Magazinrundschau

Goldmine im eigenen Garten

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
20.12.2016. Die London Review erklärt, warum man in Manchester besser nicht aufs Klo muss. In Ideas denkt Pablo Stefanoni über die Abwahl der Linken in Lateinamerika nach. Der Guardian wüsste gern, warum der NSU-Prozess kein Ende findet. Hlidaci pes erinnert sich an Zeiten, als die Zigarette noch Freiheitsfackel hieß. Die New York Times sucht Künstliche Intelligenz und findet Google Brain.

London Review of Books (UK), 15.12.2016

Schriftsteller rufen gern dazu auf, vor die Stadt- und Gemeinderäte zu ziehen, um gegen die Schließung von Büchereien zu protestieren. Sie sollten sich lieber an die Tore von Downing Street ketten, meint Tom Crewe und zeichnet in einem nicht ganz leicht konsumierbaren Text nach, wie Englands Städte und Gemeinden von der Zentralregierung zu Tode gespart werden. Denn kein Land ist so zentralistisch und dirigistisch wie Großbritannien. Seit 2010 wurden die Ausgaben der lokalen Behörden um 37 Prozent reduziert und sollen über die nächsten Jahre weiter gesenkt werden: "Hunderte von Freizeit-Zentren, Schwimmbädern und Spielplätzen wurden geschlossen oder verkauft. Vier von fünf Städte haben die Ausgaben für öffentliche Toiletten gekürzt, 1782 Anstalten wurden geschlossen. Viele Städte unterhalten jetzt wie Manchester nur noch eine öffentliche Toilette, andere wie Newcastle gar keine. Investitionen in Kunst und Kultur wurden seit 2010 um 17 Prozent gesenkt: Jedes fünfte regionale Museum wurde geschlossen oder wird es demnächst; jedes zehnte will wieder Eintritt verlangen, die Besucherzahlen sind rückläufig. Im März berichtete die BBC, dass seit 2010 mindestens 343 Büchereien (von 4290) geschlossen wurden, mindestens 111 weitere Schließungen sind für dieses Haushaltsjahr geplant ... Die Pflege-Budgets in England wurden zwischen 2010 und 2015 um 4,6 Milliarden Pfund gekürzt. Die verbleibenden Dienste sind heillos überlastet: die Bezahlung ist katastrophal und die Ausbildung begrenzt. 2014 waren Englands Städte und Gemeinden nicht mehr in der Lage, Menschen mit 'geringem oder mittlerem Pflegebedarf' zu unterstützen."

Weiteres: Richard Seymour untersucht die Psychopathologie von Trollen. Mary Wellesley widmet sich dem deutlichen aristokratischeren Spleen, exotische Tiere auf seinem Anwesen zu halten.

Ideas (Argentinien), 18.12.2016

Der Publizist und Historiker Pablo Stefanoni analysiert die Lage in Lateinamerika nach Abwahl nahezu aller dortigen Linksregierungen. Insbesondere für Argentinien sieht er: "Die so genannte 'neue Rechte' muss sich darüber im Klaren sein, dass die Erinnerung an die katastrophalen Auswirkungen des Neoliberalismus der 80/90er Jahre keineswegs vergessen sind und die sozialen Akteure weiterhin ein hohes Mobilisierungspotential besitzen. Und angesichts des unvorhersehbaren Donald Trump muss sie feststellen - wie der Politologe Andrés Malamud ironisch formuliert: 'Als wir wieder in die Welt zurückkehrten, war die Welt verschwunden.' Allerdings, wie Malamud provokativ fortfährt, könnte das auch eine neue Chance sein: 'Eine abgelegene, aber demokratische Region, die in keine Kriege verwickelt ist, ist heute geradezu ein Luxus. Und vielleicht schon bald eine große Ausnahme.'"
Archiv: Ideas

