Magazinrundschau

Eine verschämte Revolution

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.06.2018. Die London Review glänzt mit einer intensiven Reportage über den Brand des Grenfell-Towers und seine politische Ausschlachtung. Slate.fr erinnert sich an 1968 in der arabischen Welt. The Nation schildert die prekäre Lage von Afrikas Whistleblower. Eurozine lernt von dem Harvard-Genetikers David Reich: Vermischung ist überall, es gibt kein Urvolk. Der Merkur erinnert an die ungeliebte Novemberrevolution. In Magyar Narancs erklärt der Künstler Szabolcs KissPál sein Konzept eines "Pseudomuseums". Der Economist nimmt den Rassismus in Prognose-Tools auseinander.

London Review of Books (UK), 07.06.2018

In einer unbedingt lesenswerten Reportage, die sich über das gesamte Blatt erstreckt, rekonstruiert Andrew O'Hagan die Tragödie des bis auf die Grundfesten niedergebrannten Grenfell Towers, die 72 Menschen das Leben kostete. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Medien, die allesamt die Tragödie ausgeschlachtet hätten, und am Ende wird er sogar die Tory-Politiker in Schutz nehmen, die für Gentrifizierung, Privatisierung und Lockerung des Brandschutzes in diesem Stadtteil verantwortlich waren und dafür von aufgebrachten Hinterbliebenen als Massenmörder gebrandmarkt wurden. Aber O'Hagan beginnt klassisch mit gründlicher Recherche zu dem Brand, der als kleines Feuer in der Küche eines äthiopischen Asylbewerbers begann: "Die Flammen hatten vom Kühlschrank auf die Küche übergegriffen und züngelten aus dem offenen Fenster hinaus, wobei sie die Isolierung im Hohlraum zwischen dem Gebäude und der neuen Verkleidung in Brand setzten. Dass dies passierte, ließ sich zunächst nicht erkennen: Als die Feuerwehrleute kamen, eine Gruppe von acht Mann, löschten sie das Feuer in Wohnung 16. Sie bemerkten nicht, dass die Flammen, die aus dem Fenster stieben, das Feuer in den Hohlraum weitertrugen. Die Riegel, die die Lücken versiegeln sollten, waren zu klein oder schlecht verfugt, so dass der Hohlraum wie ein Schornstein wirkte und die Flammen hochzog ... Als die Feuerwehrleute aus Nordkensington, nachdem sie das Feuer in der Küche gelöscht hatten, den Schauplatz verließen, begannen bei der Kontrollstelle in Stratford weitere Notrufe einzugehen. 'In meinem Wohnzimmer brennt es, im zehnten Stock!' - ' Mein Schlafzimmerfenster steht in Flammen. Ich lebe im achten Stock.' - 'Das kann nicht sein', glaubten die Leute in der Zentrale, 'das Feuer im vierten Stock ist doch gelöscht.' Ein Feuerwehrmann erklärte mir, das Problem war, dass die Leute in Stratford nicht erkennen konnten, was los war, und vollkommen irritiert waren, dass so viele Anrufe auf einmal eintrafen. Sie sagten den Anrufer, sie sollten in ihren Wohnungen bleiben."

Magyar Narancs (Ungarn), 10.05.2018

Am 04. Juni 1918 wurde im französischen Trianon nahe Versailles der Friedensvertrag unterschrieben, nach dem Ungarn ein Drittel seiner Bevölkerung und zwei Drittel seines Territoriums verlor. Die gelenkte Erinnerung an Trianon, verbunden mit der Duldung von revisionistischen Forderungen sind Elemente der offiziellen Erinnerungsnarrative als Identitätspolitik. Der bildende Künstler Szabolcs KissPál arbeitet seit 2010 an einer Trilogie, welche durch unterschiedliche Formen und Mittel auf die nationalistische Wende und die damit verbundenen Erinnerungsnarrative in Ungarn kritisch-ironisch reflektiert. Vor kurzem ist ein Buch von KissPál erschienen (Von den künstlichen Bergen zu den politischen Religionen). Im Gespräch mit Magyar Narancs erklärt der KÜnstler und Hochschuldozent (MKE, Budapest) den Hintergrund seiner Ausstellung: "Ich wollte dieses 'Pseudomuseum' so aufbauen, dass es eine echte Museumsatmosphäre hat: die Menschen sollten nicht laut kichernd durch die Ausstellung gehen, sie sollten vielmehr einem museumsgerechten, historischen Narrativ folgen. (…) Meine künstlerische Strategie ist die Gegenfiktionalisierung: ich greife fiktionale Elemente auf, um den fiktionalen Charakter von historischen Narrativen zu enttarnen. (…) Bereits 2012 wollte ich die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf die Idee und den historischen Hintergrund der illiberalen Demokratie lenken. Ich hielt Ungarn für ein Laboratorium, wo der Versuch einer erschreckenden Identitätskonstruktion im Gange war. Deshalb schrieb ich die Begleittexte so, dass das Phänomen kulturell übersetzbar ist. Mein Ziel ist es, eine europäische Geschichte durch eine ungarische Fallstudie zu erzählen." (Hier noch ein kurzes Interview mit KissPal auf Deutsch in der Kreiszeitung.)
Archiv: Magyar Narancs

