Magazinrundschau

Der Stolz und die Angst, modern zu sein

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
30.08.2016. Im Guardian prangert Ian McEwan den Narzissmus der Identitätspolitik an. Im Merkur denkt Dirck Linck mit Didier Eribon über Aufstieg, Coming Out und die Scham der falschen Herkunft nach. Das TLS feiert den couragierten Europäer Klaus Mann. Buzzfeed erklärt die Angriffsparameter der neuen Killer-Roboter. Die New York Times erklärt, wer Nachrichten auf Facebook produziert. Auf Rue89 findet Antonio Caselli dennoch Gründe, das Internet zu lieben. In Nepsabadsag pocht Peter György auf sein Recht, mit der mit der Orban-Regierung zusammenzuarbeiten.

Merkur (Deutschland), 01.09.2016

In seinem bahnbrechenden Buch "Rückkehr nach Reims" erzählt und anlysiert Didier Eribon sehr selbstkritisch seine Flucht aus dem proletarischen Elternhaus in die schwule Pariser Intellektuellenszene. In einem sehr lesenswerten Text bewundert Dirck Linck, wie der in Queer Studies versierte Eribon aus dem unguten Gefühl der Scham eine politische Kategorie zu machen versucht: "In seinen linken Pariser Kreisen ist es weniger peinlich, schwul zu sein, als von armen Leuten abzustammen. Man ist für das Proletariat, aber selbstverständlich keine/r aus dem Proletariat. Eribon selbst ist seine Herkunft zeit seines Lebens derart unangenehm, dass er sie sogar vor engen Freunden verschweigt. Das hat mit einem Unterschied zwischen sozialem Aufstieg und Coming-out zu tun. Auf das Leben in der schwulen Welt ist niemand von Haus aus vorbereitet, hier existiert insofern Gleichheit, als alle voraussetzungslos lernen müssen, wie eine zugewiesene Identität verkörpert werden kann. Aufstieg aber bedeutet Eintritt in eine Welt, deren Regeln von jenen, die in sie hineingeboren wurden, längst verinnerlicht worden sind, während nur der Aufsteiger sie sich durch Nachahmung erst noch aneignen muss, was nie vollständig gelingt, weshalb sich für ihn die Scham der falschen Herkunft permanent erneuert. Mit der Scham über diese Scham beginnt Eribon sein Buch."

Jonathan Freedman huldigt dem Great American Songbook, dem die Gegenwartskultur nicht weniger als die Verbindung von Sprache, Dichtung und Demokratie verdanke.
Archiv: Merkur

Guardian (UK), 27.08.2016

Ian McEwan erzählt seinen neuen Roman Nutshell" aus der Perspektive eines Fötus. Im Interview mit Decca Aitkenhead bemüht er sich sichtlich, aber ohne Erfolg, nicht anzuecken: "McEwan legt Wert drauf, dass er kein Problem mit Gender-Politik hat. 'Mich stört es nur, wenn alle Politik um das Selbst kreist, und das in einer Welt, in der wir so viele Probleme wie keine andere Zeit, an die ich mich erinnern kann.' "Hält er Identitätspolitik für dekadenten Narzissmus? 'Manchmal hat es den Anschein, zumindest an den Universitäten. Diese Kinder sind alle in einer Zeit des Friedens und des Wohlstands aufgewachsen, um nichts müssen sie sich Sorgen machen. In diese Sphäre  wirkt die Vorstellung hinein, dass es bei der Campus-Politik nur um einen selbst geht, nicht um Einkommensunterschiede, Atomwaffen, Klimawandel und all die andere Dinge, von denen man glaubt, dass Studenten dazu etwas sagen wollen, das Schicksal unser Mitmenschen, Flüchtlinge, die im Meer ertrinken. Alles, was die jungen Leute interessieren könnte, ist dem Wunsch gewichen, von der Autorität den Segen zu bekommen, anstatt ihr zu trotzen."

