Magazinrundschau

Bandbreiten des kriechenden Schreckens

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
21.03.2017. Vanity Fair betrachtet die Spaltung der USA in Kolonie und Nation. The Nation porträtiert die algerischen Verleger Sofiane Hadjadj und Selma Hellal. Buzzfeed schildert die Methoden russischer Regierungshacker. En attendant Nadeau erzählt, wie die Soziologie die Philosophie erledigt und weiterführt. Die New York Times begleitet einige Aktivisten des arabischen Frühlings ins Gefängnis.

Vanity Fair (USA), 01.04.2017

Die unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen Schwarze muss aufhören, meint Chris Hayes. Amerika zerfalle heute in zwei Welten - die Nation, in der das Recht herrscht, und die Kolonie, in der um jeden Preis Ordnung herrschen muss. Wer nun glaubt, das sei alles ein Problem der Schwarzen, der irre: "Die Kolonie ist hauptsächlich braun und schwarz, aber in der Folge von Finanzkrise, Deindustrialisierung und Lohnstagnation wurden die Kontrollsysteme der Kolonie über immer größere Teile des Amerikas der weißen Arbeiterklasse ausgedehnt. Würde man jeden afroamerikanischen und Latino-Gefangenen aus den Gefängnissen entlassen, hätten die Vereinigten Staaten immer noch eines der am stärksten bevölkerten Gefängnissysteme der Welt. Und diese weißen Gefangenen setzen sich aus einer dramatisch hohen Anzahl von Armen und Ungelernten zusammen. Seit 2008 waren fast 15 Prozent der weißen Highschool-Abbrecher im Alter zwischen 20 und 34 im Gefängnis. Bei den weißen Collegeabsolventen lag die Quote bei unter einem Prozent. Das macht die Aufrechterhaltung der Teilung zwischen Kolonie und Nation so heimtückisch: die fortwährende Drohung, dass die Werkzeuge, die in der Kolonie geschliffen wurden, gegen die Nation eingesetzt werden, dass Tyrannei und Gewalt, die an der Peripherie geduldet werden, am Ende den Kern infiltrieren."

Das Metropolitan Museum in New York hat seinen Direktor Thomas Campbell gefeuert, der offenbar alles falsch machte, was man sich nur vorstellen kann, wie William Cohan zusammenträgt: Campbell behandelte seine Mitarbeiter schlecht, belästigte Frauen und setzte die Digitalisierung in Sand, obwohl die zuständige Abteilung am Ende mehr Mitarbeiter beschäftigte als alle anderen Abteilungen zusammen. Die bedeutendste Kulturinstitution der Menschheit verlor den Anschluss. Besonders verübelt wurde Campbell allerdings, dass er sich mit einer Großschenkung von Leonard und Ronald Lauder dazu drängen ließ, jetzt auch auf moderne Kunst zu setzen, als wäre nicht das Museum of Modern Art gleich nebenan. Und was Berliner Museumsmanager aufhorchen lassen sollte: "Beobachter hielten es auch für falsch, dass das Met sich darauf einließ, einen eigenen Flügel für Lauders Kubisten-Sammlung zu bauen. Robert Storr, Professor an der Yale School of Art und lange Zeit Kurator am Moma, hält es für eine Sache das Prinzips. 'Es ist eine Sache, eine solche Sammlung anzunehmen. Eine andere ist es, für die geschenkten Schätze die Räumlichkeiten erweitern zu müssen. Es macht eine bedeutende Museumsammlung aus, dass sie eben keine Kapellen für eine Kunstrichtung oder für einzelne Sammlungen errichtet.' Als noch problematischer erwies sich Cambells Entscheidung, das Projekt zu lancieren, bevor er überhaupt die nötigen 600 Millionen Dollar beisammen hatte. Denn das Geld floss nur spärlich. Der Vorstand unterstützte das Vorhaben nur zögerlich. Angeblich waren nur die beiden Blackstone-Partner, Tony James und Tom Hill, dafür und spendeten jeweils zehn Millionen Dollar - aber selbst das ließ den Großteil der Summe offen. Im Januar musste das Museum die peinliche Ankündigung machen, dass der neue Flügel auf unbestimmte Zeit verschoben werde."
Archiv: Vanity Fair

Aktualne (Tschechien), 20.03.2017


Ai Weiwei, Law of the Journey, Installationsansicht. Bild courtesy Nationalgalerie Prag

