Magazinrundschau

Denkfehler

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
12.01.2016. Himal beschreibt die moralische und sexuelle Gängelung indischer Frauen. Magyar Narancs beklagt die Logik des permanenten Krieges in Ungarn. Das TLS porträtiert Vermeer als Pionier der Optik. Linkiesta überlegt, warum Darwin Marx und Freud als Gründungsväter der Moderne abgehängt hat. Der Guardian setzt dagegen zur Ehrenrettung Freuds an. In der New York Times beschreibt Drehbuchautor Michael Idov Scham und Stolz der russischen Nation.

Himal (Nepal), 06.01.2016

Von einer neuen Qualität der sozialen Kontrolle, die in Indien über Frauen ausgeübt wird, berichtet Brinda Bose: "Frauen werden entweder 'zu ihrem eigenen Schutz' verhaftet oder, wenn sie in der Öffentlichkeit als Paar auftreten, für ihre sexuelle Kühnheit genau ins Visier genommen, gemaßregelt und bestraft. Es sieht so aus, als wäre Indien derzeit, was das Vergnügen, die Freiheit und die Sicherheit von Frauen betrifft, schwer gestört. Vielleicht liegt dies daran, dass das Land sich selbst in einer zusehends regressiven sozio-politischen Lage wiederfindet. Es herrscht kaum Klarheit darüber, was 'Sicherheit' konstituiert. Was vor allem für Frauen gilt, da diese nicht davon ausgenommen sind, überwacht und bestraft zu werden, wenn sie sich in Gesellschaft befinden - gleichgültig, ob diese nun konsensuell ist oder beaufsichtigt. Der Schwerpunkt scheint komplett auf der strikt moralischen Maßregelung sexuellen Verhaltens (das außerhalb des ehelichen Schlafzimmers offenbar zur Gänze untersagt ist) zu liegen, während man vorgibt, sich vor allem um die Sicherheit der Frauen zu sorgen. Unglücklicherweise produziert jede Berichterstattung über eine Vergewaltigung sofort mehr Panikmache, die zu unnötiger Selbstjustiz bei einverständlichen sexuellen Aktivitäten unter Erwachsenen aufhetzt und von dem sehr ernsten Problem der Vergewaltigung ablenkt."
Archiv: Himal

Magyar Narancs (Ungarn), 17.12.2015

Der Journalist und Moderator Sándor Friderikusz - in Ungarn so berühmt wie in Deutschland einst Hajo Friedrichs - spricht im Großinterview über den Verfall der Öffentlichkeit in Ungarn. Seine Fragen so zu stellen, als wäre er neutral, funktioniert nicht mehr für ihn, sagt er: "Wenn Krieg herrscht - und seit acht oder zehn Jahren herrscht in den Massenmedien Krieg - warum um Gottes Willen soll dann Frieden simuliert werden? Unter normalen Umständen soll Journalismus selbstverständlich objektiv sein, Abstand wahren, in der Mitte stehen. Doch hier wurden jegliche menschlichen Werte umgedreht, die Sprache zum erniedrigten Selbstzweck degradiert, die konsensualen Bedeutungen der Begriffe zum Gegenteil gedreht. Seit geraumer Zeit fehlen hier die elementarsten Voraussetzungen etwa eines angelsächsisch geprägten Journalismus... Es wurde eine Welt erschaffen, die für einen normalen, unabhängigen, souverän denkenden Menschen surreal ist... Das ist die Logik des permanenten Krieges, nichts anderes."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Ungarn

Times Literary Supplement (UK), 08.01.2016

Ziemlich überzeugend findet Claudia Swan, wie Laura J. Snyder in ihrem Buch "Eye of the Beholder" Vermeer als einen Wissenschaftler porträtiert, der vor allem durch die optischen Geräte seines Delfter Mitbürgers Antoni van Leeuwenhoek geprägt war: "Bereits im 19. Jahrhundert kam die Frage auf, ob und in welchem Maße sich Vermeer auf optische Geräte wie die Camera Obscura stützte. Seine vielen Frauen im Licht, die er gerade dabei erwischt, nichts Besonderes zu tun - eine Perlenkette anlegen, Milch einschenken, schreiben, lesen, am Tisch dösen -, sind Porträts von Momenten in der Zeit. Seine Bilder sind gekennzeichnet von einer undurchdringlichen Stille, einem scharfen Blick für die Eigenschaften des Lichts und den optischen Phänomenen, die symptomatisch sind für den Einsatz von Linsen. Die Abwesenheit jeglicher erzählerischer Krümmung in vielen seiner Bildern macht sie zu Studien von Lichtverhältnissen und Raumbedingungen. Man muss sie für das nehmen, als was sie erscheinen, man darf nicht erklären wollen, warum sie gemacht wurden, sondern wie."

