Magazinrundschau

Auf der Höhe eines Tatami

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.01.2017. Vergesst Amerikaner und Briten, die Schweden sind die wahren Feldherren im Cyberkrieg, berichtet die New York Review of Books. Il Post weiß, warum Heroin ein Comeback feiert. Film Comment grübelt über die traurigen Filme des Trump-Beraters Steve Bannon. Das New York Magazine grübelt über die fehlenden politischen Ansichten des Trump-Beraters Jared Kushner. Slate.fr erklärt den Unterschied zwischen einem Hollywoodfilm und einem IS-Film.

New York Review of Books (USA), 19.01.2017

Dass Amerikaner und Briten das Internet absaugen, wissen wir inzwischen. Aber die Schweden? Hugh Eakin rekonstruiert in einem aufschlussreichen, wenn auch etwas umständlichen Text, wie das skandinavische Vorzeigeland mit seinem FRA-Geheimdienst zum Vorreiter der digitalen Überwachung wurde. Die Schweden sind "Feldherren im Cyber-Krieg" geworden, und das nicht nur wenn es um die durch die Ostee verlaufenden russischen Kommunikationkanäle geht, so Eakin: "Anders als in den USA und Großbritannien war nationale Sicherheit nie von überragender Bedeutung. Seit mehr als zweihundert Jahren verfolgt Schweden eine Politik offizieller Neutralität, es gehört nicht zur Nato, und im Krieg gegen den Terror spielt es nur eine untergeordnete Rolle. In den vergangenen zehn Jahren setzte sich die schwedische Regierung für ein freies Internet in Entwicklungsländern ein, als einem Kernelement der Demokratie. Mit dem Aufstieg des Internet drohte die FRA - ein Spionagedienst für Radio, Radar und andere Signalaufklärung -, überflüssig zu werden. In den frühen Nullerjahren, entwickelte es eine Technologie, die unterseeischen Glasfaserkabel anzuzapfen, über die fast alle interkontinentalen E-Mails und Telefonanrufe verlaufen, und 2007/2008 brachte die damals von der Moderaten Partei geführte Regierung das Gesetz ein, das der FRA Zugriff auf die Kabel erlaubte. Dem Spionagedienst wäre damit auch ermöglicht worden, die herausgezogenen Metadaten für ein Jahr zu speichern - angeblich in einer riesigen Datenbank mit dem Namen Titan. Zu jener Zeit gab es öffentliche Proteste auf den Stufen des Parlaments und Gruppen wie die amerikanische Electronic Frontier Foundation erklärten, dass solche weitreichende Überwachungsbefugnisse beispiellos seien. Doch nachdem die Regierung einige Zugeständnisse gemacht hatte, inklusive einer geheimen juristischen Aufsicht, wurde das Gesetz Juni 2008 verabschiedet und die Debatte beendet."

Um nachzuvollziehen, wie Europa in nur zehn Jahren vom glücksverwöhnten Kontinent zur auseinanderbrechenden Krisenregion werden konnte, empfiehlt Timothy Garton Ash die beiden ins Englische übersetzten Europa-Bücher von Philipp Ther ("Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent") und Jan-Werner Müller ("Was ist Populismus").

Ceska pozice (Tschechien), 07.01.2017

Viele weiße Bärte - in Prag trafen ehemalige Unterzeichner der Charta 77 zum 40. Jahrestag zusammen. Dabei schwelgten die Teilnehmer nicht nur in Erinnerungen, sondern mahnten auch heute die Beachtung von Menschenrechten an. Unter den Rednern äußerte der Philosoph Jan Sokol: "Heute sehe ich als größtes Problem das öffentliche Lügen in der Politik, das sich nicht einfach bagatellisieren lässt. Das öffentliche Leben muss sich gewissen Prinzipien unterordnen, unter anderem dass zynisches Lügen nicht angebracht ist. Darauf zu beharren gilt heute ebenso wie damals." (Das tschechische Fernsehen bringt aus Anlass des Jahrestags eine Reihe von Dokumentationen - alle auf Tschechisch, versteht sich.)
Archiv: Ceska pozice
Stichwörter: Charta 77, Sokol, Jan