The Nation (USA), 01.06.2018

Im aktuellen Heft des Magazins berichtet Olivier Piot, welches Schicksal Afrikas Whistleblower erwartet, die die Korruption in ihrem Land aufdecken. Ohne Rechtsschutz sind sie brutalem Druck ihrer Arbeitgeber und der Öffentlichkeit ausgesetzt: "Ein großes Hindernis ist das Fehlen rechtlicher Rahmenbedingungen, sogar in Südafrika, wo es robuste Institutionen gibt … In Niger zahlte Falamata Aouami einen hohen Preis dafür, dass sie ihren früheren Arbeitgeber, die Landwirtschaftsbank von Niger verriet. 2013 kam die damals 28-Jährige von der Business-Schule und wurde oberste Rechnungsprüferin. Die Landwirtschaftsbank, von der Regierung 2010 eingesetzt, um die ländliche Wirtschaft zu unterstützen, hatte eben eine provisorische Verwaltung bekommen, nachdem das Kapital von 18 auf 6 Millionen Dollar gefallen war. Aouami leitete eine interne Untersuchung, die zweifelhafte Darlehen, Diskrepanzen bei den liquiden Mitteln und fehlerhafte Kontrollmechanismen feststellte. Die Angestellten wehrten sich gegen die Untersuchung und hielten Informationen zurück. Aouami erhielt Drohbriefe. Schließlich forderten ihre Vorgesetzten sie auf, die Ermittlungen einzustellen, doch sie machte weiter im Glauben, die Bank vor dem Ruin zu retten. 2015 wurde sie gefeuert. Die Bank beschuldigte sie der Fehlinformation. Aouami zog vor Gericht. Dort hatte sie mit den Schikanen des Rechtssystems, verschwindenden Dokumenten, Verzögerungen etc. zu kämpfen. Kein Anwalt wollte sie vertreten."
Archiv: The Nation

Respekt (Tschechien), 04.06.2018

Erik Tabery beobachtet in Tschechien derzeit die Tendenz, Andersmeinende kategorisch entweder als "(Neo-)Marxisten" oder als "(Neo-)Faschisten" abzukanzeln, und wünscht sich mehr Besonnenheit im Umgang mit diesen Begriffen. Anlässlich des Skandaltheaterstücks "Unsere Gewalt, eure Gewalt" (in dem Christus eine Muslimin vergewaltigt) des kroatischen Regisseurs Oliver Frljić auf dem Theaterfestival in Brno hatte Kardinal Dominik Duka geäußert: "Was sich das heutige neomarxistische Pack gegenüber Glauben und Religion leistet, das hat sich nicht einmal der nazistische oder kommunistische Totalitarismus erlaubt." Tabery bemerkt dazu: "Angesichts dessen, dass der Totalitarismus gefoltert, gemordet, Kirchen verbrannt und katholische Geistliche eingesperrt hat, ist das ein außerordentlich geschmackloser Vergleich." Ebenso kritisiert Tabery einen Artikel Tomáš Tožičkas, in dem dieser Besserverdienende mit Ökobewusstsein als "Biofaschisten" bezeichnet, und meint: "Menschen mit anderer Meinung als Faschisten zu bezeichnen, ist eine grobe Beleidigung, nichts mehr. Heben wir uns diese für Extremfälle auf, etwa für Leute, die Cafés überfallen, Vertreter der Stadt durch die Straßen treiben oder gewaltsam eine Theateraufführung stören." So geschehen nämlich vor einigen Tagen, als die umstrittene Inszenierung in Brno von einer rechten Gruppierung gestürmt wurde, die sich "Anständige Leute" nennt und die Aufführung behindern wollte, sodass am Ende die Polizei eingreifen musste, um wieder für Ordnung zu sorgen.
Archiv: Respekt

