Magazinrundschau

Spieler ohne Trainer

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.07.2014. Film Comment analysiert den Poliziotteschi, den italienischen Polizeithriller der 60er und 70er Jahre. In Repubblica wartet Roberto Saviano auf den Moment, an dem die Ndrangheta wieder zur Messe geht. Im Guardian feiert Zadie Smith die  eiskalte Präzision J. G. Ballards. Im New Yorker erinnert Héctor Tobar daran, wie vor vier Jahren  über 33 chilenischen Bergleuten die Erde einstürzte.  In Eurozine meint Thomas Piketty: Mehr Wettbewerb ist auch nicht die Lösung. Und die NYT ist froh, kein SEEBÖWE zu sein.

Eurozine (Österreich), 02.07.2014

Eurozine übernimmt ein ausführliches Interview, das The New Left Review und Esprit mit Thomas Piketty zur Dynamik der Ungleichheit geführt haben. Besonders wenig gibt der französische Ökonom auf den Wettbewerb als Instrument des Ausgleichs: "Wenn man den EZB-Präsidenten Mario Draghi fragt, was getan werden muss, um Europa zu helfen, dann sagt er, dass wir die Rentenökonomie bekämpfen müssen, womit er meint, dass geschützte Branchen wie Taxis und Apotheken geöffnet werden sollten, als ob nur Wettbewerb die ökonomische Rente beseitigen würde. Aber das Problem, dass die Erträge aus dem Kapital höher sind als die Wachstumsrate, hat nichts mit Monopolen zu tun und kann nicht durch mehr Wettbewerb gelöst werden. Im Gegenteil: Je reiner und kompetitiver der Kapitalmarkt, umso größer die Kluft zwischen Kapitalerträgen und Wachstumsraten. Das Endergebnis ist die Trennung von Eigentümer und Manager. In diesem Sinne läuft das Ziel der Marktrationalität der Meritokratie zuwider. Das Ziel von Märkten ist nicht, soziale Gerechtigkeit zu befördern oder demokratische Werte zu stärken, das Preissystem kennt weder Grenzen noch Moral. Unersetzlich wie er ist, kann der Markt nicht alles tun, dafür brauchen wir bestimmte Institutionen."

Weiteres: Joanna Warsza erinnert an Antanas Mockus, der als Bürgermeister von Bogotá Politik mit den Mitteln der Kunst zu betreiben versuchte. Der polnische Theaterautor Krzysztof Czyzewski weiß: Ohne Solidarität führt Freiheit in die Sklaverei.
Archiv: Eurozine

Film Comment (USA), 04.07.2014

Anlässlich einer gerade zu Ende gegangenen New Yorker Retrospektive zum italienischen Polizeithriller der 60er und 70er Jahre schreibt Nick Pinkerton in einem ausführlichen Essay für Film Comment unter anderem über das komplexe Verhältnis des Subgenres zur gesellschaftlichen Realität vor dem Hintergrund des erstarkenden Terrorismus von links und von rechts in Italien und zum Kino. "Der Poliziotteschi spiegelte nicht nur die alles durchdringende Ahnung politischer Verzweiflung wider bzw. reagierte darauf, sondern auch die zeitgenössischen Strömungen im populären Kino, mit Don Siegels 1971 entstandenem "Dirty Harry" - immerhin mit keiner geringeren italo-amerikanischen Ikone als Sergio Leones Mann ohne Namen in der Titelrolle - als ganz besonders wichtigem Referenzpunkt. Während Inspektor Harry Callahan von arg kompromissbereiten Richtern, die in Berkeley Verfassungsrecht lehren, gelähmt wird, handelt es sich bei dem Feind im Poliziotteschi um die endemische, systematische Korruption, die sich durch die höchsten Ebenen der Regierung zieht und dabei Unternehmer, den Klerus und deren Verbündete in der Mafia umfasst."
Archiv: Film Comment