Als Teil der Ausstellung "Law of the Journey" hat der chinesische Künstler Ai Weiwei im Prager Messepalast Veletržní palác ein 17 m langes schwarzes Schlauchboot installiert, das mit über 250 Flüchtlingsfiguren vollgepfercht ist. Martin Fendrych zeigt sich beeindruckt von dem erhöht im Raum schwebenden Boot (unter dem sich der Betrachter wie hilflos im Wasser fühlt) und erinnert daran, dass der funktionalistische Messepalast in den Jahren 1939 bis 1941 von den Nazis als Versammlungsort für Juden diente, die nach Theresienstadt deportiert wurden. "Es ist unmöglich, diesen höllischen Zusammenhang zu ignorieren, wo wir Tschechen uns gerade weigern, auch nur tausend Muslime aufzunehmen." Tatsächlich hat sich Weiwei gezielt Tschechien als Ausstellungsort ausgesucht, wie er im Interview sagt, ein Land, das selbst eine starke Migrationsgeschichte habe und sich in der Flüchtlingspolitik nun unglücklich verhalte. (Das Interview ist auf Englisch geführt und lässt sich am Ende des Artikels aufrufen.) Auf die Frage, wie der Westen auf die chinesische Politik Einfluss nehmen könnte, antwortet Weiwei recht dezidiert, der Westen solle sich nicht in China einmischen, sondern sich um seine "sogenannten westlichen Werte" und die Menschenrechte kümmern, die in vielen westlichen Ländern nicht konsequent eingehalten würden.
Archiv: Aktualne

The Nation (USA), 14.03.2017

Alice Kaplan stellt das gerade aufregendste Verlegerpaar Algeriens vor: Sofiane Hadjadj und Selma Hellal. Die beiden haben während des algerischen Bürgerkrieges in den neunziger Jahren in Paris studiert und zusammen Derridas Vorlesungen über Asyl und Gastfreundschaft gehört. Jetzt führen sie in Algier die Editions Barzakh, deren Bücher regelmäßig die algerische Kulturszenerie in Aufruhr versetzen, zuletzt mit Samir Toumis Roman "L'Effacement", der den Neoptismus der maßlos verherrlichten Freiheitskämpfergeneration recht blasphemisch anging. Bazarkh ist das mentale Äquivalent zu einem Isthmus, ein Limbo, aber auch ein Reich außerhalb von Raum und Zeit, erklärt Kaplan: "Hellal und Hadjadj hätten bei Algeriens Wiederaufbau helfen können, indem sie die Talente einsetzten, die sie bereits entwickelt hatten - sie als Journalistin, er als Architekt -, doch das Paar hatte eine andere Vorstellung. Sie waren überzeugt, dass Algerien sich nicht von der Dekade des Horrors erholen könnte ohne ein elementares Recht, das jeder Europäer und Amerikaner für selbstverständlich hält: das Recht auf Fantasie und Geschichten. Also wollten sie der algerischen Literatur Aufnahme gewähren, einer Kultur in Not helfen."
Archiv: The Nation

Fathom (Großbritannien), 20.03.2017

Matthias Küntzel, Spezialist für unterirdische Kontinuitätslinien von Nationalsozialismus zum Islamismus, wirft einen Blick auf die Wochen vor dem Sechstagekrieg, der bald fünfzig Jahre her ist. Gamal Abdel Nasser, schreibt er, machte sich einen populären Antisemitismus der "arabischen Straße" zunutze, der einst auch von den Nazis gezüchtet worden war: "Obwohl Nasser leugnete, selbst ein Antisemit zu sein ('auf persönlicher Ebene war ich nie Antisemit') betonte er die große Bedeutung der 'Protokolle der Weisen von Zion' für das Verständnis der Weltpolitik und behauptete öffentlich, dass 'dreihundert Zionisten das Schicksal des europäischen Kontinents bestimmen': Wer immer an so etwas glaubt, muss auch den Holocaust leugnen. Nasser leugnete ihn direkt ('niemand nimmt die Lüge über die sechs Millionen angeblich ermordeten Juden ernst') und indirekt mit seiner Behauptung, dass 'Ben Gurion so viele Araber tötete wie Hitler Juden'."
Archiv: Fathom