Eurozine (Österreich), 30.05.2018

In seinem Beitrag von New Humanist übernommenen Beitrag erläutert Peter Forbes, wie die Methoden des Harvard-Genetikers David Reich zur Erforschung vorzeitlicher DNA nicht nur die menschliche Evolution neu zu schreiben helfen, sondern auch unsere Vorstellungen von Migration und Identität auf den Kopf stellen: "Für jemanden, der auf die Idee kommen sollte, Reichs Erkenntnisse für eine rassistische Theorie zu missbrauchen, hält Reichs Arbeit die Dokumentation vieler überraschender Völkerwanderungen bereit: Kein Volk an irgendeinem Ort der Welt ist mit dem Volk verwandt, das einmal an diesem Platz lebte. Identität über ein Urvolk zu konstruieren, das einmal auf deinem Flecken Erde lebte, ist ein sinnloses Unterfangen. Ideologien, die mit mythischer Reinheit argumentieren, kriegen es mit knallharter Wissenschaft zu tun, meint Reich. Wie kommt er darauf? Die Vorstellung, DNA könne uns über unsere Migrationsbewegungen informieren, entstand aus dem DNA-Fingerabdruck. Unsere Gene werden in Blöcken weitergegeben, zusammen mit vielen kleinen zufälligen, harmlosen Variationen sowie Mutationen. Diese Eigenarten der DNA wurden zuerst dafür verwendet, um Kriminelle zu finden. Später wurde es möglich, damit vergangene Bewegungen großer Populationen zu kartografieren. Gesellschaften, die lange an einem Ort leben, teilen stets den Großteil ihrer genetischen Abstammung miteinander. Wenn so eine Gruppe an einen anderen Ort übersiedelt, zeigt sich ihr genetisches Signal an dem neuen Ort."
Archiv: Eurozine

Slate.fr (Frankreich), 03.06.2018

Saleh Ben Odran schreibt über den Mai 68 in der arabischen Welt. In Syrien, Tunesien, Marokko und im Libanon sei eine ganze Generation von den Ideen der französischen Bewegung inspiriert worden. Diese "Ansteckung" zerbröselte allerdings nach und nach zu Gunsten des Wiederauflebens von Islam und Islamismus in der Region. Odran beschreibt die Verläufe in den einzelnen Ländern und lässt mehrfach den franko-syrischen Historiker und Verleger Farouk Mardam Bey zu Wort kommen. Dieser meint, die arabische Linke habe es nie geschafft sich zu erneuern und die zunehmend kritische Jugend anzuziehen. Zur heutigen Situation sagt er: "Ein Phänomen wie der IS wäre in den 1960er Jahren undenkbar gewesen. Doch in der arabischen Welt liegen zwei völlig gegenläufige Tendenzen dicht beieinander. Auch wenn der radikale Islam zweifellos Terrain gewonnen hat, gibt es dennoch auch eine der Außenwelt, anderen Ideen und alternativen Lebensformen aufgeschlossene Jugend, die sich weiterhin wandelt und sich hält." Allerdings sei die Revolte doch vor allem durch die Mobilisierung gegen Israel gesteuert gewesen - die Jungen machten den Alten die Niederlage im Sechstagekrieg zum Vorwurf. "Die sexuelle Freiheit, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Revolutionierung der moralischen Codes, die in Frankreich ganz vorn mitspielten, 'haben in der arabischen Welt dagegen kaum mobilisiert', winkt Farouk Mardam Bey ab."
Archiv: Slate.fr

Merkur (Deutschland), 05.06.2018

Leider nur im Print rekapituliert der Historiker Martin Sabrow, wie die Novemberrevolution von 1918 in der Erinnerungsgeschichte immer wieder unterging. Stets blieb sie ungeliebt, auf der einen Seite als Ausweis sozialdemokratischer Halbherzigkeit verachtet, auf der anderen als Beweis vaterländischer Unzuverlässigkeit: "Sie ist bis heute eine verschämte Revolution geblieben, eine Revolution, die keine Glorifizierung erfahren hat, keine Aufnahme in den Ruhmestempel der deutschen Demokratiegeschichte, eine Umwälzung ohne Anhänger, eine Revolution, die niemand wollte'. Das gilt bereits für die politischen Akteure der Umbruchszeit selbst, und zwar von dem Moment an, an dem die Revolution in Kiel ausbrach und in den Folgetagen wie ein Flächenbrand das ganze reich erfasst. Während der Zugfahrten, auf denen die sozialdemokratischen Protagonisten in den tagen der revolutionären Auflösung der alten Ordnung von ihren Heimatorten aus ihren politischen Wirkungsstätten entgegeneilten, war nichts von dem revolutionären Feuer zu spüren, das Lenin im Jahr zuvor von Zürich nach Petrograd begleitet hatte. Die Atmosphäre atmete den Geist widerstrebend übernommener Verantwortung."