In einem weiteren Text preist Kate Clanchy McEwans Roman "Nutshell" als "elegisches Meisterwerk".
Archiv: Guardian

Buzzfeed (USA), 26.08.2016

Kaum hat man den Drohnenkrieg und die NSA-Überwachung mehr schlecht als recht geschluckt, dämmert am Horizont auch schon das nächste Unheil: Maschinen, die, mit entsprechenden Daten und Direktiven gefüttert, im Feld auf eigene Faust über den Einsatz ihrer Waffensysteme entscheiden - sprich: Killer-Roboter. Ein Vorläufer kam bereits bei den Attacken auf Polizeibeamte im Juli in Dallas zum Einsatz. "Doch bei diesen Lethal Autonomous Weapons Systems (LAWS) setzt der Mensch, anders als bei dem Robotor in Dallas, die Parameter des Angriffs, ohne aber das spezifische Ziel zu kennen", schreibt Sarah A. Topol. "Die Waffe zieht aus, sucht sich etwas, was diesen Parametern entspricht, nähert sich und detoniert. Beispiele, die noch nicht danach klingen, als sollte man sich sofort einscheißen, wären etwa alle feindlichen Schiffe in der südchinesischen See, alle Militärradaranlagen in Land X, alle feindlichen Panzer in Europa. Aber denkt man im etwas größeren Maßstab und fügt noch ein paar nicht an Staaten gebundene Akteure hinzu, kommen einem schon befremdliche Abwandlungen in den Sinn: Alle Elektrizitätswerke, alle Schulen, alle Krankenhäuser, alle Männer im einsatzfähigen Alter mit Waffen, alle Männer im einsatzfähigen Alter mit Baseballmützen und von denen diejenigen mit braunem Haar. Denk Dir einfach etwas aus. Und auch wenn das nach jener Sorte Nervenkitzel klingt, für die man im Kino Eintritt bezahlt, könnten Killer-Roboter demnächst an Deine Türe klopfen - ob sie nun aus Russland, China oder den USA stammen, die allesamt an solchen Projekten arbeiten. 'An sich braucht es keinen technologischen Durchbruch mehr', sagt Russell, ein Professor für Informatik. 'Jede Komponente dieser Technologie ist bereits in der einen oder anderen Form kommerziell erhältlich... Es ist wirklich nur die Frage, wie viele Ressourcen man dafür aufwendet."
Archiv: Buzzfeed

New York Times (USA), 28.08.2016

Im Magazin der NY Times erklärt John Hermann, wie die politische Meinungsbildung in den USA heute funktioniert: 44 Prozent aller Amerikaner lesen die Nachrichten heute auf Facebook: "Neu sind die politischen Nachrichten und die Werbung von Lobbyverbänden, eigens für Facebook kreiert und positioniert exklusiv für den News Feed. Es handelt sich um neue Quellen, die außerhalb von Facebook nicht existieren und von denen die meisten noch nie gehört haben. Sie heißen Occupy Democrats, The Angry Patriot, US Chronicle, Addicting Info, RightAlerts, Being Liberal, Opposing Views, Fed-Up Americans, American News usw. Einige von diesen Seiten haben Millionen Follower … Und anders als die traditionelle Medien, die Jahre damit zugebracht haben, ihre Leser von Facebook wegzulocken, tummeln sie sich fröhlich im Innern der Facebook-Welt. Ihre Seiten werden von Facebook beherbergt, doch nicht hofiert, aber sie stehen wie nichts anderes für Facebook und seine Algorithmen - ein System, das das Internet verändert hat und nun, zum Guten oder zum Schlechten, einen Großteil des politischen Diskurses in den USA übernommen hat."

Außerdem: Michael Steinberger porträtiert das Tennis-As Nick Kyrgios, das viel lieber Basketball spielen würde. Und Emily Bazelon stellt fest, wo und warum in den USA die Todesstrafe besonders üppig blüht.
Archiv: New York Times

Rue89 (Frankreich), 26.08.2016

In einem langen Interview erklärt der Netz-Soziologe Antonio Casilli, warum man das Internet trotz Überwachung und der Milliardäre im Silicon Valley noch immer lieben kann. Allerdings müssen wir erst noch richtig seine Sprache verstehen: "Die Kommunikation im Internet reproduziert jene sprachlichen Elemente, die wir 'phatisch' nennen, all die Wörter wie 'Hallo', die keine andere Information transportieren, als Anwesenheit zu signalisieren und die Bereitschaft zu sprechen. Im Internet wimmelt es von solchen phatischen Elementen: das 'like', das 'poke'... Doch das Internet ist weniger ein Ort der aggressiven als vielmehr der mehrdeutigen, komplexen Kommunikation, die Missverständnisse schafft und für die wir noch nicht alle Codes haben." Eindeutig ausbeuterisch findet er allerdings, was unter der dem Label der Ökonomie des Teilens firmiert: "Wer kümmert sich um die Altersvorsorgen dieser Menschen? Ihre Sozialversicherung? Ihre Ausbildung? Das ist  Privatisierung unter dem Label des Teilens, dabei existiert eine echte Ökonomie des Teilens, die unter einer beschädigten Reputation leidet."
Archiv: Rue89