New Republic (USA), 28.02.2017

In einem etwas allzu ausufernden Gespräch von fünf ProfessorInnen und AutorInnen über Obamas Erbe und die Frage, ob es durch Trump zerstört wird, sagt der arrogante Knopf Andrew Sullivan einige grässliche Dinge über Hillary Clinton, aber auch etwas Richtiges über amerikanische Debatten zu "Race" und "Identitätspolitik": "Die von 'Rasse' besessenen Leute auf der Rechten wie der Linken begreifen eines nicht. Obama repräsentierte beide - schwarz und weiß. Er war es, der die Herausforderung annehmen wollte, eine nationale Identität zu finden, die nicht rassisch ist - und das ist der einzige Weg, wie wir als ein gemeinsames Land überleben können. Dafür hat er so hart gearbeitet. Aber er wurde von den 'rassisch' denkenden Linken wie Rechten in die Zange genommen."
Archiv: New Republic

Guardian (UK), 15.12.2016

Der Guardian rekapituliert noch einmal ausführlich die NSU-Morde und hält drei Dinge fest: Der selbsterklärte Nationalsozialistische Untergrund war keineswegs "Untergrund", sondern offene Zwickauer Neonazi-Idylle. Der Verfassungsschutz droht trotz seiner Verwicklung ungeschoren davonzukommen, obwohl Uwe Mundlos und Beate Zschäpe für den Zwickauer Obernazi und V-Mann Ralph Marschner gearbeitet haben, der allerdings nicht als Zeuge vernommen wird. Und ein Ende des Prozesses ist auch nach drei Jahren nicht absehbar. Gewissenhaftigkeit der Richter lassen die ungehaltenen Autoren als Grund aber nicht gelten: "Es gibt einen bemerkenswerten Kontrast zwischen der Laxheit in Zschäpes Prozess und der Professionalität in der Verfolgung des sogenannten letzten Nazis, Reinhold Hanning, eines 94-jährigen früheren Auschwitz-Wächters. Hannings Prozess war zügig in vier Monaten abgewickelt, er wurde wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Offenbar tut sich Deutschland leichter, frühere Nazis zu verurteilen als die gegenwärtigen. Nach drei Jahren Prozess gegen Zschäpe scheinen die Richter gelangweilt, sie nehmen häufige Sitzungspausen und scheinen jedes Interesse an entscheidenden Zeugen verloren zu haben."

Ewen MacAskill und Jonathan Franklin erzählen die Geschichte des argentinischen Diplomaten Roberto Kozak, der aus Pinochets Chile 25.000 bis 30.000 politische Gefangene herausholte. "Kozak hatte sich seinen Weg in die inneren Zirkel von Pinochets Regime gebahnt, hohe Militärs ebenso hofiert wie Politiker, Beamte und Geheimdienstler. Er setzte eine Mischung aus diplomatischem Charme, Geduld und kistenweise importiertem Whisky ein, um die Freilassung von Häftlingen zu verhandeln, die meisten davon waren chilenische Linke."
Archiv: Guardian

The Atlantic (USA), 28.02.2017

Graeme Wood erzählt die Geschichte des Yahya Abu Hassan, der einst bei Dallas als John Georgelas aufwuchs - in einer griechisch-amerikanischen, patriarchalisch geprägten Familie von Obersten und Marines. Zuhause wurde er nichts. Dafür wurde er in Syrien zu einem prominenten ultraradikalen Funktionär des Islamischen Staats: "Als der männliche Erbe der Familie genoss John einen speziellen Status im Georgelas-Patriarchat. An diesen Status waren Erwartungen geknüpft, und also war die Enttäuschung groß, als klar wurde, dass er sich nicht als Soldat eignete. Sein Körper weigerte sich in eine kampfgemäße, robuste Form zu wachsen. Sein Charakter fügte sich keiner militärischen Disziplin. Als er nach einer Beinverletzung an die Schule zurückkehrte, hatte er wenig Interesse an universitärer Ausbildung und der Befolgung von Regeln. Sein Vater versuchte sein Betragen mehrfach zu korrigieren und versagte." Und doch hat er die Erwartungen ja gewissermaßen erfüllt!
Archiv: The Atlantic

