Magazinrundschau

Bevorzugung des Fragments

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
13.06.2017. Islam und Vernunft fanden schon mal im 19. Jahrhundert zusammen, dank Napoleon, erklärt Kenan Malik im New Statesman. Novinky unterscheidet zwischen post-truth, postfaktisch und bullshit. Die New York Review of Books lässt sich von Marjorie Perloff die posthabsburgische Moderne erklären. Der New Yorker erzählt, wie Augustinus den Sex erfand. Die New York Times unterhält sich mit muslimischen Le-Pen- und Sarkozy-Wählern in der Pariser Banlieue.
Der Balkan ist wieder bereit zum Krieg, warnt Miljenko Jergovic in New Eastern Europe.

New Statesman (UK), 08.06.2017

Kenan Malik liest neue Bücher zur Aufklärung in der islamischen Welt. Wenn Tariq Ramadan  in "Islam. The Essentials" die Sklaverei verteidigt, kann er nur mit den Augen rollen, deutlich interessanter findet er Christopher de Bellaigues Buch "The Islamic Enlightenment": Bellaigue erinnert daran, dass die islamische Welt längst ihre oft eingeforderte Aufklärung hatte. Denn Napoleon hatte nicht nur Soldaten nach Ägypten gebracht, sondern auch Gelehrte, die eine ganze Generation inspirierten: "Aus dieser neuen Generation sticht vor allem Rifaa al Tahtawi hervor, ein ägyptischer Kleriker, der es sich zur Lebensaufgabe machte, die Vereinbarkeit von Islam und Vernunft zu beweisen. Nachdem er einige Zeit in Paris verbracht hatte, kehrte er 1831 nach Kairo zurück, um an Ägyptens Modernisierung mitzuarbeiten. Er gründete in Kairo die Schule der Sprachen und initiierte die Übersetzung von über 2.000 Büchern ins Arabische - die größte Übersetzungsanstrengung seit jener der Abbessiden ein Jahrtausend zuvor. Auch seine eigenen Werke brachten einem neuen Publikum die Ideen der Aufklärung nahe, Säkularismus, Rechte, Freiheiten. Und nicht nur die intellektuelle Sphäre war in Aufruhr. Die physischen und gesellschaftlichen Welten wurden ebenfalls umgewandelt, in einer für Europa unvorstellbaren Geschwindigkeit. Von der Druckerpresse bis zu Frauen an der Universität, von Dampflokomotiven bis zu oppositionellen Zeitungen, von der Sklavenbefreiung bis zur Bildung von Gewerkschaften: In einem Zeitraum von wenigen Jahrzehnten brachte die Moderne Veränderungen nach Ägypten, die in Europa über ein Jahrhundert gedauert hatten, und sie verwandelte Kairo, Istanbul und Teheran von halb-mittelalterlichen Märkten in halb-industrialisierte Städte."
Archiv: New Statesman

Novinky.cz (Tschechien), 09.06.2017

In Brünn debattierte eine Diskussionsrunde über Trump, den Brexit und die "Postpravda". Dabei bemerkte der Publizist Petr Fischer, dass der englische Begriff "post-truth" und das deutsche "postfaktisch" etwas ganz anderes seien. "Für die Deutschen ist die Wahrheit nicht verschwunden, sie sehen die Krise im Aufweisen der Fakten, über die wir weiterhin reden müssen, um die Wahrheit zu finden. (...) Für die Briten geht es offenbar um eine viel tiefere Krise. (...) Aber im Grunde wurde schon bei Lyotard festgestellt, dass es keine großen Wahrheiten gibt, dass wir uns viel mehr darauf verständigen müssen, wie wir uns aus den kleinen Wahrheiten die Welt aufbauen." Die Politologin Kateřina Smejkalová mochte hingegen für die aktuellen Tendenzen weder auf den Begriff "postfaktisch" noch auf "post-truth" zurückgreifen, sondern schlicht auf den amerikanischen Ausdruck "bullshit".
Archiv: Novinky.cz
Stichwörter: Postfaktisch, Brexit