Buzzfeed (USA), 19.03.2017

Sheera Frenkel kann die Vorwürfe gegen russische Regierungshacker in einem langen Hintergrundartikel recht substanziell machen. Eine wichtige Rolle spielen in ihrem Artikel Attacken auf ukrainische Kraftwerke, die zweimal zu großen Stromausfällen in der ukrainischen Provinz und in Kiew führten. Die meisten dieser Attacken wurden durch Phishing-Mails an Mitarbeiter der Kraftwerke ausgelöst - eine Waffe, mit der auch die Mails der Demokratischen Partei im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf erbeutet wurden. Aber bei dem letzten der Provinzkraftwerke in der ersten Attacke auf die Ukraine wurde ein anderes Prinzip ausprobiert, und diese Attacke "war die interessanteste und furchterregendste. In diesem Kraftwerk, das ukrainische Offizielle und Forscher bis heute nicht namhaft machen wollen, entschieden die Hacker, eine wesentlich komplexere Methode anzuwenden. Sie bauten ein Spiegelbild des 'supervisory control and data acquisition system' (SCADA), mit dem Einrichtungen wie Kraftwerke betrieben und kontrolliert werden. Mit ihrer perfekten Replik des Systems sandten sie dann Befehle, die das System als seine eigenen akzeptierte." Dieser Angriff, so die Autorin, war eine klare Botschaft an die USA und wurde dort auch so wahrgenommen.
Archiv: Buzzfeed

New Yorker (USA), 20.03.2017

In der neuen Ausgabe des New Yorker porträtiert Joshua Rothman den Philosophen Daniel C. Dennett, der eine ganz eigene Theorie zur Entstehung der Seele entwickelt hat: "Dennett ist der Meinung, dass es sich wie bei der Evolution um eine graduelle Entwicklung handelt. Seine Antwort auf die Frage, ob Tiere ein Selbstbewusstsein besitzen, lautet: Sie haben quasi eines. Dieses 'quasi' passt zu Dennett. Wir müssen uns das Gehirn als eine Ansammlung von Subsystemen vorstellen, meint er, die 'quasi' wissen, denken und fühlen. Diese Schichten schließen sich letztlich zu dem echten Selbstbewusstsein zusammen. Tiere haben weniger mentale Schichten als der Mensch, sie haben keine Sprache, die Dennett für essenziell hält für die Komplexität und die Textur des menschlichen Geistes, aber deswegen sind sie noch lange keine Zombies. Es bedeutet nur, dass sie 'quasi' über ein Bewusstsein verfügen, wie wir es besitzen."

Außerdem: Michael Schulman stellt das kritische Gegenwartstheater der Dramatikerin Lynn Nottage vor. Und Jane Mayer porträtiert den steinreichen Hedgefonds-Manager Robert Mercer als Strippenzieher hinter Trumps Präsidentschaft.
Archiv: New Yorker

LA Review of Books (USA), 11.03.2017

Sehr interessiert liest der Literaturwissenschaftler Roger Luckhurst den neuen Essayband "The Weird and the Eerie" des Pop- und Kulturtheoretikers Mark Fisher, der sich vor wenigen Wochen umgebracht hat. Dem Autor, staunt Luckhurst, gelingt es, "auf magische Weise den post-Lacanschen, post-Zizekianischen Marxismus und die radikal anti-subjektivistische Philosophie von Gilles Deleuze verständlich wiederzugeben". Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen so disparate Werke wie unter anderem die Gruselgeschichten von H.P. Lovecraft, deutsche Fernsehserien von Rainer Werner Fassbinder oder die Filme von David Lynch. Im einzelnen gehe es Fisher um eine Präzisierung des Begriffs des "Unheimlichen" bei Freud, den er aufspaltet in "weird" (das Sonderbare, Merkwürdige) und "eerie" (das Gespenstische, das Gruselige). Vor allem im Begriff des Gespenstischen liegt Fischers maßgebliche Leistung, schreibt Luckhurst: "Er entnimmt diesen Begriff dem saloppen Alltagsgebrauch und lädt ihn mit einem konzeptuellen Rigor auf: Orte sind gespenstisch; menschenleere Landschaften sind gespenstisch... Das Gespenstische offenbart sich in Fishers zentraler Einsicht als Spur einer undurchschaubaren Instanz, die ohne eigenen oder nur mit einem enervierend nicht-subjektiven Trieb auskommt, der unser Verhalten auf rätselhafte Weise aus dem Innern heraus steuert. Diese Einsicht gewinnt Sinn aus den stilleren emotionalen Bandbreiten des kriechenden Schreckens oder einer unausweichlichen Verdammnis, die die kritisch-analytische Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Gothic, die laut von Körperhorror und Torture Porn plärrt, in wesentlichen Facetten nicht zu greifen bekommt. Statt sich mit diesen Feldern zu beschäftigen, zieht Fisher eine Bahn durch die Nachkriegskultur Großbritanniens. Was ist es, das die Vögel in Daphne Du Mauriers Kurzgeschichte (oder in Hitchcocks re-ödipalisierter Adaption) dazu bringt, sich in unversöhnlicher Bösartigkeit zusammenzurotten?" Auf Deutsch wird das Buch aktuell auch von Christian Werthschulte in der Jungle World besprochen.