The Atlantic (USA), 28.02.2017

Eine inneramerikanische Literaturdebatte mag für deutsche Leser nicht so von Belang sein, aber William Deresiewicz' Essay ist so leidenschaftlich und polemisch rasant geschrieben, dass er dennoch lohnt. Deresiewicz, der durch eine Kritik an amerikanischen Elite-Universitäten bekannt wurde, setzt sich mit John D'Agatas jüngst publizierten Essay-Anthologien auseinander, die er sich nur deshalb zur Brust nimmt, weil D'Agata Creative Writing an der University von Iowa lehrt - offenbar das renommierteste Institut Amerikas. Er wirft D'Agata vor, eher poetisch-literarische, ja lyrische Texte auszuwählen und führt eine Menge seiner Meinung nach prätenziösen Gedrechsels an, das D'Agatha nun zum offiziellen Lehrstoff für zahllose Studenten macht: "D'Agatha lehrt Creative Writing, und sein Material ist tatsächlich 'kreativ' im schlimmsten Studi-Sinn: weder Fiktion, noch Lyrik, noch Erinnerung, noch Essay, sondern sprachverliebtes Geschwätz, das alles und nichts zugleich ist, und formlos, monoton, selbstverliebt und stumpf." Am meisten aber wirft Deresiewicz dem Professor aus Iowa ein allzu liberales Verhältnis zu Fakten vor. Sein Gegenprogramm: "Der Essay zieht seine Stärke nicht aus der Trennung von Vernunft und Fantasie, sondern daraus, dass sie in Beziehung treten. Ein guter Text fließt zwischen Denken und Fühlen. Er unterwirft das Persönliche der Strenge des Intellekts und der Disziplin der äußeren Realität. Er sucht mehr als nur emotionale Wahrheit.
Archiv: The Atlantic

New Yorker (USA), 16.01.2017

In der neuen Ausgabe des New Yorker stellt uns Adam Gopnik aus Anlass der englischen Übersetzung von Philippe Desans Montaigne-Biografie ("Montaigne: A Life") den Erfinder des Liberalismus und des Essays nebst seiner Motivation vor: "Der erste Mittel, um mit der Verrücktheit der Politik klarzukommen, ist sich nicht von ihr verrückt machen zu lassen. 'Wenn ich sehe, was unter Ehrlichkeit verstanden wird, dann behüte Gott, dass ich ein ehrlicher Mann werde', schrieb Montaigne … Seine Essays stellen eine unpersönliche Form der Intimität her und gehen so mit der Angst vor allzu leidenschaftlichem und politischem Engagement um. Aber jede Form der Schriftlichkeit erschafft sich ihren eigenen Leser. Ein Sonett ist an ein unspezifisches Objekt der Begierde gerichtet und ein Essay an einen unbekannten Vertrauten … Der Essayist baut auf die Illusion des intimen Bekenntnisses. 'Du bist mein bester Freund' - sagt Montaigne wie jeder ihm nachfolgende Essayist zum Leser. Durch die Dramatisierung einer Einsamkeit, die nur der Leser heilen kann, gehören die Bekenntnisse schließlich allen … Weit davon entfernt, der Isolation entsprungen zu sein, entstanden die Essays, während Montaigne sich in der Politik engagierte, reiste und schließlich Bürgermeister von Bordeaux wurde. Statt in der Bibliothek, wie der Autor poetischerweise formulierte, entstanden die meisten Essays unterwegs als Diktat."

Außerdem: Vinson Cunningham stellt Kirk Franklin, den neuen Gott des Gospels vor. Sheelah Kolhatkar untersucht den Fall des Börsenmaklers Steven A. Cohen, an dem sich US-Behörden die Zähne ausbeißen. Ian Parker berichtet über skandalöse Tötungspraktiken in dänischen Zoos. Und Rachel Aviv trifft den Ex-Black-Panther Albert Woodfox, der nach 40 Jahren Isolationshaft letztes Jahr freikam.
Archiv: New Yorker