New York Review of Books (USA), 22.06.2017

Zu seiner Überraschung muss Adam Kirsch feststellen, dass es so etwas wie eine posthabsburgische Moderne gab. Die Information dazu entnimmt er dem Buch "Edge of Irony: Modernism in the Shadow of the Habsburg Empire" der großen amerikanischen Kritikerin Marjorie Perloff, die als 13-jährige mit ihren Eltern aus Wien emigrierte. Sechs Autoren macht sie als Gründerväter dieser Moderne aus: Paul Celan, Joseph Roth, Elias Canetti, Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein und Robert Musil (die größte Irritation für einen deutschen Leser ist, dass Sigmund Freud und Franz Kafka nicht dabei sind). Kirsch muss lernen, dass sie seinen Göttern Ezra Pound oder Virginia Woolf gleichkommen und einiges mit ihnen gemein haben: "Die Bevorzugung des Fragments gegenüber einem Ganzen, der Widerstand gegen 'Geschlossenheit', die zersetzende Kraft der Analyse. Diese Eigenschaften, die wir in Eliots 'The Waste Land' oder Pounds 'Cantos' finden, verortet Perloff auch in Werken wie denen Wittgensteins oder den 'Letzten Tagen der Menschheit' von Karl Kraus. Der Unterschied ist, dass die Austromodernisten anders als Eliot oder Pound, die sich reaktionären Doktrinen hingaben, um die Schäden des 20. Jahrhunderts zu reparieren, in Skepsis verharren. Um ein Wort zu benutzen, das Perloff vermeidet - es ist etwas Liberales - im Sinne des Anti-Utopischen, Anti-Ideologischen - um diese Autoren."

Außerdem: David Shulman wirft anlässlich einiger Neuerscheinungen zum Sechstagekrieg einen sehr kritischen blick auf die israelische Politik seit 1967. Und Charles Simic erinnert an den Lyriker Philip Levine.

Jugend ohne Film (Österreich), 07.06.2017

Direktor Alexander Horwath verlässt das Österreichische Filmmuseum in Wien, das auf der cinephilen Landkarte Europas einen der zentralen Orientierungspunkte darstellt. Valerie Dirk und Patrick Holzapfel haben diesen Einschnitt in der Geschichte dieser Filminstitution zum Anlass genommen, ein ausführliches Gespräch mit dem scheidenden Direktor zu führen, der sich zum Abschied selbst mit einer Filmreihe über Europa im Kino beschenkt. Unter anderem geht es in dem Gespräch auch um das Selbstverständnis kuratorischer Arbeit im Kinemathekenkontext. Die damit verbundene Aufwertung von Film hält er für "sicher auch zweischneidig. Das hat dann auch dazu geführt, dass man dem Film nur 'als Kunst' einen Wert zugestand, was meiner persönlichen Anschauung widerspricht. Aber dieses Motiv, den Film in ernsthafte kulturelle und ästhetische Debatten zu integrieren, war für jede Generation und auch für mich prägend. Ich merke auch, dass es heute wieder - mehr als vor fünfzehn Jahren - viele Diskurse gibt, die in die entgegengesetzte Richtung führen. Wenn ich mir zum Beispiel die Verleih- und Kinolandschaft anschaue. ... Wenn vor 20 Jahren ein Film von der internationalen Kritik einhellig als künstlerisch relevantes Statement begriffen wurde, dann war es selbstverständlich, dass sich auch in Österreich ein Verleih und Kinos dafür finden. Wenn man jetzt beobachtet, was herausgebracht wird, dann sind es andere Motiv- und Bedürfnislagen, die den Ausschlag geben. Es sind offenbar auch andere gesellschaftliche Bedürfnisse, die sich an das Kino richten. Wenn man das, wie ich, als einen Rückschritt in der Filmkultur betrachtet, muss man erst recht dafür eintreten, wieder relevante Räume für den Film im öffentlichen Gespräch zu schaffen."

