Magazinrundschau

Spielarten des Radikalismus

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
03.02.2015. In der New York Review of Books möchte Timothy Garton Ash die Meinungsfreiheit gern nach Island auslagern. Victor Orban fürchtet sich vor Einwanderern, die nie kommen, notiert HVG. In Ägyten ist die Meinungsfreiheit unter Sisi noch eingeschränkter ist als unter Mubarak, erzählt der Schriftsteller Alaa al-Aswany in Prospect. Der Merkur fordert mehr Glaubensfreiheit. In Telerama glaubt der Bruder des Attentäters Mohamed Merah fest an republikanische Werte. Das New York Magazine fragt, wie in Gottes Namen amerikanische Akademiker das Ende der akademischen Forschungsfreiheit fordern können.

New York Review of Books (USA), 19.02.2015

Es war richtig und vielleicht sogar notwendig, die Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo nachzudrucken, meint Timothy Garton Ash in der NYRB. Vorausgesetzt, man warnt den Leser vorher, dass er nach dem Umblättern ein Bild sehen wird, das ihn beleidigen könnte. Doch auch Ängste der Zeitungsredakteure kann Garton Ash verstehen. Er schlägt deshalb eine Art Piratenwebseite für "beleidigende" Inhalte mit Informationswert vor, auf die dann alle Zeitungen verlinken könnten: "Berücksichtigt man den weit verbreiteten Antiamerikanismus, vor allem in der islamischen Welt, dann sollte dieses Projekt nicht von Amerika aus geführt werden. Vielleicht von Island, dass mit seinem Internationalen Institut für Moderne Medien einen Ort für globale Meinungsfreiheit geschaffen hat. Internationale Medienorganisationen wären naheliegende Partner. Die Mitarbeiter der Webseite sollten anonym bleiben, ebenso der Vorstand, weil sie sonst die Aufmerksamkeit von Attentätern auf sich ziehen könnten. Wenn Anonymität für das Böse genutzt werden kann, warum soll man sie dann nicht mal benutzen, um das Gute zu schützen." (Island könnte auch seine Tourismusindustrie kräftig ankurbeln, mit internationalen Führungen zum letzten Refugium der Meinungsfreiheit auf einer kleinen Insel mitten im Atlantischen Ozean!)

HVG (Ungarn), 21.01.2015

Auch Victor Orban hat sich nach dem Massaker bei Charlie Hebdo zu Wort gemeldet: Da sehe man, dass "Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen Europa schadet, sie brachte nur Probleme und Gefahren für den europäischen Menschen". Angesicht der geringen Einwanderungszahlen in Ungarn und der bröckelnden Umfragewerte versucht Orban offenbar, mit solchen Aussagen Wählerstimmen zu sammeln, meint István Riba. ""Wir wollen keine bedeutende Minderheit mit abweichenden kulturellen Eigenschaften und Hintergründen bei uns sehen, Ungarn wollen wir als Ungarn erhalten", sagte er in Paris. Das kam überraschend, weil nicht die geringste Chance besteht, dass eine "bedeutende Minderheit" im Lande auftaucht. In Ungarn lebt heute eine kaum messbare Zahl von Einwanderern, deren kultureller Hintergrund nicht europäisch oder gar ungarisch wäre. Die große Mehrheit der aus wirtschaftlichen Gründen nach Ungarn emigrierten Einwanderer stammt von den ungarischen Minderheiten aus den Nachbarländern. Es geht lediglich um Wählerstimmen, denn trotz fehlender Zuwanderung lehnt dreiviertel der ungarischen Gesellschaft Emigranten ab. Bisher schielte nur die Jobbik-Partei darauf, doch die Worte des Ministerpräsidenten bedeuten, dass er die öffentliche Diskussion über die Einwanderungspolitik mit der Rhetorik der Rechtsextremen formt."
Archiv: HVG

