Magazinrundschau

Ich brauche keinen Dolly

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.11.2016. Die Wähler vertrauen auf die Institutionen, glaubt die London Review, sonst hätten sie nicht Brexit oder Trump gewählt. Die politische Führung in Ost und West war  vor 1989 fortschrittlicher als heute, meint Gáspár Miklós Tamás in Magyar Narancs. Russen und Weißrussen wollen keine Freiheit, meint Swetlana Alexijewitsch in Hospodarske noviny. Regisseur Yasujiro Ozu fand seine Freiheit erst in der Beschränkung, erklärt Paul Schrader in Film Comment. En attendant Nadeau denkt mit Maurice Blanchot über Shelleys Gedicht "The Revolt of Islam" nach.

London Review of Books (UK), 01.12.2016

Nein, die USA sind keine gescheiterte Demokratie, betont David Runciman, der mit einigen paradoxen Wendungen selbst Trump-Wählern ein hohes Maß an demokratischer Vernunft zubilligt: "Die Leute haben ihn gewählt, weil sie nicht an ihn glaubten. Sie wollten, dass sich etwas ändert, aber sie hatten auch Vertrauen, dass die grundlegende Anständigkeit und Beständigkeit der politischen Institutionen sie vor den schlimmsten Auswirkungen dieser Veränderungen bewahrt ... Die Leute, die ihn gewählt haben, glaubten nicht, dass sie viel aufs Spiel setzen, sie wollten nur ein System abstrafen, auf das sie für grundlegende Sicherheiten noch immer angewiesen sind. Das hat Trumps Wahl mit dem Brexit gemein. Als sie für ein Verlassen der Europäischen Union stimmten, mögen die britischen Wähler den Eindruck außergewöhnlicher Rücksichtslosigkeit erweckt haben. Doch tatsächlich zeugt ihr Verhalten auch von einem grundlegenden Vertrauen in das politische System, von dem sie so ostentativ angewidert sind: Es würde sie vor den Konsequenzen ihrer Entscheidung beschützen."

Weiteres: Jan-Werner Müller hält fest, dass es Trump nicht ins Weiße Haus geschafft hätte, ohne die Unterstützer in der Republikanischen Partei: "So wie Nigel Farage Johnson und Gove brauchte, hing Trumps Sieg entscheidend von Männern ab, die bereit waren, das ganze politische System aufs Spiel zu setzen." Frederick Wilmot-Smith diskutiert die jetzt am Supreme Court hängende Frage, ob das britische Parlament über den Brexit entscheiden.

Magyar Narancs (Ungarn), 10.11.2016

War es vor 1989 doch besser? Angesichts der ernüchternden gesellschaftlichen Zustände in West und Ost wägt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás ab: "Wir müssen uns eingestehen, dass die politische Führung in Osteuropa vor 1989 - die wir damals verspottet und gehasst haben - in ihrer Intellektualität und ihrer Haltung fortschrittlicher war als die jetzige 'frei gewählte' Clique. Ich erröte, wenn ich daran denke. In Ungarn war die späte Kádár-Ära sozial, wirtschaftlich und kulturell auf einer höheren Ebene angesiedelt als die heutige, nicht jedoch politisch und freiheitlich. Damals wuchsen Lebensstandard und Freiheit, heute nehmen sie ab. Das bedeutet nicht, dass wir freier waren - wir waren es nicht - doch die Zeit des Aufstiegs ist eine andere, als die des Niedergangs. Die westlichen Mächte befinden sich in einer Flaute wie in der Breschnew-Tschernenko-Zeit und die einzige sichtbare politische Alternative scheint die extreme Rechte zu sein."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Tamas, Gaspar Miklos