New Yorker (USA), 19.06.2017

In der neuen Ausgabe des New Yorker erklärt uns Stephen Greenblatt, wie Augustinus den Sex erfand: "Wie seltsam, dass wir diesen wichtigen Körperteil nicht kontrollieren können, dachte Augustinus. Wir sind erregt und die Erregung ist in uns; sie ist in diesem Sinne ganz wir selbst und doch ist sie jenseits unserer Willenskräfte. Augustinus spricht hier augenscheinlich vom männlichen Körper, wohl wissend, dass Frauen eine ähnliche Erfahrung machen, nicht sichtbar, doch im Grunde gleich. Daher fühlten beide, der erste Mann wie die erste Frau, im Sog der Sünde Scham und bedeckten sich. Augustinus kehrte wieder und wieder zu den selben Fragen zurück: Wem gehört der Leib? Woher kommt das Verlangen? Wieso kann ich meinen Pimmel nicht beherrschen? … Die Erkenntnis, dass die Erregung unausweichlich ist, nicht nur während des ehelichen Verkehrs, sondern auch in Augenblicken des Leids, im Schlaf und sogar bei den Züchtigen, formte Augustinus' bedeutendste Idee, diejenige welche die Geschichte von Adam und Eva verwandelte und als einer der Eckpfeiler des orthodoxen Christentums auf den folgenden Jahrhunderte lastete: die Erbsünde."

Außerdem: Rachel Aviv berichtet über Menschen, die sich zum Mörder stilisieren. David Sedaris erzählt aus seinem Leben mit einer alkoholabhängigen Mutter. Und Zadie Smith stellt die britisch-ghanaische Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye vor.
Archiv: New Yorker

New Eastern Europe (Polen), 09.06.2017

Wenn Europa sich nicht beeilt, dem Balkan wirtschaftlich auf die Beine zu helfen, wird es ihn verlieren, warnt (von Eurozine ins Englische übersetzt) der bosnische Schriftsteller Miljenko Jergovic. Die Bosnier erliegen derzeit den Einflüsterungen Erdogans, die Serben feiern Putin und selbst die Kroaten feiern Trump mit NS-Flagge und Neonazi-Umzügen. "Der Balkan ist wieder bereit für einen Krieg", schreibt Jergovic. "Für einen Krieg ähnlich denen die 1914 und 1941 begannen. Sie brauchen einen weiten Kontext, um ihre Rechnungen zu begleichen. Sie brauchen einen Krieg, in dem sie für fremde Könige, Imperatoren, und Sultane sterben können. Für Putin, Erdogan, Trump oder zweitrangige Irre wie Wilders oder Le Pen. Die Balkanstaaten sind wieder zu einer Arena geworden für die Art diplomatischer Manöver, die jederzeit militärische Gestalt annehmen können. Hier auf dem Balkan sind die Russen, nach einem vierteljahrhundert Abwesenheit, auf die europäische Bühne zurückgekehrt. Hier auf dem Balkan etablieren sich die Türken wieder in genau den Gebieten, aus denen sie vor 100 Jahren vertrieben wurden."

London Review of Books (UK), 15.06.2017

In Gaza hat die Verzweiflung der Menschen eine neue Stufe erreicht, glaubt Sara Roy nach einem Besuch in dem abgeriegelten Palästinensergebiet. Der ökonomische Druck unter Israels Blockade, aber auch die Rivalität von Hamas und PLO haben zu einem völlig neuen Ausmaß an Hoffnungslosigkeit, Korruption und Patronage geführt: "Der größte Quell politischer Spannungen zwischen der Hamas-Regierung in Gaza und der palästinensischen Autonomiebehörde in der Westbank ist die Weigerung von Präsident Abbas, die Gehälter für die Angestellten der Hamas-Regierung zu bezahlen... Abbas Weigerung ist umso bitterer, weil er volle Gehälter - zwischen 500 und 1.000 Dollar im Monat, eine hohe Summe in Gaza - an die Angestellten zahlt, die für die PA arbeiteten, bevor die Hamas die Kontrolle über das Gebiet übernahm. Diese Leute werden bezahlt, um nicht für die Hamas zu arbeiten, die PA kosten die Zahlungen 45 Millionen Dollar im Monat, Geld, das größtenteils aus Saudi-Arabien, der EU und den USA kommt. Leute dafür zu bezahlen, dass sie nicht arbeiten, hat Gazas zutiefst ungleicher Ökonomie eine weitere Verzerrung hinzugefügt. Jetzt hat Abbas diese Zahlungen allerdings um 30 bis 70 Prozent gekürzt, um Druck auf die Hamas auszuüben, die Kontrolle über Gaza aufzugeben: 'Entweder gibt die Hamas uns Gaza zurück, drohte Abbas, 'oder sie werden die volle Verantwortung für die Menschen übernehmen müssen.'"