Prospect (UK), 02.02.2015

Der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswany erklärt im Interview, warum seiner Ansicht nach das Militär eingreifen musste, als Präsident Morsi eigenmächtig die Verfassung ändern wollte und seine Gegner auf der Straße niederschießen ließ. Doch mit der jetzigen Regierung des Generals Abdel Fattah el-Sisi ist al-Aswany auch nicht einverstanden. "Unter Mubarak gab es keine Pressefreiheit. Man konnte nicht einen Artikel schreiben und einen Minister für etwas beschuldigen, ihm Gesetzesbruch vorwerfen oder seinen Rücktritt fordern. Aber unter Mubarak hatten wir immerhin die Freiheit zu reden. Der Deal war: Ich kann sagen, was ich will und Mubarak kann tun, was immer er will. Jetzt haben wir nicht einmal das. Man findet in den Medien kaum noch eine Möglichkeit eine Meinung zu äußern oder den Präsidenten zu kritisieren. Ich habe vor sechs Monaten meine wöchentliche Kolumne aufgegeben, weil keine Zeitung in Ägypten sie mehr tolerieren konnte."
Archiv: Prospect

Merkur (Deutschland), 02.02.2015

Ute Sacksofsky stört sich in ihrer Rechtskolumne daran, dass das Bundesverfassungsgericht die Glaubensfreiheit immer nur dann stärkt, wenn es um die beiden großen Kirchen geht, aber nicht bei Muslimen, und schon gar nicht bei Sektierern, Fundamentalisten und Ultra-Religiösen. Einer der Gründe könnte ihrer Überlegung nach folgender sein: "Religionsfreiheit wird in Deutschland von den Kirchen, nicht von den Einzelnen her gedacht. So erklärt sich nicht nur die in Deutschland anerkannte Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, das antidiskriminierungsrechtliche Anfechtungen stets unbeschadet übersteht. Dies hat auch zur Folge, dass Inhalte von Religion "autoritativ" festgelegt werden. Religiöse Überzeugungen bedürfen Brief und Siegel, um als ernsthafter Glaube begriffen zu werden, der nur dann auch grundrechtlichen Schutz verdient."

Weitere Artikel: Der Politologe Alban Werner deckt auf, dass die grüne Mittelschichtsklientel insgeheim denkt, was die AfD laut ausspricht. Im Print ist eine Rede Navid Kermanis nachzulesen, in der er von seiner Liebe zum Iran erzählt, vor allem aber, wie er bei der FAZ kündigte: "Die Verachtung, die mir Schirrmacher daraufhin entgegenbrachte, muss ich nicht ausbreiten. Es war wohl seine Art, mit Menschen umzugehen, die sich von ihm abwandten." Thomas Steinfeld denkt über Muzak nach.
Archiv: Merkur

Telerama (Frankreich), 01.02.2015

Emmanuelle Skyvington unterhält sich mit Abdel Merah, dem Bruder von Mohamed Merah, der vor drei Jahren in Toulouse sieben Menschen ermordete. Abdel Merah geht darin auf die fundamentale Rolle ein, die Erziehung, Schule und Zuhause spielen, damit aus harmlosen Jungs keine "Gotteswahnsinnigen" werden. "Man muss allen immer und immer wieder die republikanischen Werte des Teilens und des Zusammenlebens nahebringen. Wenn man feststellt, dass ein Familienmitglied einer radikalen Doktrin anhängt, sollte man keine Angst davor haben, das auszusprechen. Die Tatsache, auf einem Nährboden des Hasses und der Ablehnung anderer aufgewachsen zu sein - so wie ich - entschuldigt nicht, abzugleiten und ganz gewiss keine Terrorakte. Auch nicht, wenn man wie die Brüder Kouachi elternlos groß wurde. Denen, die meinen Bruder gelegentlich idealisieren, sage ich: Aber schaut euch an, was aus ihm geworden ist! Er hat sich indoktrinieren lassen für eine Sache, die weder Hand noch Fuß hat, er hat Leben zerstört und ist tot! Und immer wieder sage ich ihnen: Bleibt Herren eures Hirns!"
Archiv: Telerama

