Magazinrundschau

Düster, aber gesund

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.08.2014. In Wired erklärt Edward Snowden, wie die besten Absichten direkt in die Hölle führen. Nepszabadsag fragt: Soll Imre Kertesz den selben Orden annehmen wie Göring? In Film Comment  will Alexander Sokurow dem Kino mit Literatur aus den Kinderschuhen helfen. Soziale Mobilität gibt es nicht, verkündet der Soziologe Jules Naudet in Les inrockuptibles. The Dissolve freut sich auf den Pepys aus Hollywood.

Wired (USA), 01.08.2014

Mit einigem Werbeaufwand (inklusive Werbevideo und Begleitartikel hier und hier) lanciert Wired James Bamfords große Reportage über Edward Snowden und dessen Entscheidung, der NSA den Rücken zu kehren und zum berühmtesten Whistleblower der Geschichte zu werden. Sogar echte Neuigkeiten finden sich in dem Text: So legt Snowden die Existenz eines Programms namens MonsterMind offen, das Cyberattacken noch in ihrer Anbahnung unter Rückgriff auf enorme Datenmassen automatisiert erkennen und abschießen soll. "Und das stellt laut Snowden ein Problem dar, denn die ursprünglichen Angriffe werden oft durch Computer in unbeteiligten Ländern geschleust. ... Neben dem Potenzial, zufällig einen Krieg auszulösen, hält Snowden MonsterMind für die ultimative Bedrohung der Privatsphäre, weil sich die NSA für den Betrieb des Systems geheimen Zugang zu mehr oder weniger der gesamten Kommunikation zwischen Übersee und den USA verschaffen muss. .... "Dies stellt eine Verletzung des Vierten Zusatzartikels der Verfassung der USA dar. Damit wird die gesamte private Kommunikation abgegriffen, ohne Durchsuchungsbefehl, ohne Angabe eines Grundes, ja sogar ohne Verdacht auf ein vorliegendes Verbrechen.""

Außerdem bei Wired: Eine Mini-Debatte darüber, ob es sich die Science-Fiction angesichts weltweiter Krisen und Katastrophenszenarien leisten kann, weiterhin Dystopien zu zu schreiben. Nein, meint Michael Solana, denn Science-Fiction legte immer schon den Nährboden für zukünftige technologische und gesellschaftliche Entwicklungen und die "dystopische Obsession" der Gegenwarts-Science-Fiction führe zu nichts Gutem. Devon Maloney widerspricht: Dystopien sind ein wertvoller Bestandteil kritischer Kultur und damit für den Fortschritt unabdingbar. Denn "eine gesunde Dosis Skepsis und die Befähigung, intelligent Kritik zu üben, zählen zu den wichtigsten, basalsten Qualitäten, über die eine gebildete Öffentlichkeit verfügen muss, um ihre Autonomie und Macht in einer sich rasant wandelnden Welt zu bewahren."
Archiv: Wired

Radar (Argentinien), 17.08.2014

Nicht ohne Melancholie erinnert sich die argentinische Schriftstellerin Ana María Shua an die goldene Epoche der Zeitschrift Reader"s Digest: "Die Reader"s Digest, die unsere Eltern in den 60er Jahren lasen, stand für alles, was wir aufgeklärten jungen Leute zerstören wollten, sie war das Symbol der scheinheiligen, ungerechten, imperialistischen Gesellschaft, die wir im Namen der Freiheit, der Kunst, der Sozialen Gerechtigkeit und des Neuen Menschen von der Erdoberfläche verschwinden lassen wollten. Heute, wo derartige Publikationen bloß noch rührend wirken, ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Die wild entschlossen antikommunistische Reader"s Digest klagte den Stalinismus wegen seiner Verbrechen an - wir aufgeklärten jungen Leute glaubten kein Wort. Die Bewohner der Sowjetunion sollten nicht glücklich sein? Die Bürger Ostdeutschlands sehnten sich nach dem Kapitalismus? Lächerlich! Die Roten Khmer ermordeten zwei Millionen Menschen, fast ein Drittel der Bevölkerung Kambodschas, stand in Reader"s Digest zu lesen - eine Wahrheit, die wir nicht akzeptieren konnten. Vielleicht war die Ideologie des Imperiums, die diese Zeitschrift vertrat, doch nicht so schlimm - wer weiß, ob wir sie, wenn eines Tages unser Schulunterricht zweisprachig, in Spanisch und Chinesisch, abgehalten wird, nicht noch vermissen werden."
Archiv: Radar