Online denkt Jens Kastner darüber nach, wie er sich als Sohn eines Krupp-Managers, der mit dem Schah von Persien Geschäfte machte, in eine linke Geschichte einschreiben kann. Sophie Schönberger eruiert in ihrer Rechtskolumne, welchen Einfluss Geld auf das politische System in Deutschland haben kann.
Archiv: Merkur

Pitchfork (USA), 05.06.2018

Rihanna - Popgöttin und Modediva. Rebecca Bengal hat schon einige von Rihannas Kolleginnen auf dem Olymp gesehen - aber keine hat so viel Eindruck hinterlassen, schreibt sie. "Vielleicht das Bewundernswerteste an ihr ist, dass sie mit dem selben Aplomb anspruchsvolle und weniger anspruchsvolle Mode tragen kann. Olivier Rousteing von Balmain, einer der ersten großen Designer, der Rihanna mit offenen Armen aufgenommen hat, verglich sie mit Prince, Michael Jackson und David Bowie. ... Wir lieben jene Rihanna, die totalen Glamour verströmt, wenn sie die mit Silber ausgeschmückte, den Körper umschmeichelnde Robe trägt oder jenes tiefrote Kleid, als sie durch den Spiegelsaal von Versailles tanzte und als erste schwarze Frau das Gesicht einer Werbekampagne von Dior wurde. Wir lieben aber auch jene Rihanna, die mit ihrer Vorliebe prunkt, einfach gar keine Hosen zu tragen, wenn ihr gerade danach ist, ob nun im Club, auf der Straße oder in den ersten Reihen einer Modeshow - einfach eine Jacke oder ein Kapuzenpulli oder ein T-Shirt, vielen Dank. Wir lieben jene Rihanna, die sich auf Instagram beim Kiffen zeigt, die Rihanna, die aus einem Restaurant, einem Event oder Club stürmt, ein gefülltes Glas Wein in der Hand - eine gleichermaßen von zahlreichen Modeblogs und Time dokumentierte Verhaltensweise (was im übrigen nicht zu ihrem Nachteil gereicht: In diesem Jahr wurde Rihanna von diesem Magazin zu einer der einflussreichsten Personen der Welt gekürt). ... Regelmäßig adressiert sie ihre 88 Millionen Twitter-Follower und 62 Millionen Instagram-Follower als beste Freunde, an die sie ihre Mode-Selfies wie persönliche Geschenke verteilt. Das ist Popstartum zum Mitmachen: Die Alltagsoutfits, der Straßen-Stil, der Bühnenlook und die Cinderella-Momente auf dem Roten Teppich gehören auch den Fans. In ihrem Kleiderschrank finden sich endlose Anknüpfungspunkte, Orte, mit denen sich jeder ihrer Fans identifzieren und für sich beanspruchen kann."

Archiv: Pitchfork

168 ora (Ungarn), 02.06.2018

Als erste Handlung des im April neugewählten Parlaments wurde ein Gesetzespaket auf den Weg gebracht, das unter dem Namen "Stop Soros" Bekanntheit erlangte. Darin werden regierungskritische NGOs und ihre Mitarbeiter stigmatisiert, kriminalisiert und mit langjährigen Freiheitsstrafen bedroht, sollten sie ihre Tätigkeiten fortsetzen. Die von dem ungarisch-amerikanischen Investor Georg Soros gegründete Open Society Foundation (OSF), die auch als bedeutende Geberorganisation in Ungarn fungiert, gilt als vorrangiges Ziel des Gesetzes. Die OSF bestätigte nun die bereits vor den Wahlen kursierenden Informationen über die Schließung ihrer Büroräume in Ungarn und den Umzug nach Berlin. OSF-Sprecher Csaba Csontos erklärt im Gespräch mit 168 ora die Signalwirkung des Gesetzespakets: "Die westliche Orientierung Ungarns war für Jahrzehnte nicht fraglich, in den vergangenen Jahren jedoch unternahm die ungarische Regierung bedeutende diplomatische Schritte in Richtung solcher Mächte, die für die NATO eine Bedrohung sein können. Die Einschränkung und das Schikanieren von legal arbeitenden autonom-zivilen Organisationen sind keine gute Nachricht für die Stabilität des Bündnisses. So wird unsere Büroschließung zu einem Notsignal, dass in Ungarn Freiheit und die Gesellschaft in Form ihrer zivilen Organisationen attackiert werden. Diese antidemokratischen Entwicklungen stehen dem transatlantischen Wertekonsens diametral entgegen, was die ungarische Gesellschaft aber auch die internationale Gemeinschaft wissen sollten."
Archiv: 168 ora