En attendant Nadeau (Frankreich), 14.03.2017

"Das Zeitalter der Sozialwissenschaft" ist das Thema der Besprechung eines Buchs über die Entstehung der Soziologie: "La révolution sociologique - De la naissance d'un régime de pensée scientifique à la crise de la philosophie (XIXe -XXe siècles)". Sein Autor Marc Joly beschreibt darin die Umwälzungen, welche die Soziologie im Geistesleben auslöste, als sich diese "Paria-Disziplin" aus ihrer Randstellung löste - und zwar, so seine These, auf Kosten der Philosophie. Das belege er, so der Rezensent, freilich nicht vollkommen: "Sagen wir es gleich: Die These (von der fortschreitenden Disqualifizierung der Philosophie) wird nicht empirisch verifiziert. Die Metaphysik ist auch 2017 nicht verschwunden, ebenso wenig wie Erkenntnistheorie, Moral und Ästhetik. Mehr noch: Soziologen beziehen sich bei der Konstruktion ihrer Inhalte auch weiterhin auf philosophische Problemstellungen. Nicht alle gehen jedoch so weit wie Jean-Claude Passeron ... der meint, jede soziologische Fragestellung sei philosophischen Ursprungs, wenn er behauptet, dass 'eine anthropologische Hypothese in den Sozialwissenschaften niemals so neu ist, dass sie sich nicht in einer abstrakten Formulierung bei einem Philosophen finden ließe.'"

New York Times (USA), 20.03.2017

In der aktuellen Ausgabe des New York Times Magazines berichtet Joshua Hammer von der Verfolgung und Bedrohung ägyptischer Aktivisten sechs Jahre nach dem Arabischen Frühling. Der Druck ist unter Sisi eher größer geworden. Dafür sorgen auch die Gerichte: "Einer der berüchtigsten, Mohammed Nagy Shehata, auch bekannt als der 'Scharfrichter', ein Überbleibsel aus der Mubarak-Ära, hat hunderte von langen Gefängnisstrafen und Todesstrafen gegen prodemokratische Aktivisten ausgesprochen. Anfang 2016 verurteilte Shehata drei junge Mitglieder der Demokratiebewegung 6. April, die an einem Gedenkgottesdienst für ermordete Kameraden teilgenommen hatten, zu lebenslangen Haftstrafen, weil sie ohne Genehmigung demonstriert, Feuerwerk besessen und falsche Informationen verbreitet hätten. (Die Strafen wurden später auf zehn Jahre reduziert.) Im Juni 2014 verurteilte ein anderer Kairoer Richter 25 friedliche Demonstranten, einige von ihnen noch Teenager, zu 15 Jahren Haft wegen Verletzung des Demonstrationsgesetzes, Straßenblockade und Angriffe auf öffentliche Institutionen."

John Herrman macht uns darauf aufmerksam, dass heute alles "zur Waffe gemacht" wird, Tweets, fake news, ein Lächeln. Das geschieht nicht ohne Absicht: "Der Vorwurf, etwas werde zur Waffe gemacht, wird sowohl dazu verwendet, um eine Rhetorik zu beschreiben, die zur Gewalt anstiften kann, als auch dazu, eine gewaltsame Rhetorik zu kritisieren. Er wird gegen das Gewaltmonopol des Staates erhoben, aber auch gegen die, die den Staat herausfordern. Er führt zu falschen Gleichsetzungen und bietet eine Entschuldigung für denjenigen, der selbst Gewaltsames im Schilde führt. Als Metapher führt er zu Paranoia und hinterlässt den Eindruck, dass nichts vom kriegerischen Element verschont ist. Plötzlich lauern die Mittel der Gewalt überall und warten nur darauf, von unseren Feinden benutzt zu werden."
Archiv: New York Times