El Malpensante (Kolumbien), 31.01.2015

Kaffee, schwarz-weiß: Sechs jahre lang ist der kolumbianische Fotograf Jorge Panchoaga auf der Suche nach der Wahrheit über das Nationalgetränk seiner Landsleute durch seine Heimat gereist. Herausgekommen sind in jedem Fall wunderbare Schwarz-Weiß-Fotografien - neben der Einsicht, "dass unser Kaffee, angeblich "der beste der Welt", zumeist ziemlich schlecht ist, eine Art Ersatzkaffee, eben das, was von dem guten Kaffee, den wir exportieren, übrig bleibt. Andererseits stimmt es immer weniger, dass wir, in wirtschaftlicher Hinsicht, vor allem eine Kaffee-Exportnation sind. Die Zahlen beweisen das Gegenteil, auch wenn die Werbung versucht, diese Fiktion aufrechtzuerhalten. Der Vorteil könnte sein, dass wir Kolumbianer endlich anfangen, unseren guten Kaffee selbst zu trinken."
Archiv: El Malpensante
Stichwörter: Kolumbien, Kaffee

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.01.2015

Zoltán Kovács widmet sich dem lang anhaltenden Konflikt zwischen der ungarischen Regierung einerseits und dem Sender RTL, der Tochter des deutschen Bertelsmann-Konzerns. Dabei geht es um die auf Umsatz berechnete Werbesteuer (mehr hier). Der Konzern bestätigte, dass er in Verhandlungen mit der Regierung über Senkung der Steuer steht. Die Frage ist, ob mit einer Einigung auch das Ende der regierungskritischen Berichterstattung des Senders einhergehen wird: "Heute ist es kaum relevant, warum der Sender seine Berichterstattung änderte, die entstandene Situation ist Fakt. Der Ministerpräsident steht einem stark kritischen Sender gegenüber, und allen ist klar, dass er diese Situation selbst verursacht hat. (...) Man kann sich darüber freuen, dass RTL vielleicht nachgeben muss, doch wir sollten keinen Zweifel haben: falls es dazu kommt, ist das die Niederlage eines jeden ungarischen Journalisten und der Medien. Das bereits herrschende Bild wird nur verstärkt werden: nicht die Medien kontrollieren die Regierung, sondern die Regierung die Medien. Sollten wir uns darüber wirklich freuen?"

Eurozine (Österreich), 30.01.2015

Roman Schmidt unterhält sich sehr anregend mit David Marcus, dem neuen Chefredakteur der Zeitschrift Dissent über die Blüte neuerer, in den letzten zehn Jahren gegründeter politischer und literarischer Zeitschriften in den USA: "Wirklich, es gibt eine schöne politische Vielfalt in all diesen kleinen Magazinen. Jacobin (Website) ist wahrscheinlich marxistischer als die anderen und stärker an einer Art Zweiten Internationalen oder Volksfront ausgerichtet. N+1 (Website) ist literarischer und versucht eine kulturelle Analyse, die sich an der Frankfurter Schule orientiert, aber es gibt auch eine Menge radikalen Feminismus dort. The New Inquiry (Website) ist vielleicht am schwierigsten festzunageln - was ich als eine ihrer größten Stärken betrachte. Aber viele ihrer Autoren scheinen zum Anarchismus und anderen nicht-sozialistischen Spielarten des Radikalismus zu neigen."

In einem leidenschaftlichen Text attackiert die Osteuropahistorikerin und Ukraine-Spezialistin Anna Veronika Wendland ihr eigenes Fach, aber auch abgehalfterte SPD-Politiker wie Gerhard Schröder, Erhard Eppler und Helmut Schmidt, die bereit sind, halb Osteuropa auf dem Lotterbett ihrer posthumen Entspannungspolitik zu opfern, und den Historiker Jörg Baberowski, der den ukrainischen Nationalmythos auseinandernahm - etwas einseitig, wie Wendland findet: "Vor allem aber vergaß Baberowski, seine Werkzeuge aus der Kiste des Dekonstruktivismus auch auf den großrussischen Nationalismus und seine Mythologien anzuwenden, der sich gerade auf der Krim und in der Ostukraine gewaltsam breitmachte und sich von der Idee des Russländischen Imperiums ja gerade dadurch unterscheidet, dass er ethnozentrisch argumentiert. Aber der russische Mythos erscheint von jeder Analyse enthoben. Kiew sei nun mal der mythische Ur-Bezugspunkt der Russen - jener der Ukrainer offensichtlich nicht? - und das erkläre die russische Reaktion, die man gefälligst zu verstehen habe."
Archiv: Eurozine