Il Post (Italien), 07.01.2017

In Italien gibt es eine Art Comeback des Heroins, schreibt Ludovica Lugli in il post.it. Und dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits ist der Preis für Heroin fast auf das Niveau von Marihuana gesunken. Früher hätte das Gehalt eines Arbeiters für sechs oder sieben Gramm gereicht, heute reicht es für vierzig Gramm. Und das Heroin wird in Mikrodosen verkauft, die bereits für 2 bis 5 Euro zu haben sind. Darum sinkt auch das Alter der Abhängigen: "Vor Mailand wurde Heroin schon in Perugia und Bologna in kleinen Dosen verkauft. Es scheint sich um eine Art Promotion-Kampagne für Heroin zu handeln, um die Zahl der Konsumenten zu erhöhen. Für jeden Drogenhändler ist Heroin eine gute Investition, denn diese Substanz erzeugt in sehr kurzer Zeit Abhängigkeit nach immer größeren Dosen. Wer damit anfängt, wird schnell zum treuen Kunden."
Archiv: Il Post

New York Magazine (USA), 10.01.2017

Andrew Rice zeichnet ein ausführliches Porträt des Trump-Schwiegersohns Jared Kushner. Der 35-Jährige, den Donald Trump gerade zu seinem Chefberater ernannt hat, zeichnet sich durch einen fast mafiamäßigen Glauben an die Familie aus. Was völlig fehlt in diesem Artikel, sind Kushners politische Überzeugungen. Ursprünglich ein eher liberal denkender Unternehmer, der Klima und Umwelt wichtig nahm, wandelte er sich im Zuge der Trump-Kampagne. Doch in welche Richtung, bleibt völlig unklar. Arthur Mirane, der bei einem Immobiliendeal mit ihm arbeitete, "sagt, dass er ihm während des Wahlkampfs gelegentlich per Mail Fragen über Trumps anstößigere Statements stellte. 'Warum muss er das so machen, warum muss er das so sagen, etc.', erzählt er. 'Und ich bekam jedesmal die jaredtypische Antwort darauf: 'Sieh mal, es gibt ein größeres Bild, ich weiß, was er sagt, klingt vielleicht nicht gut, aber er meint es wirklich nicht so.' Das war die typische Erklärung von Jared, total unpolitisch. Nur, dass da Dinge laufen, die unsereiner nicht versteht, das aber alles gut ausgehen werde, man solle ihm vertrauen.'"
Stichwörter: Trump, Donald, Kushner, Jared

Film Comment (USA), 03.01.2017

Bevor Stephen Bannon das rechtspopulistsche Onlinemagazin Breitbart News leitete und in Donald Trumps Beraterteam aufstieg, hatte er sich als Filmproduzent und in jüngeren Jahren auch als Regisseur reißerisch-rechter Dokumentarfilme versucht. Die an Riefenstahlschem Erweckungspathos nicht armen, ästhetisch aber einigermaßen schäbigen Machwerke sind wahrlich kein cineastischer Genuss, erklärt Jeff Reichert. Aber sie bieten Einblicke in die Geisteswelt jenes Milieus, das mit Donald Trumps Präsidentschaft nun direkten Einfluss auf die Weltgeschicke ausüben kann. Denn "am interessantesten und gefährlichsten an diesen Filmen und ihrem Macher sind nicht deren mangelndes Interesse an Wahrheit und Fakten, oder die Art und Weise, wie sie eine der heutzutage am häufigsten verwendeten visuellen Ästhetik ('unscripted') huckepack nehmen oder wie sie mittels der Verbindung aus beidem populistische Wut anstacheln. Es ist ihre tiefsitzende Traurigkeit und was diese für die weitere Gesundheit unserer Nation in Aussicht hält. Das sind Filme, die sich schmerzlich nach einem Amerika sehnen, das ein gewisser Teil der Bevölkerung für verloren hält oder das sie verloren zu gehen drohen sehen. Hinter all dem Gepolter, Bombast und durchgeknallten ästhetischen Entscheidungen verbergen sich tief nostalgische, verängstigte und melancholische Filme. ... Wie viele Männern seines Alters bedauert es Bannon, nicht Teil der Greatest Generation zu sein - in der Männer noch Männer waren, gen Europa zogen und eindeutige Siege über eindeutige Feinde errangen - und seine Filme führen oft zurück zum Zweiten Weltkrieg, zu Hitler und Stalin. Er betrachtet Geschichte wie ein kleiner Junge, dessen Perspektive so schwarz-weiß ist wie die TV-Western, die er als Kind wahrscheinlich gesehen hat."