Weiteres: Ian Jack arbeitet sich durch die neuestes Bücher der härtesten Brexiteers. Frederic Jameson liest noch einmal "Hundert Jahre Einsamkeit", mit dem Gabriel Garcia Marquez vor fünfzig Jahren die lateinamerikanische Literatur auf die literarische Weltkarte katapultierte. James Wood streift mit Thomas Hardy durch London.

HVG (Ungarn), 10.06.2017

Die Feierliche Buchwoche, als landesweite Veranstaltungsreihe ist ein Großereignis in Ungarn, bei dem Verlagshäuser ihre jüngsten Veröffentlichungen präsentieren und Autoren und Publikum sich begegnen. Zur Buchwoche erschien auch der zweite Roman der junge Schriftstellerin Zsofi Kemény (die jüngere Tochter des Dichters und Schriftstellers István Kemény) mit dem Titel "Rabok tovább" (Sklaven weiter), in der sie eine von der Y- und Z-Generationen angeführte fiktive Revolution beschreibt. In ihrem neuen Projekt "Sophie Hard Marktlücke" - eine ironische Anspielung auf die Porno-Idnustrie - tritt sie als antisexistische Rapperin auf. Im Interview mit Adél Hercsel erklärt sie: "In der Rap-Szene finden wir grundsätzlich kaum Frauen, und es handelt sich um eine Offenbarungsgattung: in den Texten wird gerne offenbart wie Frauen sind. Wir wollen es hier offenbaren: die Welt des Raps ist eine ziemliche Macho-Welt. Das Problem ist aber auch, dass es unmöglich ist, über Sexismus nicht sexistisch zu sprechen. (...) Ich denke, dass nicht nur Männer, sondern wir alle sexistisch sind. Wenn eine Frau und ein Mann auf die Bühne gehen, werden sich alle für den Mann interessieren, auch die Frauen. Wenn es bei einem Slam-Abend - manchmal - vorkommt, dass ich geistreich bin, höre ich hinterher immer: 'und das als Mädchen...' 'Sophie Hard Marktlücke' ist ein aussagekräftiger Titel. Mein Vater meinte, dass dies der beste Titel sei, den er je gehört habe, aber er ist überhaupt nicht froh darüber, dass er mit seiner Tochter BSDM-Phantasien verbindet. Da wurde mir klar, dass der Titel funktioniert und klar macht, worum es geht: das Ausgeliefertsein der weiblichen Kunstschaffenden."
Archiv: HVG

Tablet (USA), 12.06.2017

Wenn es um die Vor- und Frühgeschichte von Punk geht, wird meist die desolate Situation im New York der frühen 70er als urbaner Nährboden für den schroff-ironischen, auch vor Nazi-Symbolen nicht halt machenden Zynismus der frühen Proto-, Krypto- und tatsächlichen Punks genannt. Dass zahlreiche Protagonisten in diesem Umfeld aus jüdischen Familien mit einschlägigen historischen Erfahrungen stammen (Alan Vega, Lou Reed, Lenny Kaye, Chris Stein, Jonathan Richman zum Beispiel), wird in dieser Perspektivierung meist bis zur Unterschlagung vernachlässigt, schreibt Steven Lee Beeber. Punk - eine Reaktion also auf die Traumata der Shoah unddie Eichmann-Prozesse? Beeber macht diesen Punkt jedenfalls stark: "Ist es wirklich überraschend, dass die Kids, die im Fernsehen den Eichmann-Prozess gesehen haben, später Bands wie die Dictators und Shrapnel gründeten? Und Songs schrieben, die 'Master Race Rock' und 'Blitzkrieg Bop' hießen? Mit Textzeilen wie 'First rule is, the laws of Germany; second rule is, be nice to mommy; third rule is, don't talk to Commies; fourth rule is, eat kosher salamis'? In ihrem Essay 'Notes on Camp' schreibt Susan Sontag darüber, dass Juden und Homosexuelle auf jeweils sehr eigene Weise auf Unterdrückung reagieren: Juden mit der Waffe der 'moralischen Ernsthaftigkeit' und Homosexuelle mit der Ironie von 'Camp'. Die Juden, die Punk erschufen, reagierten mit einer neuen Sensibilität - einer Art von 'Concentration Camp'."