Guardian (UK), 24.11.2016

Kaum ein Gericht in den USA verhängt so oft die Todesstrafe wie das Bundesgericht von Missouri. David Rose hat herausgefunden, dass dies auch dem Anwalt Frederick Duchardt zu verdanken ist, der vom Gericht immer wieder als Verteidiger berufen wird, obwohl er bisher alle ihm anvertrauten Fälle verloren hat. Oder gerade deswegen. Mal verlegt sich Durchardt auf hanebüchene Strategien (und beschuldigt einfach den Bruder seiner Mandantin) oder er vergisst zu erwähnen, dass sein Mandant (mit einem IQ von 68) als Kind regelmäßig sexuell missbraucht und halbtot geprügelt wurde: "Durchardt mangelt es nicht an Vertrauen in seine Fähigkeiten. Er ist stolz darauf, zur 'alten Schule' zu gehören, wie er mehrmal wiederholt. Er behauptet auch, dass seine Kritiker mit ihren versponnen modernen Theorien längst nicht so gut wüssten wie er, wie man Jurys beeindruckt - besonders wenn es darum geht, das Strafmaß zu bestimmen. Er ist stolz darauf, ein Einzelgänger zu sein. Die amerikanische Anwaltsvereinigung könne so oft sagen wie sie wolle, dass jedes Verteidiger-Team in Todesstrafen-Fällen einen Spezialisten für mildernde Umstände bräuchte, seiner Ansicht nach sind sie von geringem Wert. 'Ich bin unorthodox', sagt er. Seine Stimme wird spöttisch: Solche Spezialisten seien fokussiert auf 'Sozialarbeiter-Zeug'."

Weiteres: Amy Woolard berichtet von den fliegenden Kliniken in den USA, die sich wie sonst nur in Drittwelt-Ländern um Millionen von unversorgten Patienten kümmern, die zu arm für eine private Krankenversicherung sind, aber nicht arm genug für die staatliche Medicaid-Absicherung. Und jetzt erst entdeckt: Dave Eggers Streifzug durch die Trumplands kurz vor und nach der Wahl.
Archiv: Guardian

Hospodarske noviny (Tschechien), 25.11.2016

Ein höchst aufschlussreiches Gespräch führt Zuzana Válková mit der weißrussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch über die Frage, ob Freiheit für die Menschen in Russland und andernorts überhaupt noch interessant ist. Alexijewitschs Fazit ist ernüchternd: "Nach allem, was ich gehört und gesehen habe, glaube ich, dass die Menschen die Freiheit nicht brauchen. Sie ist ihnen eine Last, was sich an vielen Dingen ablesen lässt. Als nach dem Wechsel des Regimes in Russland auf einmal eine Menge von Zeitungen erschienen, waren die Leute nicht froh - es hat sie verwirrt. Davor hatten sie ein einziges Blatt gelesen, und alles war klar. (…) In Putins Russland ist es wenigstens noch gelungen, eine Höhlenversion des Kapitalismus einzuführen. In Weißrussland dagegen ist die Zeit komplett stehengeblieben. Dort hat sich nichts verändert. Die Weißrussen haben zwar jetzt ein anderes Auto und geringfügig bessere Lebensbedingungen, doch ihre Haltung zum Leben ist immer noch die gleiche. Es sind dieselben sozialistischen Menschen." Alexijewitsch führt es darauf zurück, dass es in Weißrussland kein kollektives Freiheitsgedächtnis gebe. "Die Tschechen haben ein Gedächtnis, das Erinnerungen an freie Zeiten beinhaltet - die Großmutter, die ein Restaurant besaß, der Onkel, der Hotelier war. Aber zum Beispiel mein Vater hatte völlig andere Erinnerungen. Er erzählte mir etwa, wie er als Journalistikstudent nach den Ferien in die Hochschule zurückkehrte und die Hälfte seiner Professoren plötzlich verhaftet waren."

Film Comment (USA), 25.11.2016

Regisseur Paul Schrader schreibt ausführlich über seine langjährige Faszination für den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu, dessen Werk er zahlreiche filmtheoretische Impulse verdankt. Unter anderem geht es auch um Ozus Kameraeinstellungen, die berüchtigt dafür sind, das Geschehen aus einer deutlich niedrigeren Höhe zu zeigen als die meisten anderen Filme. "Die Kritiker sprechen davon (...), dass diese Kamerapositionierung der Blickhöhe eines Menschen entspricht, der auf dem Fußboden sitzt. Doch Ozu schießt auch Büroszenen, in denen jeder steht oder auf Stühlen sitzt, aus dieser Höhe. Ich denke daher, dass es nicht so sehr darum geht, der Blickachse eines Menschen zu entsprechen, der auf einer Tatami-Matratze hockt. Es geht um Mangel an Freiheit, um Selbstrestriktion. In 'Passing Fany' bewegt er die Kamera und dies sogar auf einem Dolly. Als er weitere Filme drehte, bemerkt er: 'Ich brauche keinen Dolly.' Es geht also um mehr als nur einen 'japanischen Blickwinkel', es geht um die Idee, Freiheit in der Einschränkung und Zurückhaltung zu finden. Das ist gar nicht mal unähnlich dem, was eine Person in einem Kloster sagen würde: nur mit dieser Art des Rituals, nur in dieser Art asketischen Lebens, gelingt es mir, mich tatsächlich frei zu fühlen."