Linkiesta (Italien), 09.01.2016

Es gab eine Zeit, da nannte man Marx, Freud und Darwin als Gründungsväter der Moderne in einem Atemzug, aber die ist lange vorbei, meint Giovanni Maria Ruggiero in einer Linkiesta-Serie über das "in Stücken" liegende 19. Jahrhundert: Von den dreien erscheine nur mehr Darwin als unangreifbar. Und "im Grunde hatte er ja mit den beiden anderen ziemlich wenig zu tun, ein Brite gegen zwei Mitteleuropäer, die in all ihrem Aufklärungswillen ein innerstes Wesen offenbaren wollten, eine wenn auch materialistische Metaphysik der Welt. Nichts ist weiter entfernt vom Pragmatismus des 'Hauptsache es funktioniert" nach angelsächsischem Muster. Sie suchten eine definitive Erklärung, die die Welt verändern könnte, wenn sie für alle offen daliegt. Während Darwin sich damit begnügte, ein - allerdings ziemlich umfassendes - Modell zu beschreiben. Darwin beschrieb Funktionen, er suchte keine Essenzen."
Archiv: Linkiesta

Guardian (UK), 07.01.2016

In einem sehr interessanten Report berichtet Oliver Burkeman, dass Freuds gute alte Psychoanalyse sich nach jüngsten Studien als deutlich sinnvoller und nachhaltiger erwiesen hat als die Kognitive Verhaltenstherapie, die seit den siebziger Jahre als das wissenschaftliche, effiziente und kostengünstige Nonplusultra gilt. Gerade bei Depressionen erzielten die Kognitive Therapieformen (KT) nur kurzfristige Scheinbesserungen: "Das revolutionäre Auftreten der KT verdankte sich vor allem dem unbeschwerten Ton des 'Kein-Unfug'. In der traditionellen Psychoanalyse - und deren neueren psychodynamische Techniken - werden scheinbar irrationale Symptome, etwa die endlose Wiederholung eines selbstzerstörerischen Verhaltensmusters in der Liebe oder bei der Arbeit, als letzten Endes doch rational angesehen. Sie ergeben durchaus Sinn im Kontext der frühesten Erfahrungen des Patienten. (Wenn jemand von seinen Eltern verlassen wurde, ist es nachvollziehbar, dass er in ständiger Angst lebt, dass auch sein Ehepartner dies tun könnte - und so seine Ehe ruiniert). KT stellt das auf den Kopf. Emotionen, die rational erscheinen können - etwa das deprimierende Gefühl, dass das eigene Leben eine Katastrophe ist - werden als Ergebnis irrationalen Denkens dargestellt. Okay, Du hast Deinen Job verloren, das heißt aber nicht, dass alles für ewige Zeiten schrecklich sein wird. Wenn dieser Ansatz richtig sein sollte, ist Veränderung viel einfacher: Dann braucht man nur die verschiedenen Denkfehler zu identifizieren und korrigieren, anstatt die verborgenen Gründe für das Leiden zu entziffern. Symptome wie Trauer oder Angst sind nicht mehr zwangsläufig Hinweise auf lange vergrabene Ängste; sie sind Eindringling, die es zu vertreiben gilt."
Archiv: Guardian

Hospodarske noviny (Tschechien), 08.01.2016

Tschechien beschäftigt sich mit Lída Baarová: Kurz bevor ein gleichnamiger Spielfilm über die tschechische Schauspielerin in die Kinos kommt, die in den 30er-Jahren in deutschen UFA-Filmen als slawische Schönheit eingesetzt wurde und der eine Liebelei mit Joseph Goebbels nachgesagt wird, ist auch ein Dokumentarfilm über sie angelaufen, "Zkáza krásou" (etwa: Verderben durch Schönheit). Petr Fischer lobt die Regisseurin Helena Třeštíková dafür, wie sie das Subgenre des Kompilationsfilms in Tschechien wiederbelebt: "Ausgehend von ihrem eigenen, zwanzig Jahre zurückliegenden Gespräch mit der Schauspielerin baut sie darum eine Komposition, in der hauptsächlich historisches Archivmaterial sowie empathisch gelesene Auszüge aus Baarovás Erinnerungen zu Wort kommen - vor allem aber Montage und Schnitt. (…) Die Passage, in der Baarová - vor dem Hintergrund von Filmaufnahmen einer Naziversammlung - ihre Faszination für diesen Goebbels in Aktion, für den Genossen in seinem Element beschreibt, ist die dokumentarisch aufschlussreichste und eindrücklichste Stelle des Films, eine Stelle, die zugleich in wenigen Sekunden die Spannung verdichtet, die auch in den Wörtern 'Schönheit' und 'Verderben' des Filmtitels enthalten ist. 'Darin lag so eine Kraft', erinnert sich Lída Baarová, 'die mich zugleich angezogen und erschreckt hat.'"