London Review of Books (UK), 21.08.2014

Nach dreißig Jahren haben Edward Jones and Christopher Woodward ihren "Guide to the Architecture of London" aktualisiert, und wenn diese beiden konservativen Architekten die neuen Wolkenkratzer wie Renzo Pianos Shard oder Richard Rogers One Hyde Park in ihrer Selbstbezogenheit geradezu undemokratisch finden, muss Owen Hatherley ihnen Recht geben, aber auch eine Mitschuld: "In ihrem Guide von 1983 vermittelten sie von London noch den Eindruck einer düsteren, aber gesunden Stadt, eines lebenswerten Ortes, auch wenn die meisten interessanten Leute damals lieber woanders leben wollten. 2013 gibt es diese Stadt noch überwiegend, aber sie wird zunehmend von einer dystopischen Kapitale eingeschnürt, in der Raum vernichtet und die Preise Wahnsinn werden. Jones und Woodward kann man die trübe Bilanz nicht zum Vorwurf machen, ihr Führer ist Beweis genug, dass London auch eine geplante und geordnete, zivile und menschliche Stadt ist. Zugleich lassen sich in dem Buch viele Gründe finden, warum wir an diesen Punkt gekommen sind, nicht zuletzt das Misstrauen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat und seinen städtischen Zeugnissen, die anhaltenden Versuche, architektonische Moden als Wissenschaft vom Raum zu präsentieren und die unnötige Verurteilung der Architekten, die sich die Finger bei dem Versuch verbrannt haben, die Stadt eher zugunsten der Mehrheit ihrer Einwohner zu gestalten statt zugunsten einer kleinen Minderheit von Rentiers."

Weitere Artikel: Patrick Cockburn schildert die verzweifelte Lage der sunnitischen Bevölkerung im Irak, die zwischen der Isis und der Regierung Maliki aufgerieben wird. Und Ferdinand Mount liest eine neue Biografie über Edmund Burke.

Film Comment (USA), 15.08.2014

Anlässlich einer New Yorker Vorführung seines Klassikers "Days of Eclipse" haben sich Lucas Neves und Violet Lucca mit dem russischen Regisseur Alexander Sokurow unterhalten. Der ist, wie stets, um große Thesen und plakative philosophische Aussagen nicht verlegen. Diesmal stampft er auf die Frage, warum er bei aller Skepsis gegenüber der Gemeinsamkeiten zwischen Film und Literatur soviele Adaptionen gedreht hat, gleich sein ganzes eigenes Metier ein und geht vor der Literatur auf die Knie: "Meiner Meinung nach ist das Kino als Kunst ein Kleinkind, auf das ein Erwachsener aufpassen muss. Und die [der Literatur entnommenen] Plots, die den Test der Zeit bestanden haben, die bis heute überliefert wurden, bieten mir eine gute Basis. Indem ich mich der Plots aus der Literatur bediene, vermeide ich einige Fehler, die mir beim Dreh unterlaufen können. ... Man zwingt uns, Filme über zeitgenössische Angelegenheiten zu drehen. Sie scheinen uns zu sagen: "Schaut nur, das Leben - moderndes Leben - ist so vielfältig, dreht doch bitte darüber etwas und nicht über etwas anderes!" Nur einige wenige Filmemacher erwidern darauf: "Wartet. Wir können dieses Leben gar nicht verstehen, es fehlt uns an der nötigen Distanz. Wir kennen die Richtung des Fortschritts nicht, also wie sollten wir darüber etwas aussagen, wenn wir es nicht verstehen können?""
Archiv: Film Comment
Stichwörter: Sokurow, Alexander

Les inrockuptibles (Frankreich), 13.08.2014

Meritokratie ist ein Mythos, erklärt der Soziologe Jules Naudet in einem Gespräch mit David Doucet über Naudets Buch "Grand patron, fils d"ouvrier". Naudet, der am Zentrum für Geisteswissenschaften in Neu Delhi arbeitet, interessiert sich vor allem für die Zirkulation zwischen sozialen Klassen und zeigt in seinem Buch anhand des Werdegangs eines großen Arbeitgebers, der ursprünglich aus dem Arbeitermilieu stammt, dass soziale Mobilität noch immer eher eine Ausnahme bleibt. "Trotz aller Anstrengungen sich einzureden, wir lebten in einer gerechten Gesellschaft, genügen diese Ausnahmen nicht, die Tatsache aus der Welt zu schaffen, dass soziale Reproduktion die Regel bleibt. Die Lasten der Unbeweglichkeit werden den jüngsten Generationen als Selbstverständlichkeit aufgebürdet, besonders stark in diesen Krisenzeiten. Man sollte sich jedoch nebenbei daran erinnern, dass es, wo es "Gewinner" gibt, notwendigerweise auch "Verlierer" geben muss."