Economist (UK), 05.06.2018

In einem epischen Rundumschlag befasst sich Jon Fasman mit Technologien und gesellschaftlichen Problemstellungen digitaler Überwachungen: Immer mehr Kameras im öffentlichen Raum und an Polizisten selbst führen zu immer mehr Daten, die sich, wenn auch nur mühselig, insbesondere auch im Rückblick auf Hinweise durchforsten lassen - hier hat längst die Stunde der Startups geschlagen, die den Ermittlern versprechen, aus dem Wust an Informationen jene von Belang zu destillieren. Schon werden Prognose-Tools getestet, die es Ermittlern gestatten sollen, bereits im Vorfeld von Verbrechen aktiv zu werden. Gerade an diesem Punkt setzen Vorbehalte an: "Die Frage nach Vorurteilen stellt sich insbesondere dann, wenn es darum geht, bestimmte Orte polizeilich zu kontrollieren. Greift man hierfür auf die Zahl von Festnahmen oder Drogenüberführungen zurück, wird das Resultat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit rassistisch verzerrt sein. Festnahmen sagen mehr aus über Polizeipräsenz als über das Verbrechen. Auch die Zahl der Drogenüberführungen ist in dieser Hinsicht verdächtig. Schwarze und weiße Amerikaner rauchen etwa zu gleichen Teilen Marihuana, wobei die Rate unter 18- bis 25-jährigen weißen Jugendlichen sogar höher ist als unter schwarzen. Doch Schwarze werden in ganz Amerika beinahe dreimal so oft wegen Marihuana-Besitzes festgenommen wie Weiße. Das Risiko, als Schwarzer in Washington D.C. oder Iowa wegen Marihuana festgenommen zu werden, ist achtmal höher als für Weiße. Etwa auf die Hälfte aller Drogenfestnahmen folgt eine Anzeige wegen Besitzes dieser Droge. Da wundert es nicht, dass eine Studie von Kristian Lum von der Human Rights Data Analysis Group und William Isaac herausgefunden hat, dass ein Vorhersage-Algorithmus, der mit den historischen Daten von Drogenfällen in Oakland, Kalifornien, gefüttert wurde, schwarze Wohnviertel doppelt so sehr ins Visier nahm wie weiße und Kieze mit niedrigem Einkommen ebenso doppelt so oft wie solche mit hohem Einkommen."
Archiv: Economist

New York Times (USA), 30.05.2018

Im aktuellen Magazin der New York Times geht Mattathias Schwartz den Todesfällen bei den Protesten in Kiew im Februar 2014 nach und berichtet, wie ein Team unabhängiger ziviler Ermittler mittels Videos und Autopsieberichten das Geschehen rekonstruieren und die Todesschützen unter den paramilitärischen Kräften von Präsident Janukowytsch ausmachen konnten: "Die Maidan-Proteste waren die Art von Aufruhr, wo durch öffentliche Unzufriedenheit und soziale Medien angeheizter Massenprotest eine Regierung ernsthaft in Schwierigkeiten bringt. Ob Gaza, Nicaragua, Türkei - die Reaktion der internationalen Gemeinschaft hängt stets davon ab, ob die Regierung die Gewalt rechtfertigen kann. Um zu vermeiden, als autoritär gebrandmarkt zu werden, muss die Regierung mehr tun, als die Menge zu kontrollieren, sie muss das Narrativ kontrollieren. Forensische Mittel, wie im Fall der Untersuchungen in der Ukraine, können entscheidend sein, wenn es darum geht, die Wahrheit herauszufinden … Sofort nach den Todesfällen begann die Desinformationskampagne in den sozialen Medien, laut Washington Post ein Werk des russischen Militärnachrichtendienstes GRU. In Fake-Accounts auf Facebook und auf dem russischen Äquivalent Vkontakte stellte der GRU die Proteste als Werk der bewaffneten Nationalisten dar. Der GRU schuf ferner Onlinegruppen, die die Abspaltung der Krim forderten. Das Ganze war eine Art Vorankündigung der russischen Einmischung in die US-Wahlen 2016."

Außerdem: Vanessa Grigoriadis stellt die düsteren Methoden der Nxivm-Sekte vor. Und Leora Smith hinterfragt die strittige forensische Methode der Blutspurenanalyse.
Archiv: New York Times