Nepszabadsag (Ungarn), 29.08.2016

Der Kunsthistoriker Péter György war bis vor kurzem Berater des von der Regierung geplanten, doch heftig umstrittenen Museumsquartiers im Budapester Stadtgarten. Dafür wurde er wiederholt der "Kollaboration" beschuldigt, obwohl er seine kritische Haltung öffentlich immer wieder geäußert hat. In einem Text, in dem er grundsätzlich über Kooperation und Kollaboration nachdenkt, wirft er seinen Kritikern eine verantwortungslose Radikalität vor: "Das Recht aufs Revoltieren, seine Art und Weise, Zeitpunkt und Bedeutung kann keiner dem anderen diktieren. Das heutige Ungarn ist nicht das Dritte Reich. In der darauf abzielenden Rhetorik sehe ich einen selbstgerechten Pseudoradikalismus, oder auch einen Mangel an systematischem Denken. Gegenüber dem Unergründlichen, dem Undurchsichtigen und somit dem Unbenennbaren liefert die um Sinn ringende Arbeit die einzige Möglichkeit, dass die zu nichts oder höchstens zum Schlechten führende Rhetorik des Abgrunds zwischen 'uns' und 'denen' ein Ende nimmt... Jede Zusammenarbeit dies- und jenseits der Politik grundsätzlich auszuschließen, ist nichts anderes als die Operettendoktrin eines falschen kalten Krieges."
Archiv: Nepszabadsag

Elet es Irodalom (Ungarn), 29.08.2016

Die Empörung war in Ungarn groß, als dem strammrechten Publizisten Zsolt Bayer das Ritterkreuz verliehen wurde. Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás gab aus Protest seinen eigenen Staatsorden zurück, fürchtet allerdings, dass die Verteufelung Bayers dem gleichen Problem entspringt wie die konservative Vorstellung, an den Problemen der Moderne seien die Sozialisten, Angela Merkel oder die Soros-Stiftung schuld: "Bayer ist kein wirklicher Faschist (Faschismus und Nazismus gehören zum zwanzigsten Jahrhundert). Die Weltsicht von Bayer ist negativ, aber nicht kritisch ... Damit befriedigt er - wenn auch vielseitiger - dasselbe Bedürfnis wie der Hass auf Victor Orbán beim Mitte-Links-Lager: Die verständliche Verunsicherung, die Weltwirtschaft und internationale Politik bewirken, wenn sie immer unergründlicher Umwelt, Demografie, Lebensführung, Sexualethik, Arbeitsformen, Siedlungsstrukturen und Kultur beeinflussen, führt er auf eine einzige identifizierbare und personifizierte Ursache zurück."

Times Literary Supplement (UK), 26.08.2016

In höchsten Tönen lobt Anna Katharina Schaffner Frederic Spotts Klaus-Mann-Biografie "Cursed Legacy", die elegant und bewegend zugleich auffächert, welch multipler Fluch über dem couragierten Europäer, dem exilierten Schriftsteller und schwulen, drogensüchtigen Thomas-Mann-Sohn lag. "Spott lässt beim Leser keinen Zweifel, dass Thomas Manns kaltes Urteil über seinen Sohn eine Wurzel für dessen Probleme war. In seinem Tagebuch klagt Klaus Mann, dass 'das generelle Desinteresse seines Vaters an Menschen mir gegenüber besonders stark ist'. Wenn es dieses Desinteresse tatsächlich gab, dann hinderte es Thomas Mann nicht nicht an dem harschen Verdikt, das er in seinem eigenen Tagebuch fällte: 'Der Junge ist moralisch und intellektuell kaputt'."
Stichwörter: Mann, Klaus, Mann, Thomas