Martin Scorseses neuer Film "Silence" ist eine Verfilmung eines im 17. Jahrhundert spielenden Romans des japanischen Schriftstellers Shusaku Endo, der darin die Geschichte zweier Jesuiten in Japan erzählt. Ein Herzensprojekt des Regisseurs, der mit der Idee einer Verfilmung jahrelang schwanger gegangen ist. Woran es unter anderem lag, dass die Umsetzung so lange dauerte, verrät er im großen Interview Nick Pinkerton: "Ich habe die japanischen Filme einfach nicht aus meinem Kopf gekriegt. Wo die Kamera positionieren? Auf der Höhe eines Tatami? Die alte Geschichte eines Manns aus dem Westen in Japan. Ich bin kein Japaner. Ich kann Natur oder die Ziegel eines Daches nicht so einfangen wie Kobayashi das im Vorspann zu 'Samurai Rebellion' gemacht hat." Der deutsche Kinostart von "Silence" ist im März.

Für das Blog des Film Comment hat sich Jordan Cronk zudem mit der Berliner Regisseurin Angela Schanelec unterhalten.
Archiv: Film Comment

Slate.fr (Frankreich), 09.01.2017

Die IS-Videos zu analysieren wie einen Kinofilm, ist ein Fehler, argumentiert Maryse Emel. Es sei intellektuell zweifellos verführerisch, die Propagandafilme auf einen amerikanischen Hollywood-Standard zurückzuführen, doch die Live-Aufnahmen von Hinrichtungen hätten eine besondere Eigenheit: das Unbehagen liege in der Rezeption der Bilder. „Es gibt im Kino eine stille Übereinkunft zwischen Regisseur und Zuschauer, an den Schein zu glauben. Dies sei 'die ureigene Bedingung von Darstellungen und insbesondere des Kinos‘', schreibt Jean-Louis Comolli. Der IS bricht diese Übereinkunft. Die Kraft des Kinos besteht gerade im Verwirrspiel, das uns dazu bringt, uns unser eigenes Bild zu schaffen. Kino ist künstlich. Der IS tötet den cinematografischen Kunstgriff, indem er auf der Realität des Gemetzels auf der Leinwand insistiert.“"

Außerdem zu lesen ist ein Gespräch mit der französischen Regisseurin Amandine Gay, Sprachrohr der afro-feministischen Szene, die den Dokumentarfilm „Ouvrir la voix“ über 24 schwarze Frauen in Belgien und Frankreich gedreht hat
Archiv: Slate.fr

New York Times (USA), 08.01.2017

In der aktuellen Ausgabe des New York Times Magazines berichtet Mattathias Schwartz aus der Welt der Cyberkriege und der digitalen Überwachung - wo die Paranoia blüht: "Hersteller von Überwachungssoftware wie Hacking Team stoßen bei USA-Behörden auf wenig Widerstand. Die Gesetzgebung erleichtert es Polizeibeamten, sich in Computer einzuhacken … In seiner 'Verdunkelungs'-Rede von 2014, erklärte FBI-Direktor James Comey, dass die Verschlüsselung von Apple-Produkten die öffentliche Sicherheit bedrohe, indem sie Terror, Drogenhandel und Kindsmissbrauch befördere. Comey forderte Kooperation. 'Die Technologie ist dem Gesetz voraus, das führt zu einem Sicherheitsproblem. Wir nennen es Verdunkelung', sagte Comey. Als Folge boomt die Überwachungsindustrie und Produkte wie die Software 'Stingray' der Harris Corporation, die Funkmasten simuliert und Handy-Anrufe im Umkreis von 200 Metern abfangen kann. Sämtliche Verkäufe der Software an lokale Polizeibehörden wurden vom FBI autorisiert. Allein in Baltimore wurde Stingray mehr als 4000mal für Routineermittlungen im Drogenmilieu verwendet. Weniger bekannt ist 'Hailstorm', ebenfalls aus dem Hause Harris und im Verkauf an die Polizei. Die Software soll in der Lage sein, Malware zu implementieren, die das betroffene Telefon kontrolliert."

Außerdem: John Mooallem erkundet neue Wege der Palliativmedizin. Beverly Gage denkt über die Bedeutungsveränderung des Begriffs "Elite" nach. Und Helen McDonald sucht die Heimat im Post-Brexit-Britain.
Archiv: New York Times