Dazu ein Ausschnitt aus "An Autum Afternoon", Schraders Lieblings-Ozu:


Archiv: Film Comment

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.11.2016

Das europäische Theater hat es derzeit oft schwer unter den neuen konservativen oder rechtspopulistischen Regierungen. Aber es liegen auch Chancen in diesen Schwierigkeiten meint György Szabó, der geschäftsführende Direktor des Budapester Kulturhauses Trafo, im Interview mit Natália Kovács. "Das Ganze ähnelt einem Erdbeben. In Spanien passierte das früher und gegenwärtig scheint es so, dass dies der spanischen Kultur gut tut, dort ist die Bewegung lebhafter, die Stücke sind schärfer, spanische Künstler sind gerade gut drauf. Dasselbe gilt für die Griechen. Die Krise bringt immer etwas Neues, wenn auch nicht das, worauf wir gehofft oder womit wir gerechnet haben."

En attendant Nadeau (Frankreich), 23.11.2016

Vielleicht ist es Zeit, sich wieder mit den Poeten des frühen 19. Jahrhunderts, den Romantikern und Revolutionären und mehr noch den romantisch-revolutionären Doppelwesen wie Percy Bysshe Shelley zu befassen. In Frankreich ist gerade eine zweisprachige Ausgabe seines Großgedichts "The Revolt of Islam" erschienen, in der der Islam für eines von vielen Glaubenssystemen steht, die Shelley in einem emphatisch revolutionären Akt abwerfen wollte. Marc Porée erinnert in En attendant Nadeau an ein Wort Maurice Blanchots, der einmal geschrieben hat: "Ein Schriftsteller, der nicht denkt, ich bin die Revolution, nur die Freiheit lässt mich schreiben, schreibt in Wirklichkeit nicht.' Zwar nenne Porée mit Ruskin die Shelleyschen Visionen "wolkig" ("Ruskin sah in der 'Cloudiness' eine der hervorstechendsten Eigenschaften der künstlerischen Moderne"), aber: "Täuschen wir uns nicht, das wirkliche Ereignis dieses Gedichts, ist die Sprache, das Sprechen, die Eloquenz. Aus dem Mund der  heftigen Cythna kommen die überzeugendsten, einschneidendsten Aussagen. Besser als es der fade Laon vermag, ruft die Frau nach der Gleichheit mit den Männern und ermahnt zum Bündnis mit der Tugend, der Wahrheit und der Liebe. Hierin ist sie die würdige Sprecherin Mary Wollstonecrafts, der Mutter von Shelleys Geliebten und Autorin von 'A Vindication of the Rights of Woman: With Strictures on Political and Moral Subjects'."

Außerdem: Pierre Benetti bespricht Neuerscheinungen zum Thema Populismus, auch Jan-Werner Müllers Buch zum Thema, das schon auf Französisch erschienen ist und zum Erstaunen des Rezensenten die Figur des Donald Trump noch gar nicht auf dem Schirm hat.

Bloomberg Businessweek (USA), 21.11.2016

Der Medallion Fund gehört zu den ertragreichsten Hedgefonds der Welt - und zugleich zu den elitärsten: Gerade einmal 300 Menschen, die zugleich auch dessen Mitarbeiter sind, haben daran Anteile. Katherine Burton erklärt uns, wie diese "Geldmachmaschine" so erfolgreich werden konnte: Neben Know-How und analytischem Weitblick gründet dieser Erfolg vor allem auf einem State-of-the-Art-Computerpark - und Unmengen von Daten, die immer wieder aufs Neue perspektiviert und ausgewertet werden. Es geht darum, "Signale zu finden, die im Rauschen der Märkte verborgen liegen", heißt es. "Bei einer Konferenz im Jahr 2013 stellte einer der Geschäftsführer ein Beispiel vor (...): Als sie Bewölkungsdaten durchforsteten, stießen sie auf eine Korrelation zwischen Sonnentagen und steigenden Märkten zwischen New York und Paris. 'Es stellte sich heraus, dass der französische Markt bei bewölktem Himmel in Paris weniger steigefreudig ist als wenn die Sonne scheint', sagte er. Viel Geld wurde damit zwar nicht gemacht, da diese Beobachtung nur in etwas über 50 Prozent der Fälle gilt. Brown weiter: 'Die Sache ist die - wenn es Signale gibt, die sehr viel Sinn ergeben und sehr stark auspegeln, dann wären sie im Handel schon längst ausgereizt... Wir halten wirklich emsig, emsig Ausschau und wir haben, was weiß ich, 90 Ph.D.s in Mathe und Physik, die mit nichts anderem beschäftigt sind, als nach solchen Signalen Ausschau zu halten. Wir haben 10000 Prozessoren und die sind rund um die Uhr beschäftigt."