Telerama (Frankreich), 03.07.2014

Über einen der größten Skandale der Filmgeschichte spricht Frédéric Strauss für Télérama.fr mit dem Schriftsteller François-Guillaume Lorrain, der dieser Tage ein Buch - "L"Année des volcans" - über Ingrid Bergman und Roberto Rossellini zur Zeit ihres Films "Stromboli" veröffentlichte. Es geht Lorrain vor allem um die Interferenzen zwischen filmischer und historischer Realität: die Vaterfigur Rossellini, das "Gefängnis" Ehe sowie das Fremdsein in einem fernen Land. Ingrid Bergmann "spielt eine von allem entfremdete Frau. Fremd auf Stromboli, entfremdet von ihrem Mann, entfremdet von ihrem eigenen Bild und selbst entfremdet von der Welt an sich... Rossellini verstand, dass sie eine Gefangene auf der Suche nach Erlösung war. Und das sollte auch die Rolle sein, die sie in seinem Film spielt. Er ließ sich von ihr inspirieren. Dann, während der Dreharbeiten wurde sie schwanger von ihm; auch das verarbeitete er sogleich und integrierte es in den Film. Damit hielt er sich sehr nah an der Wahrheit: Im Allgemeinen hat "Stromboli" einen ausgeprägt dokumentarischen Charakter und indem er Ingrid Bergman derart inszenierte, realisierte er fast eine Art Dokumentation über sie und ihre Liebe."
Archiv: Telerama

Guardian (UK), 07.07.2014

Zadie Smith revidiert ihre einstige, feministisch grundierte Ablehnung des SF-Autors J.G. Ballard und feiert ihn als kritischen Autor von eiskalter Präzision: "Mit fünfzehn Jahre verließ er das entvölkerte Shanghai, wo er die Kriegsjahre verbracht hatte, um im englischen Cambridge Medizin zu studieren, und verständlicherweise fand er es schwer, England ernst zu nehmen. Das unterschied ihn von seinesgleichen, die England in der Regel schrecklich ernst nehmen. Doch ginge es nur um seinen Skeptizismus, dann wäre Ballard nicht so ein außergewöhnlicher Schriftsteller. Man denke nur an die berühmte Einstellung in David Lynchs "Blue Velvet", wenn sich die Kamera unter den sorgsam getrimmten Vorstadtrasen gräbt, um das dystopische Gewimmel darunter zu enthüllen. Ballards Intention ist ähnlich, aber gewagter. Bei Ballard ist die Dytopie nirgendwo verborgen. Sie ist auch nicht - wie in so vielen dystopischen Fiktionen - eine Vision der Zukunft. Sie ist nicht der Subtext. Sie ist der Text."

Weiteres: Jeannette Winterson lernt von Sarah Boseley, dass die Briten derzeit nicht gut in Form sind. Im Gegenteil, sie werden immer fetter: "Zwei Drittel von uns sind übergewichtig." Tracey Emin, Yinka Shonibare, Wolfgang Tillmans und andere Künstler eruieren, was ein gutes Museum ausmacht.
Archiv: Guardian

Repubblica (Italien), 07.07.2014

Mafias funktionieren über Symbole, darum ist die Exkommunikation, die Papst Franziskus gegenüber der "Ndrangheta augesprochen hat, für Roberto Saviano ein genialer Akt der Kommunikation gewesen - und noch genialer war, dass der Papst die Gefängnisse der Mafiosi aufgesucht hat, um den Einzelnen klar zu machen, dass die Exkommunikation nicht ihnen als Person gilt, schreibt er in La Repubblica. Das führte nun dazu, dass die Mafiosi in den Gefängnissen geschlossen die Messen im Gefängnis boykottieren, für Saviano ein Zeichen, dass jeder einzelne Mafioso nun vor eine Wahl gestellt ist: Dieser geschlossene Streik "ist ein Manifest, eine Gehorsamserklärung gegenüber der "ndrangheta, die Bestätigung des Eids gegenüber der Organisation. Die "ndrangheta selbst soll diese Geste zur Kenntnis nehmen. Würden sie trotz der Exkommunikation zur Messe gehen, könnte es so scheinen, als begingen sie Verrat - und als begäben sie auf den Weg zu jener Buße und Vergebung, den Franziskus ihnen gewiesen hat."
Archiv: Repubblica

