Magazinrundschau

Die Demo ist das neue Tinder

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
30.05.2017. Die LRB lädt Nina Simone und die Black Panther zum Panafrikanischen Kulturfestival ins spießige Algier von 1967. In Ceska pozice erkundet Luciano Floridi unser Dasein als Inforgs. In 168 ora sieht István Kemeny Pathos und Erhabenheit in die ungarische Literatur zurückkehren. Wired empfiehlt Start-ups, nach Nashville zu gehen. Mother Jones graut es allerdings vor dem Südstaaten-Geist, der mit Jeff Sessions jetzt im Justizministerium in Washington weht. Und die New York Times beginnt, sich mit Assad zu arrangieren.

London Review of Books (UK), 29.05.2017

Elaine Mokhtefi erzählt, wie sie 1969 zusammen mit Eldridge Cleaver die Black Panther nach Algerien brachte: "Cleaver war groß - er erschien mir hoch aufragend - und sexy, mit einem perfekt entwickelten Sinn für Humor und ausdrucksstarken grünen Augen. Wie hatten ein Verhältnis, keinen Sex, aber viel Vertrautheit. Als die Cleavers ankamen, arbeitete ich im Informationsministerium daran, das erste Panafrikanische Kulturfestival zu organisieren, das Musiker, Tänzer, Schauspieler und Intellektuelle aus allen afrikanischen Ländern und der schwarzen Diaspora zusammenbringen sollte, darunter auch die Panther aus den USA- Über eine Woche waren die Straßen Algier überfüllt, die Konzerte dauerten den ganzen Tag über und reichten bis in die frühen Morgenstunden. Archie Shepp, Miriam Makeba und Oscar Peterson traten auf, Nina Simones erstes Konzert mussten wir absagen, nachdem Miriam Makeba und ich sie sternhagelvoll in ihren Hotelzimmern aufgefunden hatten. Die algerischen Helfer waren schockiert: Sie hatten noch niemals eine betrunkene Frau gesehen... Cleaver und seine Gefährten - die meisten waren vor der amerikanischen Justiz auf der Flucht - waren schnell in die kosmopolitische Gemeinde der Befreiungsbewegungen integriert. Dabei bekamen die Panther nicht mit oder vielleicht kümmerte es sie auch nicht, dass Algerien selbst eine konservative, verschlossene Gesellschaft war, in der Frauen keinerlei Freiheiten besaßen, dass in der Bevölkerung ein anti-schwarzer Rassismus herrschte und dass das algerische Establishment für seine Großzügigkeit von der Gegenseite gewisse Verhaltensnormen verlangte. Die Panther ignorierten alles, womit sie nicht umgehen wollten."

Weiteres: John Lanchester erkundet in Sachen sozialer Ungleichheit den Londoner Wahlkreis Vauxhall, in dem die Lebenserwartung neun Jahre unter der des Nachbarbezirks Victoria liegt, aber chinesische Investoren neben dem MI6 gigantische Luxuswohntürme bauen dürfen (Über die katastrophale Wohnsituation in London gibt es auch eine große Recherche im Guardian). Andrew O' Hagan beklagt nach der Lektüre von Adrian Addisons "Mail Men" den Niedergang der britischen Boulevardblätter, besonders der Daily Mail, die noch nie besonders zuverlässig waren, dafür meist recht komisch und einfallsreich. Heute machen sie nur noch Jagd auf Menschen, die sie beschämen und bestrafen können.

New Yorker (USA), 05.06.2017

Die neue Doppelausgabe des New Yorker ist der Fiktion gewidmet. Philip Roth erzählt, wie er der Schriftsteller wurde, der er ist: "Man ist nicht immer begeistert von dieser Nation und ihrem Talent, Herzlosigkeit, Gier, Sektierertum und diese grauenhafte Waffenvernarrtheit zu fördern. Die Liste ist lang. Doch die Sache ist die: Ich habe mich nie auch nur für die Länge eines Satzes als amerikanisch-jüdischer oder jüdisch-amerikanischer Autor gesehen, nicht mehr als Dreiser, Hemingway oder Cheever sich als amerikanisch-christliche, christlich-amerikanische oder nur christliche Autoren sahen. Als Romanautor habe ich mich von Anfang an als freier Amerikaner gefühlt und, obgleich ich die Vorurteile, die gegen meinesgleichen in diesem Land bis vor nicht allzu langer Zeit existierten, nicht vergessen habe, als unbestreitbar amerikanisch, durch die Spanne meines Lebens gebunden an den amerikanischen Augenblick, unter dem Bann der Vergangenheit dieses Landes, an seinem Drama und seinem Schicksal teilhabend und die reiche Muttersprache schreibend, von der ich erfüllt bin."

