Academy, in die er mit sieben Jahren gesteckt wurde: "Zehn Jahre lang trainierte Chan von fünf Uhr morgens bis elf Uhr abends, mit Pausen für Mittag- und Abendessen. Er schlief neben all den anderen Jungs auf einer dünnen Matratze auf einem Teppich, auf einer Kruste von Schweiß, Spucke und Pisse. Wenn er sich daneben benahm, setzte es Prügel mit dem Stock. Wenn er krank wurde, wurde ihm gesagt, er solle sich gefälligst zusammenreißen und weiter Kung-Fu trainieren. Er erhielt so gut wie keine Bildung, nicht einmal in den Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens wurde er unterrichtet. Als er zum ersten Mal an Geld kam, konnte er kaum Quittungen mit seinem Namen unterzeichnen (seine Memoiren sind von einem Publizisten 'co-geschrieben'). Er war im wesentlichen ein Fleischklops, den man hervorzerrte, wann immer eine Pekingoper einen Sänger, Tänzer oder Akrobaten benötigte. Und als er in seiner Jugend damit begann, auf Filmsets anzuheuern, behielt sein Lehrmeister 90 Prozent seines Lohnes ein. Chan war Teil der gewaltigen Unterklasse der großen Hongkong-Wirtschaft, die bis heute vollgepackt ist mit unterbezahlten Arbeitern aus aller Welt, die in tristen Apartments in der Größe von Särgen lebendig übereinandergestapelt werden. Und doch ist sein Memoir im Tonfall von der Überzeugung bestimmt, dass die offensichtlichen Ungleichheiten in der China Drama Academy im Besonderen und in Hongkong im Allgemeinen durch die erstaunlichen Möglichkeiten ausgeglichen wurden, die sich einem Niemand wie Chan Kong-Sang boten. Er selbst beschreibt diese Jahre als sein 'Jahrzehnt der Finsternis'. Aber er fügt hinzu: 'Es waren diese zehn Jahre, in denen ich Jackie Chan geworden bin.'"

Und dieser Jackie Chan nahm das Leben auch bei den Dreharbeiten später bekanntlich von der harten Seite:


Archiv: New Republic

168 ora (Ungarn), 15.01.2019

Die anstehende Umgestaltung des Petőfi Literaturmuseums in Budapest (PIM), das auch als Literaturarchiv bedeutender Nachlässen dient, könnte nur eine temporäre Bedrohung darstellen, meint der Schriftsteller Gergely Péterfy. Gleichzeitig warnt er vor den Konsequenzen, sollte die Institution von der (noch nicht bestimmten) neuen Leitung parteipolitisch geführt werden: "Was als Kulturkampf bezeichnet wird, ist in der Wirklichkeit die Rache des mit staatlichen Geldern ausgestatteten, politisch loyalen Durchschnitts und der Dilettanten. (...) Das Literaturmuseum PIM kann umgestaltet werden, Lebenswerke können versenkt werden, es können Ausstellungen organisiert werden, die aus dieser Institution ein weiteres 'Haus des Terrors' machen. Und dann? Dann werden wir halt nicht mehr hingehen. Aber die Literatur könnte nur dann umgestaltet werden, wenn die Schriftsteller umgebracht oder vertrieben würden: jeder einzelne Schriftsteller, der nicht die Propagandatrompete von Orbán bläst. Oder wenn alle und alles gelöscht, ja selbst aus dem Internet entfernt werden würde, was dem Geist des Systems widerspricht, der Freimaurer Márai zum Beispiel oder Parti Nagy oder Márton Simon. (...) Von meiner Seite würde ich jeden Erben dazu aufrufen, dass er die an das PIM übertragenen Rechte seiner Vorfahren widerruft; ich würde mit dem Nachlass meines Urgroßvaters Lajos Áprily und meines Großvaters Zoltán Jékely so verfahren. Sicherlich würden wir eine ausländische Stiftung zur Aufbewahrung finden, solange dieser geistige Mongolensturm hier andauert."
Archiv: 168 ora