The Atlantic (USA), 01.09.2016

15 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September fragt sich The Atlantic, wie es heute um die objektive Sicherheit in den USA bestellt ist. Ein Jahr lang hat Steven Brill daher minutiös recherchiert und ein wahres Faktenkonvolut hervorgebracht, das sich seinem Gegenstand zwar nicht immer kritisch nähert, aber wegen seiner Detailfreude und Informiertheit einen Lektüregewinn darstellt. Unter anderem erscheinen die großzügigen Investitionen in den Jahren nach dem 11. September dabei auch als orientierungslose Maßnahme zum umfangreichen Geldverbrennen: Zu beobachten sei ein regelrechtes "Jack-Bauer-Syndrom": "'Wenn man geschockt ist und Angst hat, wenn man weiß, dass da draußen eine Bedrohung lauert, dann macht man alles und legt jede Summe auf den Tisch, um damit zurecht zu kommen', erklärt ein Wirtschaftsprüfer, 'selbst wenn das, für was man zahlt, bislang nicht erprobt wurde und es auch keine Maßstäbe gibt, um es zu evaluieren.' Chip Fulghum, der bei der Homeland Security für die Finanzen zuständig ist und sich selbst als Teil einer Putzkolonne sieht, drückt es so aus: 'Unmittelbar nach den Anschlägen öffnete sich der Wasserhahn und ein dicker Geldstrahl schoss heraus. Vieles davon floss sonst wohin, für Zeug, das einfach nicht funktioniert hat.' Viele Programme wurden erst mit überschäumenden Ankündigungen losgetreten, verzögerten sich dann aber still und heimlich bei der Einrichtung, bevor die Erwartungen heruntergeschraubt wurden und sie dann vollkommen zum Erliegen kamen. Zwei Milliarden Dollar wurden ausgegeben, um die Überprüfung von Gepäck zu verbessern, doch die neue Ausrüstung brachte gegenüber der alten keinen erkennbaren Vorteil."
Archiv: The Atlantic

New Yorker (USA), 05.09.2016

Adam Kirsch erklärt, dass wir uns immer noch mit den gleichen Grundfragen herumschlagen wie die Philosophen der Aufklärung. Modern, fragt er, was bedeutet das eigentlich: "Wir selber gefallen uns darin, uns in einem Zeitalter der Diskontinuität zu sehen - Luft- und Raumfahrt, Fernsehen, Internet. Könnte man einen Menschen aus dem Jahr 1916 ins Heute transportieren, fragen wir stolz, würde dieser Mensch nicht überwältigt sein von all den Veränderungen? Sicher, zumindest einige Tage, bis er herausgefunden haben würde, wie alles funktioniert. Aber eines wäre unserem Zeitreisenden doch vertraut: der Stolz und die Angst, modern zu sein. Die Menschen im frühen 20. Jahrhundert waren sich ihrer Modernität genauso bewusst wie wir, und zwar zu Recht. Ein Mensch, der aus dem Jahr 1816 ins Jahr 1916 transportiert würde, so würden sie sagen, hätte der sich die Eisenbahn vorstellen können, Telegrafen, das Maschinengewehr oder die Dampfschiffe? Modernität ist mit technologischem und sozialem Fortschritt nicht zu erfassen. Eher handelt es sich um einen subjektiven Zustand, ein Gefühl oder die Vorstellung, dass wir in einem grundsätzlichen Sinn anders sind als unsere Vorfahren. Das moderne Leben, das wir uns als immer schnellere Abfolge von Wissenszugewinn, Reichtum und Macht über die Natur vorstellen, basiert auf einem Verlust: dem Verlust der Verbindung mit der Vergangenheit. Je nach Standpunkt wird dieser Verlust als Enterbung begriffen oder als Emanzipation. Moderne Politik dreht sich zum einem Gutteil darum, welchen Standpunkt man in dieser Frage einnimmt. Aber in jedem Fall wirkt es desorientierend."

Außerdem: Joshua Yaffa berichtet von zwei jungen Journalisten in der Ukraine, die die Korruption ihrer Politiker satt hatten und selber in die Politik gingen. Janet Malcolm stellt uns die Pianistin Yuja Wang vor. Christopher Glazek erklärt den Hype um das Luxus-Streetwear-Label Hood By Air. Emma Allen besucht einen Kurs für Impro-Comedy der Upright Citizens Brigade. Und Jonathan Lethem schickt eine Kurzgeschichte.
Archiv: New Yorker