Hlidaci pes (Tschechien), 12.12.2016

Nun kommt also auch in Tschechien als letzter europäischer Bastion das Rauchverbot in die Gaststätten (und erregt entsprechend die Gemüter). Aleš Rozehnal erinnert aus diesem Anlass an die einstige Symbolkraft der Zigarette, die einmal für Freiheit und Emanzipation stand. Ursprünglich ein Symbol der Männlichkeit und des Rebellentums, aber auch des amerikanischen Traums, "spielte das Rauchen eine bemerkenswerte Rolle in der weiblichen Emanzipationsbewegung. Im 19. Jahrhundert sah man rauchende Frauen als Gefallene oder Prostituierte an. 1904 wurde in den Vereinigten Staaten eine Frau zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil sie vor ihrem Kind geraucht hatte - was als unmoralisch und als Gefahr für die Gesellschaft galt. Während des Ersten Weltkriegs begannen die Frauen, die Arbeit der an der Front kämpfenden Männer zu übernehmen und zunehmend zu rauchen. Zigaretten wurden für Frauen zu einem Weg des sozialen Normenwandels, begleiteten ihren Kampf für Gleichberechtigung, wurden zum Ausdruck ihrer rebellischen Unabhängigkeit, ihrer Anmut und ihres Ehrgeizes. Als Symbol der Emanzipation und Gleichberechtigung wurde die Zigarette auch als 'Freiheitsfackel' bezeichnet - freilich muss hinzugefügt werden, dass die ganze Bewegung der 'Freiheitsfackel' vom Präsidenten der American Tobacco Company angezettelt wurde, der begriffen hatte, dass der potentielle Markt von Raucherinnen etwas Ähnliches war, wie 'eine Goldmine im eigenen Garten zu entdecken'."
Archiv: Hlidaci pes

New York Times (USA), 18.12.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times läutet Gideon Lewis-Kraus die Ära der Künstlichen Intelligenz ein (schon wieder?). Diesmal in echt, meint der Autor, denn Google Brain mischt mit und schafft mit der unkonventionellen Verbindung dreier Erfolgsgeschichten den Vorsprung: "Im Zentrum dieser Story stehen keine Leute, die meinen, morgen wäre alles anders, ihre Ideen könnten die Welt retten oder dass Technologie notwendig neue, apokalyptische Technologien zur Folge hat. Es geht nicht um Brüche. Tatsächlich handelt es sich um drei einander überlappende Geschichten, die in der erfolgreichen Verwandlung von Google Translate hin zur Künstlichen Intelligenz zusammenfinden: Eine Technik-Geschichte, eine Firmen-Geschichte und eine Geschichte über die Evolution von Ideen. Die Technik-Geschichte dreht sich um ein Team, ein Produkt, eine Firma und den Prozess, der in unerwartetem Tempo ein altes Produkt zu einem nagelneuen verfeinerte. Die Firmen-Geschichte geht um eine kleine, aber einflussreiche A.I.-Gruppe innerhalb dieser Firma und wie ihr fester Glaube an einige alte, unbewiesene Vorstellungen über Datenverarbeitung ihnen einen Riesenvorsprung vor der Konkurrenz verschaffte. In der Ideengeschichte schließlich geht es um Kognitionswissenschaftler, Psychologen und Ingenieure, die lange im Verborgenen tüfftelten, und den Prozess, der ihre angeblich irrationalen Überzeugungen zum Anstoß eines Paradigmenwechsels in unserem Verständnis für Technik und das Bewusstsein werden ließ."

Außerdem: Roxanne Khamsi berichtet über Versuche, die heilige Erdnuss weniger allergieauslösend zu gestalten - für jeden Erdnussbutter-Aficionado ein delikates Unterfangen. Und Mark Leibovich erklärt, warum auf den demokratischen Senator und Komiker Alan Franken schwere Zeiten zukommen (Trump lacht nie!).
Archiv: New York Times