New Yorker (USA), 25.08.2014

In einem Artikel des aktuellen New Yorker erklärt Christopher Beam, warum in China Patienten ihre Ärzte umbringen. Schuld ist offenbar ein Gesundheitssystem, das an der Erschwinglichkeit von und dem Zugang zu medizinischen Leistungen scheitert. Zwar gewährt die Gesundheitsreform offiziell 95 Prozent aller Chinesen Zugang zu ärztlicher Behandlung, doch die Kompetenz der Ärzte ist mitunter sehr bescheiden. Da alle annehmen, in den Städten sei die Versorgung am besten, sind die Kliniken dort hoffnungslos überlastet. Sprechstunden mit 300 Patienten kommen vor. Patientenbeschwerden werden nicht selten an professionelle Erpresser weitergeleitet. Die Kosten für das Scheitern der Reform dürften hoch sein: "Mit dem Altern der Bevölkerung, steigen die Ausgaben für medizinische Versorgung pro Familie. Übergewicht und Rauchen führt auch bei den Jüngeren zu höheren Arztkosten. Das ist nicht nur ein individuelles Problem; es könnte die gesamte Wirtschaft runterreißen. Die erfolgreiche Exportnation China könnte in Zukunft stärker auf den nationalen Konsum angewiesen sein. Die Chinesen müssten mehr kaufen. Doch solange die Kosten für medizinische Behandlung nicht ausreichend von den Versicherungen abgedeckt werden, werden die Menschen sparen, um im Fall des Falles ihre Arztrechnung bezahlen zu können."

Außerdem: Michael Specter stellt die indische Aktivistin Vandana Shiva vor, die gegen den von Firmen wie Monsanto betriebenen Lebensmittel-Totalitarismus kämpft und für die Diversität der Grundnahrungsmittel. Nick Paumgarten berichtet, wie das Onlinedating-Portal OkCupid seine User narrt, indem es ihnen ideale Partner vorgaukelt (das Tollste: es funktioniert!). Und Tad Friend erinnert an Robin Williams und weiß, warum der Schauspieler zu den Drogen griff: ohne war"s einfach zu öde.
Archiv: New Yorker

Dissolve (USA), 26.06.2014

Im Herbst bekommt Hollywood seinen eigenen Pepys: Dann nämlich werden die Tagebücher von Charles Brackett, Drehbuchautor und Co-Autor von Billy Wilder, veröffentlicht. Und sie sind spektakulär, "witzig, urban, voller Klatsch; urkomisch und grausam in dem einen Moment und tief bewegend im nächsten", verspricht Matthew Dessem. Interessant auch, wie Brackett Zeitgeschichte verarbeitet hat. Ende 1941 steckte Wilder in der Vorbereitung für The Major And The Minor", sein Regiedebüt in Hollywood: "Am Morgen des 7. Dezember rief Wilder Brackett an und sagte ihm, er könne an diesem Tag nicht am Drehbuch mitarbeiten, er sei bis morgens um 6 Uhr auf gewesen. Brackett beendete sein Frühstück und arbeitete froh an seinem Soloprojekt, bis Wilder anrief, um ihm zu sagen, dass die Japaner Pearl Harbor bombardiert hätten. Bracketts Tagebücher beschreiben den Kriegseintritt der USA quasi als Unterbrechung ihres Schreibens - die Arbeit eines ganzen Tages war verloren, als der frisch gebackene Captain Sy Bartlett "ins Büro spazierte, voller Vertrauen in seine Uniform, und Billy einen Job im Signal Corps andrehen wollte". Auch der folgende Tag war verloren mit Übungen für Bracketts neuen Job als Fourth Floor Air Warden. Angriffe auf Los Angeles wurden als ernstzunehmende Möglichkeit angesehen. Dennoch, am 2. Februar begann Billy Wilders Karierre als amerikanischer Regisseur. Brackett zitiert amüsiert einen Bericht von Doane Harrison: "Als Wilder zum ersten Mal "Action" rief, war seine Stimme ein klarer Sopran.""
Archiv: Dissolve