Hier ein deutscher Dokumentarfilm von Werner Koch und Günter Krause über und mit Lida Baarova von 1991:



Telerama (Frankreich), 07.01.2016

Die junge Politikwissenschaftlerin Anastasia Colosimo erläutert im Gespräch die Wahrnehmung des zunehmend religiös motivierten Drucks auf die Meinungsfreiheit in ihrer Generation und erklärt: "Meine Generation befindet sich schon von klein auf in der Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit nervt uns ... Denn jene Generation, die das Phänomen der Religion in Frankreich wieder aufsteigen sah, war mitnichten dazu bereit, es mit Bedacht zu analysieren. Sie stand immer noch unter dem Einfluss der marxistischen Lehre und war davon überzeugt, die Religionen hätten sich ein für alle Mal erledigt. Angesichts ihrer Rückkehr stellte sich heraus, dass sie wehrlos war. Und sich zu lange damit begnügte zu behaupten, die Terroristen wären 'Amokläufer'."
Archiv: Telerama

HVG (Ungarn), 30.12.2015

Bitter, aber offen spricht der Bühnenbildner und Architekt László Rajk, der unter anderem die ständige ungarische Ausstellung im Museum von Auschwitz entwarf, mit HVG über die gegenwärtige Kulturpolitik und die Stellung des Landes in Europa. "Anders als die erste Fidesz-Regierung von 1998 bis 2002 will die heutige keine eigene Kultur mehr erschaffen. Das ganze Geld gibt sie der Ungarischen Kunstakademie, aber auch dort werden nur solche Funktionäre in Positionen gebracht, die für ihr Geld schweigen. Sie haben Angst: selbst eine konservative, regressive oder die fundamentalistische Kultur stellt eine Gefahr dar. Künstler sind unberechenbar: manche sind so exhibitionistisch veranlagt, dass sie mit der Zeit selbst ohne Geld aufstehen und sagen, was sie denken. Als Optimist glaube ich, dass dieser Bereich das System erschüttern wird, wenn auch nicht schnell... Die Macht degradierte den Liberalismus zum Schimpfwort, und die Intellektuellen Ungarns akzeptierten diese Sprache... Ungarn ist in Europa inzwischen sowohl kulturell als auch wirtschaftlich und politisch marginalisiert. Für mich bleiben der Film, die Lehre und die freie Kunst."

Ähnlich, aber blumiger äußert sich der Theaterregisseur Árpád Schilling.
Archiv: HVG

New York Times (USA), 10.01.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times erklärt der derzeit in Berlin lebende russische Drehbuchautor Michael Idov, wie in Russland nationales Selbstverständnis und Kultur untrennbar miteinander verbunden sind: "Es geht dabei um Russlands geschundenes Selbstbewusstsein. Genau wie andere Nationen, die ihre Weltgeltung verloren haben (Frankreich oder Deutschland etwa), hat Russland die schlechte Gewohnheit angenommen, jedes neue Produkt oder Ereignis unter dem Gesichtspunkt nationalen Untergangs bzw. nationaler Renaissance zu sehen. Noch die seichteste Unterhaltung wird zum Schlachtfeld für den russischen Geltungsdrang. Wenn eine Show oder ein Film floppt, heißt es nicht, der Autor ist schlecht, sondern: Russland hat schon wieder verloren. Handelt es sich um einen Erfolg, heißt es: Endlich einmal etwas, für das wir uns nicht schämen müssen. Das größte Kompliment für ein Buch, ein Lied oder einen Film, lautet: 'nestydnyi', was soviel wie 'nicht blamabel' bedeutet. Das wiederum heißt, die Scham ist eine Grundbedingung der Existenz in Russland, und die Momente, wenn diese Scham außer Kraft gesetzt ist, sind selten und kostbar. Hier liegt das Geheimnis von Putins Popularität: Sein Talent, diese grundlose Scham in einen gleichfalls unbegründeten Stolz zu verwandeln, indem er territoriale Unterwerfung als Triumph ausgibt. Ich für meinen Teil würde lieber in einem Russland leben, das das nächste 'House of Cards' hervorbringt, als in einem, das für den entsprechenden Plot sorgt."

Außerdem: Jon Pareles nimmt Abschied von David Bowie und umreißt noch einmal dessen Genie: "Er setzte Maßstäbe im Rock und auf dem Theater für eine ganze Generation: etwas sowohl Konstruiertes, Überspanntes, als auch Aufrichtiges, das mehr aussagte, als es Naturalismus konnte. Mit einer Stimme, die vom Bariton bis ins Falsett reichte, war er komplex androgyn, ein Erkunder aller möglichen menschlicher Triebe."
Archiv: New York Times