New York Times (USA), 27.11.2016

Im New York Times Magazine beschreibt Emily Bazelon das neue Verhältnis einiger stinkreicher Unternehmer zur Presse: Sie versuchen, sie einfach zu Tode zu klagen. Es begann schon 2005, als Tim O'Brien von der New York Times in einem Buch das Vermögen von Trump auf eher 150 bis 250 Millionen Dollar schätzte statt der von Trump angegebenen zwei bis fünf Milliarden. Trump verklagte ihn und den Verlag, Warner Books. Er wurde immer wieder beim Lügen erwischt und verschliss vier Richter, bis die Klage schließlich 2009 abgelehnt wurde. Sieben solcher Verfahren hat Trump gegen missliebige Äußerungen angestrengt  und dabei nur einen gewonnen, weil der Angeklagte nicht vor Gericht erschien. "Aber das Standardmaß - seine Reputation zu verteidigen und vor Gericht zu gewinnen - gilt nicht für Trump. 'Ich gebe ein paar Kröten für Anwaltskosten aus, aber sie bezahlen viel mehr', erklärte er der Washington Post im März über den saftigen Betrag, den er für den Prozess gegen O'Brien ausgegeben hatte. 'Ich tat es, um ihm das Leben zu vermiesen, das macht mich glücklich.' Das stimmte nicht. Warner Books gab weniger aus als er und O'Brien zahlte gar nichts. Aber das macht Trumps zentrale Behauptung nicht weniger erschütternd: das Prozesse ein Werkzeug der Rache sind. Es ist beunruhigend, dass ein superreicher (wenn auch nicht so reich, wie er selbst behauptet) Kläger die Justiz wie eine Waffe benutzt, die gegen einen Kritiker eingesetzt wird. Einmal im Weißen Haus installiert, wird Trump noch mehr Mittel zur Verfügung haben, und seine Geschichte legt nahe, dass er versuchen wird, die Presse zu benutzen - und sie zu kontrollieren und zu unterwerfen."

Scoot Shane porträtiert die böse schillernde Figur des Steve Bannon, der für Goldman Sachs gearbeitet hat, das große Geld mit Rechten an "Seinfeld" verdiente und selbst propagandistisch-pathetische Dokumentarfilme, etwa über Ronald Reagan, drehte und schließlich den Wahlkampf von Donald Trump bestimmte. Bannon wird als Rassist und Antisemit beschrieben, aber afroamerikanische und jüdische Freunde, Bekannte oder Kollegen Bannons bestreiten das. Tatsächlich kommt er hier wie der Karl Lueger Amerikas rüber: "Ms. Jones, eine Filmkollegin, erklärte, dass Bannon in den Jahre ihrer Zusammenarbeit gelegentlich von der genetischen Überlegenheit einiger Leute sprach und einmal überlegte, ob es wünschenswert sei, dass Wahlrecht auf Landbesitzer zu beschränken. 'Ich sagte, das würde viele Afroamerikaner ausschließen. Er antwortete, vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Ich fragte: Und Wendy? [Bannons langjährige afroamerikanische Assistentin]. Er meinte: Das ist was anderes. Sie ist Familie.'"

Außerdem: In Schach gehalten sollen die Extremisten wie Bannon in Trumps künftiger Regierung von dem Republikaner Reince Priebus, den Mark Leibovich im Magazine porträtiert. Ian Buruma sieht mit Nigel Farage und Donald Trump das Ende der anglo-amerikanischen Weltordnung gekommen. Paul Elie unterhält sich mit Martin Scorsese über dessen neuen Film "Silence" und die "Natur des Glaubens".
Archiv: New York Times