New Statesman (UK), 11.01.2019

Der New Statesman druckt eine Rede von Chimamanda Ngozi Adichie, in der die nigerianische Schriftstellerin erklärt, warum sie keine afrikanische Autorin sein will. Dabei sei vieles an ihr durchaus "afrikanisch", wie sie betont: ihre literarische Tradition, der besondere Mix aus Ehrgeiz und Defensive, die Nervosität, mit der viele Afrikaner nach Bestätigung suchen. Aber Adichie will keine afrikanische Schriftstellerin sein, wenn es gelte, Loyalitäten einzufordern, wie von jenem jungen Mann auf einer Veranstaltung in Lagos, der ihr ihre politische Haltung vorwarf: "Er bezog sich auf meine Gegnerschaft zu einem nigerianischen Gesetz, das Homosexualität kriminalisiert, ein Gesetz, das ich nicht nur für zutiefst unmoralische halte, sondern auch politisch zynisch. Er bezog sich auch auf eine Rede, die ich kürzlich über den Feminismus hielt und bei der ich Beispiele aus dem nigerianischen Alltag benutzte, um eine überfällige Debatte zum Status von Frauen in Gang zu setzen. Entscheidend war jedoch nichts so sehr, dass dieser junge Mann nicht einverstanden mit mir war, sondern um die Sprache, die er benutze, die Sprache der Staatsbürgerschaft. Ich als Afrikanerin könnte doch nicht behaupten, Feministin zu sein, weil sich Feminismus und Afrika gegenseitig ausschlössen. Feminismus sei eine Krankheit des Westens, eine, die ich mir zu eigen gemacht hätte, seit ich im Westen infiziert wurde. Und was die Homosexualität betrifft, sei mein Kampf für die Rechte von Lesben und Schwulen eine Missachtung afrikanischer Kultur."

Weiteres: George Eaton befragt Slavoj Žižek zu Trump, Brexit und dem wie er meint unaufhaltsamen Niedergang liberaler Vorherrschaft. Und Andrew Harrison beschreibt, wie sich die Musikindustrie von ihrem Beinahetod erholt hat. Für die Musiker gelten jetzt allerdings die gleichen Regeln wie für alle anderen Content-Provider in der digitalen Ökonomie: "Man muss mehr arbeiten für weniger Geld, und man muss alles selber machen."
Archiv: New Statesman

iLiteratura (Tschechien), 15.01.2019

Marcel Černý unterhält sich mit dem bulgarischen Schriftsteller Georgi Gospodinov über die Umbruchjahre 1968 (Gospodinovs Geburtsjahr) und 1989, die freilich in Bulgarien zu keinem größeren gesellschaftlichen Umbruch geführt hätten. "Die Generation der unverwirklichten Revolutionen" - so nennt Gospodinov sich und seine bulgarischen Altersgenossen. Zum Thema des aktuellen osteuropäischen Populimus und der Rolle (oder des Versagens) der Intellektuellen darin meint er: "Der Intellektuelle war in Osteuropa in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ein völlig vergessenes und marginalisiertes Subjekt. Das hängt unmittelbar mit dem Aufkommen des Populismus zusammen. Ich glaube, dass die Kunst - und besonders die Literatur - furchtbar wichtig ist für etwas, das wir unterschätzen: die Verfeinerung des Geschmacks. Geschmacksverfeinerung ist eine politische Frage, da ein Mensch mit kultiviertem Geschmack weniger leicht Fake News oder Propaganda unterliegt und selbstverständlich auch nicht so anfällig für Populismus ist. Meine Antwort lautet also: Unterschätzt die Literatur nicht, unterschätzt die Kunst nicht, weil sonst auf dem frei werdenden leeren Platz der Populismus einzieht."
Archiv: iLiteratura

Nouvel Observateur (Frankreich), 14.01.2019

Seltsam zwiespältig, aber sehr informativ liest sich ein langer Text des Journalisten Roman Bornstein für die Fondation Jean-Jaurès (eine Stiftung der geschwächten Sozialistischen Partei in Frankreich), den der NouvelObs präsentiert. Bornstein hat sich in die wichtigsten Facebook-Threads der Gilets jaunes eingelesen. Seine Folgerungen sind widersprüchlich. Einerseits zeigt er sehr schön, das die Gilets jaunes niemals zu einem Phänomen geworden wären, wenn nicht die Medien erste Interviews mit den Protagonisten geführt und so deren Aufrufe auf Facebook überhaupt erst bekannt gemacht hätten. Andererseits schildert Bronstein das Phänomen in der Folge rein aus der Logik von Facebook. Ähnlich verhält es sich politisch. Obwohl Bronstein mit Le Monde feststellt, dass zwei Drittel der Gilets-jaunes-Forderungen mit denen des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon übereinstimmen (und die Hälfte mit Marine Le Pen), sieht er die Gilets jaunes auf dem Weg zum Rechtsextremismus: "Es ist frappierend festzustellen, wie beunruhigend sich die Atmosphäre der Unterhaltungen entwickelt, die die Gilets jaunes unter sich führen. Sie mögen als Individuen nicht zur extremen Rechten gehören, aber kollektiv bewegen sie sich in diese Richtung. Woher diese Befürchtung? Sie haben bereits das Vokabular: viele Exzesse, Beleidigungen, Tiervergleiche, Verteufelung des Gegners und eine absolute Kompromisslosigkeit. Ferner, und das ist wesentlich, wird alles abgelehnt, was ein republikanisches und demokratisches System ausmacht."