Außerdem: Richard Ford erinnert sich an einen Teenager-Job im Jahr 1967. Jennifer Egan weiß, wie es ist, einer Gräfin zu dienen. Toni Morrison erzählt von dem Glück, seinen Eltern wichtig zu sein. Margaret Talbot berichtet über ein großes Drogenproblem im Staat West Virginia. James Wood erkundet die humoristische Seite von W. G. Sebald. Joan Acocella bespricht den neuen Roman von Arundhati Roy, der sich mit Indiens jüngster Geschichte befasst. Und Jill Lepore verkündet eine goldene Ära literarischer Dystopien.
Archiv: New Yorker

168 ora (Ungarn), 23.05.2017

Im Interview mit Sándor Szénási spricht der Dichter und Schriftsteller István Kemény über den stetigen Wechsel von Pathos und Ironie in der ungarischen Literatur: "In der Literatur gibt es, wie auch in der Geschichte oder der Mode, eine Pendelbewegung. Richtungen, Themen, Sprechweisen kommen und gehen und kehren dann wieder zurück. Das 'Denken in Volk und Nation' ist ein ebenso grundlegender Bestandteil der ungarischen Literatur wie das 'Denken in Subjekt und Prädikat'. Einfacher könnten wir auch von Romantik und Realismus sprechen, oder von Pathos und Ironie. In den Neunzigern überwog die Ironie in der ungarischen Literatur, doch es war vorprogrammiert, dass das Pathos und die Ernsthaftigkeit in irgendeiner Form wiederkehren werden. Ich denke, dass dies nach der Jahrtausendwende anfing. Pathos und Geschichtlichkeit wurden in den Neunzigern weltweit für einen Witz gehalten - siehe die Rede vom 'Ende der Geschichte'. Es war ein befreites Jahrzehnt, beinahe ein glückseliges, zumindest hier im Westen (oder im Beinahe-Westen) ... Seit dem Großputz der Neunziger sammelt sich der Dreck wieder, die Zukunft verdunkelt sich wieder und in der Literatur erhalten Pathos und das Erhabene eine immer größere Rolle."
Archiv: 168 ora

Magyar Narancs (Ungarn), 25.05.2017

Seit Monaten wird nicht nur in Budapest regelmäßig gegen diverse Vorhaben der ungarischen Regierung demonstriert. Péter Urfi überlegt, warum gerade die Jüngeren so viel Präsenz zeigen, denen so oft ihre "Politikverdrossenheit" nachgesagt wird: "Die jungen Intellektuellen sehen, dass die Regierung lächerlich, aber auch gefährlich ist. Gegen sie zu kämpfen, ist sinnvoll, in politischen Parteien, aber nicht nur dort: In den tapferen NGOs, durch Spenden, auf der Straße laut prtestierend oder im Internet kommentierend... Politik ist trendy, die Demo ist das neue Tinder. Das System ist hinreichend autoritär, so dass Widerstand sinnvoll, aber auch anziehend ist. Und es ist nicht so repressiv, dass dabei nur die Helden zu Wort kommen würden ... Beim Protest, beim Zusammenschluss, bei der Aussage des Gedachten winken wohl keine fetten Posten im 'System der nationalen Kooperation' und in extremen Fällen steht da die Entlassung, ein Angriff bezahlter Glatzen oder der Besuch von der Polizei nach den Demonstrationen. Doch das eigene Leben ist nicht in Gefahr, es droht auch kein Gefängnis. In Österreich ist es langweilig, oppositionell zu sein, in der Türkei ist es lebensgefährlich. Bei uns gibt es Konzept, Ziel und Möglichkeiten. Und so gibt es auch Hoffnung."
Archiv: Magyar Narancs