CT 24 (Tschechien), 27.01.2015

Aus Anlass des Jahrestags der Befreiung von Auschwitz sprach der Schriftsteller Ivan Klíma, der als Kind im KZ Theresienstadt interniert war, mit Zuzana Tvarůžková vom tschechischen Fernsehsender CT 24. Man kann das Interview als Video hier auf Tschechisch hören und in einer gekürzten Transkription lesen. Auf den zunehmenden Antisemitismus in Europa angesprochen, sagt Klíma: "In Tschechien lebt man als Jude nicht gefährlich. Ich bin bei uns keinerlei aktivem Antisemitismus begegnet. Ich fühle mich hier ganz zu Hause. Und ich empfinde mich auch vor allem als Tscheche. Ich habe nicht das Gefühl, von hier fliehen zu müssen. Ganz im Gegenteil: In der Zeit, als ich hier komplett verboten war und von den Bolschewiken verfolgt wurde, hatte ich die Möglichheit, in Amerika zu unterrichten. Und trotzdem bin ich zurückgekehrt, weil das hier meine Heimat ist, weil ich mich hier zu Hause fühle." Zum russisch-ukrainischen Konflikt und Europas Haltung meint Klíma recht skeptisch: "Russland kann man nicht einfach umpolen. Und Europa hat keinerlei Lust auf einen Krieg. Die Russen würden schon eher in den Kampf ziehen, wenn es nötig ist. (…) Die üblichen Mittel, die in den westlichen Staaten Wirkung haben, wirken in Russland überhaupt nicht. Wenn man gegen die Russen ein Embargo verhängt, halten die das aus; der Russe ist gewohnt, dass er nichts hat."


Archiv: CT 24

Magyar Narancs (Ungarn), 18.12.2014

Jede Regierung möchte sich mit repräsentativen Bauten verewigen. Das ist auch kein Problem, meint Dániel Kovács, wenn diese Bauten von einer inspirierten Idee getragen sind. Das ist jedoch leider nur selten der Fall: "Was heute wirklich wichtig ist, wird nicht von Architekten erbaut - doch sie spielen darin eine wichtige Rolle. (...) Wichtiges wird heute von Gruppen von Menschen kreiert, die Gärten bauen, Räume und Gebäude für neue Zwecke zugänglich machen, Veranstaltungen und Bewegungen organisieren, Kulturzentren eröffnen und betreiben, Meinungen und Standpunkte formulieren - aus der Überzeugung, dass Siedlungen nicht von Politikern oder Ingenieuren, sondern von Menschen zugänglich, erträglich und lebendig gemacht werden."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Architektur, Siedlungen, Ungarn

New York Magazine (USA), 26.01.2015

Political Correctness und des Identitätsdiskurse machen zunehmend auch Liberale und moderate Linke mundtot, schreibt Jonathan Chait in einem Essay für das New York Magazine. Wenn die Vagina-Monologe nicht mehr aufgeführt werden, weil sie Frauen ohne Vagina diskriminieren, ist langsam das Ende der Fahnenstange errreicht, meint er und beschreibt weitere Beispiele, die bis hin zu einer generellen Infragestellung der Meinungsfreiheit führen. "Das sind extreme Vorstellungen, aber sie sind weder isoliert noch marginal. Ein häufig zitiertes Editorial aus dem Harvard Crimson forderte im letzten Jahr das Ende der akademischen Freiheit, wenn diese Freiheit verwerfliche Ideen zulässt. "Wenn unsere universitäre Gemeinschaft gegen Rassismus, Sexismus und Heterosexismus ist, warum", fragt der Autor, "sollen wir dann Forschung zulassen, die unseren Vorstellungen im Namen irgendeiner "akademischen Freiheit" widerspricht?" Nachdem Michelle Goldberg in The Nation eine "wachsende linke Tendenz zur Zensur und haarspalterischem Beleidigtsein" diagnostizierte, antwortete ihr die Rutgers Professorin Brittney Cooper in Salon: "Die Forderung, vernünftig zu sein, ist eine unehrliche Forderung. Schwarze haben mit Weißen seit ewig vernünftig diskutiert. Rassismus ist unvernünftig und das bedeutet, Vernunft ist eine beschränkte Waffe im Kampf dagegen.""