HVG (Ungarn), 01.01.2019

Der Publizist Tamás Gompez kommentiert in der Neujahrsausgabe der Wochenzeitschrift HVG den bedenklichen Schritt der Regierung, in der Nacht des ersten Weihnachtsfeiertags die Statue des Ministerpräsidenten der 1956er Revolution, Imre Nagy aus der Nähe des Parlaments entfernt zu haben. Zuvor äußerten sich mehrere prominente Persönlichkeiten des Orbán-Regimes kritisch und zum Teil ablehnend über Imre Nagy, der nach der Niederschlagung der Revolution in einem Scheinprozess verurteilt und hingerichtet worden war. Interessant ist dieser Schritt weiterhin, weil der gegenwärtige Ministerpräsident Orbán mit einer Rede bei der symbolischen Wiederbestattung von Imre Nagy 1989 seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte und eine breite Bekanntheit erlangte. Die Veranstaltung selbst wird als Meilenstein der "Wende" angesehen: "Was für eine Macht entfernt mitten in der Nacht aus der Nähe des Parlaments die Statue jenes Politikers, der wegen seiner führenden Rolle in der 1956er Revolution von der kommunistischen Diktatur hingerichtet und in ein unmarkiertes Grab gestoßen wurde? Die Betonung liegt nicht auf 'entfernen' sondern auf 'mitten in der Nacht'. Weil jeder weiß, was für eine Macht die Statue jenes Menschen entfernt hat, dessen symbolische Wiederbestattung als Anfangspunkt der Gründung der freien und demokratischen Republik gilt, bekannter als: die Wende. Es ist eine Macht, die die Freiheit genau so hasst wie die Demokratie, jedoch für Symbolik wohl ein Gefühl hat. (...) Der Platz vor dem Parlament sollte den Rahmen eines nationalen Konsenses verkörpern und so bringt die Entfernung der Statue von Imre Nagy zum Ausdruck, dass der durch das kommunistische Regime ermordete Ministerpräsident nicht mehr Teil der Werteordnung und des die Identität bestimmenden Kanons der politischen Gemeinschaft Ungarns ist."
Archiv: HVG
Stichwörter: Nagy, Imre, Ungarn, Hvg, Kanon

Times Literary Supplement (UK), 14.01.2019

Eigentlich werden mittlerweile mehr Journalisten als Politiker ermordet, aber wenn Tom Stevenson eine kleine Geschichte des Politischen Mordens erzählt, macht er da keine Unterscheidung. Hübsch trocken referiert er über gezielte Tötungen, die Zuverlässigkeit von Drohnen oder das dilettantische Abschlachten des Dissenten Jamal Kashoggi im saudischen Konsulat von Istanbul (in einer Stadt, in der man einen Glücksritter mit Kanone für ein paar hundert Pfund bekommt). Für die Feinheiten des Tötens empfiehlt Stevenson weiterhin das CIA-Handbuch "A Study of Assassination": "Das Handbuch beginnt damit, Morde danach zu klassifizieren, in welchem Grade sich das Opfer der Gefahr bewusst war, also ob es eine Ermordung fürchtete oder bewacht war. Dann kategorisiert es danach, ob der Mord geheim gehalten werden muss oder gerade als Ermodrung erkannt werden soll, und ob der Mörder als entbehrlich betrachtet werden kann. Die Figur des einsamen Auftragsmörders ist, wie sich herausstellt, keine reine Schöpfung der Fantasie. Idealerweise sollte er allein handeln, um die Gefahr zu verringern, dass der Plot auffliegt. Unterschiedliche Umstände erfordern unterschiedliche Arten von Mördern. Alle verlangen Mut, Entschlossenheit und Einfallsreichtum, doch für den Fall, dass der Mörder sich nicht in Sicherheit bringen kann, braucht es einen Fanatiker. 'Politik, Religion und Rache sind ungefähr die einzigen wahrscheinlichen Motive.'"