Nepszabadsag (Ungarn), 16.08.2014

Vergangene Woche wurde bekannt, dass Nobelpreisträger Imre Kertész zum Nationalfeiertag am 20. August mit dem staatlichen Sankt-Stephan-Orden ausgezeichnet werden soll. Es entbrannte umgehend eine Kontroverse über das Vorhaben. Freunde Kertész" rätselten darüber, ob er die Auszeichnung annimmt, nicht wenige rieten ihm davon ab. Andere waren verblüfft, dass die gegenwärtige Regierung ausgerechnet den Schriftsteller auszeichnet, der sie so oft kritisiert hatte. Wir zitieren aus dem Editorial der Wochenendausgabe von Népszabadság: "Hier das Lebenswerk, hier der Schriftsteller mit seinem Nobelpreis, gegen den der höchste staatliche Orden wie ein Schulterklopfen erscheint. Er soll die Größe des Ausgezeichneten preisen. Eine Größe, mit der jene Offiziellen, die jetzt den Orden übereichen wollen, bisher haderten. Wie sehr? So sehr, dass sie Kertész in unermesslicher Frechheit und zynischer Heuchelei jenen Orden geben, den damals Hermann Göring bekam... Es ist gleich, ob er ihn annimmt - soll er nur, niemand soll etwas Schlechtes sagen... Für ihn ist es gleich - und für uns kann es auch gleich sein. Er ist unser Schriftsteller, der Schriftsteller seiner Leser."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Kertesz, Imre

Guardian (UK), 19.08.2014

Die britische Kritik und Martin Amis sind in innigster Hassliebe miteinander verbunden. In dieser Woche erscheint sein neues Buch "The Zone of Interest", angeblich eine in Auschwitz spielende Komödie. Sam Leith erwartet eine neue Runde von Attacken und Gegenattacken, und führt das Ganze auf ein riesiges Missverständnis zurück: "Amis startete mit Karacho: frech und geistreich, gotesk und komisch, ausgewöhnlich formbewusst und ganz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert verhaftet. Doch bald entwickelte er ein Verlangen nach Ernsthaftigkeit. Er befasste sich mit atomarer Auslöschung, Katastrophenphysik, der Unumkehrbarkeit der Zeit, Hitlers Völkermord, Stalins Terror, islamistischem Terror und so weiter. Die Themen drangen in seine Arbeiten, aber nicht immer zu ihrem Vorteil. Denn sie stießen hier auf den Humor der Straße, krawallige Beschreibungen und prahlerische Prosa. Mit der Wucht seines Stils verband er die schwarzen Löcher des Weltraums mit den schwarzen Löchern beim schwulen Sex. Wie könnte es einen so ehrgeizigen und produktiven Autor wie Amis nicht auf die Palme bringen, wenn viele Leute noch immer "Money" von 1984 für sein bestes Buch halten?"

Außerdem erklärt Steven Pinker, wann es völlig in Ordnung geht, gegen die Regeln der Grammatik zu verstoßen.
Archiv: Guardian

New York Times (USA), 16.08.2014

Im aktuellen Heft des New York Times Magazine fragt sich Moises Velasquez-Manoff in einem Beitrag, ob der Klima- und Habitatveränderung geschuldete hybride Tierpopulationen, wie der Coywolf oder der Pizzlybär, die Zukunft der Fauna sind und was das für unser Artenverständnis bedeutet: "In hohen Breiten, wo verwandte Arten sich relativ spät auseinander entwickelt haben und sich so leichter kreuzen können, verlagern Tiere ihr Territorium aufgrund steigender Temperaturen und können so auf Cousins treffen und sich kreuzen. In Maine, Minnesota und New Brunswick hat der Kanadische Luchs mit dem eigentlich südlicher angesiedelten Rotluchs Nachwuchs bekommen. Ein Flughörnchen aus dem Süden ist nordwärts gewandert und hat sich in Süd-Ontario mit einem größeren Cousin gepaart. Das bekannteste Beispiel für diesen Prozess ist das Hybrid aus Polar- und Grizzlybär, der Pizzlybär … Diese Entwicklungen mögen wie unbeabsichtigte Folgen menschlichen Verhaltens aussehen. Wissenschaftler haben jedoch herausgefunden, dass die Genome vieler Arten Teile der DNA andere Arten enthalten, was nahelegt, dass sie nicht nur durch Evolution entstanden, sondern auch durch Hybridisierung …Das wieder lässt Hybride in einem ganz anderen Licht erscheinen. Zwar kann Kreuzung Missbildungen hervorbringen, sie kann aber auch die Anpassung befördern. Neue Arten entstehen quasi über Nacht … Gut möglich, dass Hybride also nicht bloß den Verlust von Biodiversität signalisieren, sondern auch eine gewisse Widerstandsfähigkeit angesichts jäher Umweltveränderungen."
Archiv: New York Times