Ceska pozice (Tschechien), 28.05.2017

Přemysl Houda unterhält sich mit dem italienischen Informationsphilosophen Luciano Floridi über unser Dasein als Inforgs - in eine Infosphäre eingebettete Organismen. In Bezug auf Google, Facebook und Konsorten findet Floridi "die Vorstellung irrsinnig, wir würden irgendwelche Dienste kostenlos nutzen, denn wir bezahlen mit uns selber, mit unseren Daten, wir verkaufen uns." Dennoch lehnt Floridi den Vergleich mit dem vielbemühten Orwell'schen Big Brother ab: "Es gibt da einen großen Unterschied. Orwells Welt ist eine politische Dystopie, da geht es nicht um Wirtschaft. In dem einen Fall hat man die Politik der Kontrolle und der absoluten Machtausübung über den Menschen, im anderen das ökonomische Interesse vieler Firmen, die menschlichen Wünsche zu erkennen und zu befriedigen. Natürlich gibt es eine gewisse Ähnlichkeit, da beide als Mittel Informationen - und möglichst viele davon - nutzen, weshalb auch in beiden Fällen ein großer Druck ausgeübt wird, Privates preiszugeben. Doch damit endet schon die Ähnlichkeit … Was tun Facebook oder Google, wenn Sie beschließen, sie nicht mehr zu nutzen? Nichts, dann ist eben Schluss. Was tut hingegen der Big Brother, wenn Sie gegen ihn aufbegehren? Lässt er Sie in Ruhe? Nein - er wird Sie augenblicklich umbringen, auslöschen." Doch was ist mit der politischen Datenkontrolle in Zeiten des Terrors? "Ich will, dass die Regierung mir sagt: 'Lieber Bürger, zwei Wochen oder zwei Monate lang werden die Sicherheitsmaßen erhöht und dieses oder jenes stärker kontrolliert werden, anschließend kehren wir sofort zum vorherigen Zustand zurück.' … Aber geschieht so etwas heute? Kein bisschen."
Archiv: Ceska pozice

Slate.fr (Frankreich), 29.05.2017

Eric Leser beschäftigt sich mit dem Mythos vom islamistischen Attentäter als einsamem Wolf. Der Glaube an Islamisten als Einzeltäter spiele den extremistischen Netzwerken ebenso in die Hände wie den überforderten Sicherheitsdiensten, meint Leser: "Für Islamismus-Forscher existiert der einsame Wolf nicht. Der Heilige Krieg ist nichts, was man beschließt oder allein führt. Es ist ein gemeinsamer Kampf, in dem es um Zugehörigkeit und Treue geht ... Der Begriff ist auch ein nützliches Kommunikationswerkzeug für terroristische Organisationen. Wenn wir von anonymen Dschihadisten umgeben sind, die jeden Moment bereit sind zuzuschlagen, verstärkt das die Angst und polarisiert die öffentliche Meinung. Das ermöglicht den Dschihadisten, ihre Schlagkraft hochzuspielen ebenso wie ihre Fähigkeit, unserer Gesellschaften zu infiltrieren."“
Archiv: Slate.fr

Wired (USA), 23.05.2017

Wer in den USA in den neuen Arbeitssektoren der IT-Branche und der Start-ups etwas werden will, zieht entweder nach New York oder ins Silicon Valley - das Landesinnere hat das Nachsehen, schreibt Vauhini Vara in einer Reportage über Start-ups jenseits der Hotspots. "Doch dieses Szenario bringt einige Probleme mit sich. Zusammengefasst ergeben sie das größte wirschaftliche Dilemma der Nation: Unternehmen mit hohen Wachstumsraten stellen heutzutage die Hälfte aller neuen Jobs in den USA. Und der Großteil der Start-ups befindet sich an ein paar wenigen Orten .... Wohlstand und Arbeitsplätze bündeln sich also in wenigen ausgesuchten Städten. Die gute Nachricht: Auch dank günstiger Online-Tools ist es in den letzten Jahren leichter und billiger geworden, abseits der üblichen Orte ins High-Tech-Business einzusteigen. Unternehmer treten nicht nur in Denver auf, sondern auch in Charlotte, Nashville und anderen Orten, die einige gemeinsame Faktoren teilen: kulturelle Lebhaftigkeit, Diversität, viele Universitäten und große Firmen. Die schlechte Nachricht: Die Wahrscheinlichkeit, als Unternehmer einen großen Hit zu landen, ist im Silicon Valley noch immer höher, wo immer noch mehr Invesitionskapital fließt und mehr Börsengänge stattfinden."

Außerdem gratuliert Klint Finley dem GIF-Bildformat zum dreißigsten Geburtstag - ohne die Kurzanimationen wären zahlreiche Social-Media-Redaktionen vermutlich aufgeschmissen.
Archiv: Wired