Und hier die Ramones mit ihrem "Blitzkrieg Bop":


Archiv: Tablet

Aktualne (Tschechien), 12.06.2017

75 Jahre, nachdem die Nationalsozialisten das tschechische Dorf Lidice auslöschten, erinnern sich Kinder von damals zurück. Um das Attentat auf Heydrich zu rächen, erschossen die Nazis damals sämtliche Männer und Jungen über 15 Jahren, deportierten die Frauen ins KZ und verbrannten die Häuser. Die wenigen überlebenden Kinder wurden zur "Umerziehung" nach Deutschland geschickt, wo sie von - zum Teil sehr liebevollen - Pflegefamilien aufgenommen wurden. Mit dieser paradoxen Erfahrung - die Deutschen sowohl als Monster als auch als umsorgende Menschen zu erleben - standen sie nach dem Krieg völlig allein. Marie Šupíková erinnert sich, wie sie nach dem Krieg erstmals ihre schwerkranke leibliche Mutter traf (die vier Monate später starb) und sich nicht mit ihr verständigen konnte, weil Marie nur noch deutsch sprach. "Ich hatte ein Foto von der deutschen Familie zur Erinnerung mitbekommen. Meine Tante, die mich nach dem Tod der Mutter aufzog, nahm es mir weg und zerriss es. Das sind nicht deine Eltern, sagte sie. Dabei hatten sie es mir in der guten Absicht mitgegeben, dass meine Mutter sehen konnte, bei wem ich gelebt hatte." In der Heimat "konnten sie es einfach nicht glauben, dass der normale Deutsche auch ein Stück Menschlichkeit besaß".
Archiv: Aktualne

New York Times (USA), 11.06.2017

Für die neue Ausgabe des New York Times Magazines schickt Elizabeth Zerofsky eine Reportage aus der Pariser Banlieue La Courneuve, wo sie - noch vor den Parlamentswahlen - Franzosen in jeder politischen Färbung findet. Sogar Le-Pen-Wähler: Bei einer Veranstaltung der Rechtsextremisten trifft sie Sandrine Abdelkader, "eine quirlige Wachfrau in ihren Vierzigern, mit langem blonden Haar, aus Aubervilliers. Sie war ihr Leben lang Sozialistin. Doch diesmal war es keine Frage: Sie würde Le Pen wählen. 'Wenn man in die Vorstädte geht und weiß ist und eine Französin, dann wird man wie eine Nutte behandelt', erklärt sie mir. ... 'Es stimmt, es gibt Cafes in Aubervilliers wo ich als Frau keinen Fuß reinsetzen kann', sagt Abdelkader, die halb deutsch, halb nordafrikanischer Abstammung ist. 'Dabei habe ich nordafrikanische Wurzeln, das ist am schlimmsten. Die Vorstädte werden explodieren. Sie sind abgeschlossen. Es gibt ein ausländisches Diktat, und eine Mentalität, die nicht die unsere ist. Es ist nicht unsere Kultur.' Ich frage Abdelkader, wie Le Pen diese Probleme lösen würde. 'Zuerst würde sie wieder definieren, wer wir sind', sagt sie. 'Woher wir kommen. Sind wir vor allem anderen Kapitalisten? Oder sind wir Menschen, die in einem Land mit Traditionen geboren wurden, mit einer Kultur? Wir haben vergessen wer wir sind. Fremde kommen zu uns und sagen: 'Wir sind Maghrebiner, wir sind Muslime, aber was sind wir? Wir sind nichts.'"

Außerdem: Matthew Shaer schildert in seinem Porträt der Whistleblowerin Chelsea Manning vor allem die persönliche Entwicklung Mannings - Politik kommt nur am Rande und ohne jedes kritische Nachfragen vor. Linda Villarosa berichtet, dass die H.I.V.-Rate unter schwarzen Homosexuellen in den USA höher ist als irgendwo sonst.
Archiv: New York Times