Mother Jones (USA), 01.06.2017

Donald Trump mag als Präsident irrlichtern, Justizminister Jeff Session dagegen weiß genau, was er tut. Pema Levy blickt auf Sessions finstere Ägide als Staatsanwalt in Alabama zurück, wo er nicht nur die Gegner seiner Spender in Grund und Boden klagte, sondern auch schwarze Bürgerrechtler anging, die im Black Belt nur mit Mühe ihr Wahlrecht durchsetzen konnten: "Um die Beteiligung zu erhöhen, begannen Community Organizer unter der Führung von Albert Turner, einem früheren Mitarbeiter von Martin Luther King, schwarze Wähler zur Briefwahl zu animieren, vor allem Älteren, die Schwierigkeiten hatten, es in das nur für wenige Stunden geöffnete Wahllokal zu schaffen. 1982 gewannen endlich die Kandidaten, die von Turner und seinen Verbündeten unterstützt wurden. Zwei Jahre später begann Sessions, gegen die Briefwahl in fünf ländlichen Bezirken zu ermitteln, in denen der Einfluss schwarzer Wähler gestiegen war. Er beschuldigte Turner, dessen Frau und einen weiteren Organizer des Wahlbetrugs. Der Fall gegen die als Marion Three bekannt gewordenen Aktivisten brach in sich zusammen, die Jury befand sie nicht schuldig."

In der New York Review of Books fürchtet auch David Cole, dass mit dem Südstaaten-Hardliner Sessions ein Rückfall in die dunkle Zeiten vor den Bürgerrechten droht. Auch Sessions Forderung, jede Tat so streng wie möglich zu bestrafen, missbehagt Cole.
Archiv: Mother Jones

Washingtonian (USA), 21.05.2017

Matt Boyle zählt zu den lautesten Krawallhupen, die im Zuge des Rechtsrucks auf der Bühne der amerikanischen Öffentlichkeit aufgeschlagen sind: Mit seinem flegelhaften Furor hat es der heute 29-jährige Breitbart-Kommentator noch unter der Ägide Steve Bannons binnen kurzer Zeit nach oben geschafft - heute genießt er einen privilegierten Direktzugang zu Präsident Trump. In Luke Mullins' Porträt erscheint der fanatische Schreiberling jedoch als ziemlich trübe Tasse - auch wenn Mullin den Porträtierten als "menschlichen Molotov-Cocktail wider das politische Establishment" anmoderiert. "Boyle hatte bereits Vorbehalte gegenüber Washingtons verschanzte Polit- und Medienkasten, doch erst unter Bannons schützender Hand begann er sie als Teil einer 'globalistischen Elite' zu betrachten, die die Absicht hegt, den demokratischen Prozess den gewöhnlichen Amerikanern zu entreißen. In diesem Feldzug der Bloßstellung war kein Ziel tabu. 2013 ließ Boyle jegliche journalistische Gepflogenheit - und berechtigte Sicherheitsbedenken - fahren und machte in einer 'exklusiven' Geschichte den Ort öffentlich, an dem Sasha und Malia Obama ihre Frühlingsferien verbrachten... 'Ich kann Leute bis ins Mark verängstigen', sagt Boyle zu mir, 'und dabei habe ich jede Menge Spaß.' ... Laut Jonathan Strong, seinem früherem Redakteur bei Breitbart, kennt Boyle nur zwei Haltungen: 'Entweder will er dich umbringen oder dir einen blasen.'"
Archiv: Washingtonian

New York Times (USA), 28.05.2017

In der neuen Ausgabe des New York Times Magazines fragt Robert F. Worth, wie es in Aleppo nach dem Bürgerkrieg weitergeht: Bietet Assad die beste aller möglichen syrischen Welten? "Aleppo war Wendepunkt und Emblem des Krieges. Sein Fall hat viele Syrer überzeugt, dass das Regime trotz seiner Gewaltsamkeit und Korruption der Normalität am nächsten kommt. Auch Trump denkt so. Er weiß, dass die Alternative kein besserer Ort ist, sondern Anarchie, bestimmt von den Warlords in den Straßen … Doch Assads Popularität rührt nicht nur von seiner Rolle als Garant für säkulare Ordnung. Er hat sich auch raffiniert als Beschützer gegen sein eigenes Regime positioniert. Kurz vor meiner Ankunft in Aleppo im März hatte ein Kommandeur der republikanischen Garde verkündet, gegen Plünderung, Raub und Angriffe auf öffentliches Eigentum und die Freiheit der Bürger und ihre Habe vorzugehen. Eine späte Reaktion auf die monatelangen Plündereien der verschiedenen paramilitärischen Gruppen vom Rand der syrischen Armee und von der Armee selbst."

Außerdem: Alec McGillis berichtet über die unangenehmen Eigenschaften von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner als Vermieter. Molly Young erkundet das Celebrity-Wellness-Business. Und Marcela Valdes überlegt, wie sich Trumps Einwanderungsgesetze austricksen lassen.
Archiv: New York Times