New Yorker (USA), 14.07.2014

In einem langen, atemberaubenden Artikel des aktuellen New Yorker rekapituliert Héctor Tobar das Grubenunglück im chilenischen San José vor vier Jahren, bei dem 33 Bergleute nach 69 Tagen aus einem Schutzraum in 700 Metern Tiefe gerettet werden konnten: "Es gab eine kleine Explosion, dann niederstürzende Felsen, dann wurde das Geräusch von Metall, das auf Stein schleift, plötzlich vom Geräusch ausströmender Luft abgelöst. Ein Stück Schlauch hing aus dem Fels und darin bewegte sich der Bohrer auf und ab. Oben, bei den Rettungskräften, bemerkte man, dass der Bohrer leerlief. Der Bohrer wurde auf den Boden unseres Tunnels herabgelassen. Mit einem Schraubenschlüssel hieb einer der Männer in einer Mischung aus Freude und Verzweiflung immer wieder auf den Bohrer ein: Hier sind wir! Hier sind wir! Bis der Boss dem Einhalt gebot. Er sagte, sie sollten wie Bergleute denken und aufpassen, dass die Decke über ihnen, durch die der Bohrer hing, nicht einstürzte. Bald waren alle 33 Männer versammelt und starrten den Bohrer ehrfürchtig und mit Tränen in den Augen an. Es war, als streckte eine Hand sich durch den Fels hindurch ihnen entgegen. Abwechselnd schlugen sie mit Steinen und Hammern auf den Bohrerschaft ein, so wie Kinder beim Topfschlagen."

Außerdem: Brian Eno verrät, wie er bei Aufräumen im Studio regelmäßig seinem eigenen Genie begegnet.
Archiv: New Yorker

La regle du jeu (Frankreich), 07.07.2014

Aus aktuellem Anlass erhält der spanisch-französische Schriftsteller Fernando Arrabal Gelegenheit, seine - nicht ganz überraschend - anarchistische Fußballauffassung darzulegen. Arrabal, der der Überzeugung ist, dass Spieler ohne Trainer viel besser spielen würden, begründet dies so: "Im Fußball ist der Vermittler, der "Mister", der Korporal, die Schöpfung eines genialen Mannes: Stalin. Ein Monster sozusagen. Er wollte Klubs ohne Eigentümer: Kapitalisten! Aber für ihn waren die Spieler ein Kreis von Individualisten, ihm fehlte ein Parteimann. Ein Apparatschik. Und so hat er den Regisseur geschaffen, einen Polypen. Einer von denen, ein Holländer, hat sich an die Spitze der Mannschaft Südkoreas gesetzt. Die hat er dreimal im Jahr gesehen und kein einziges Wort Koreanisch gesprochen. Die Folge: die südkoreanische Mannschaft hat eine sensationelle Weltmeisterschaft gespielt."
Archiv: La regle du jeu

New York Times (USA), 06.07.2014

Im aktuellen Heft des New York Times Magazines untersucht Alex Halberstadt die geschundenen Seelen von Zootieren. Er trifft einen Tierflüsterer, der ihm die Ähnlichkeiten zwischen menschlicher und tierischer Psyche offenbart. Aber auch die Verhaltensunterschiede: "Menschen im Zoo zu beobachten, ist ernüchternd, vor allem aus der Perspektive der Tiere. Im Central Park Zoo sahen wir einen Jungen am Aquarium. Er zeigte auf die Tiere und brüllte ungefähr 47 Mal "SEEBÖWEN!". Eine Nanny versuchte die Aufmerksamkeit einer Meerkatze zu erregen, indem sie das Tier wiederholt anheulte, während das Kleinkind, das sie damit bespaßen wollte, die Büsche anglotzte. Überhaupt finden entlang der Gehege allerhand Kleinkinddramen statt. Herden von Grundschulklässlern stehen herum und brüllen einander an, um es mal behaviouristisch auszudrücken, bis sie zur nächsten "Attraktion" weiter getrieben werden. Auf dem Rückweg beobachteten wir einen Kerl in weinroten Freizeithosen und Sandalen, wie er auf einen Roten Panda losstürmte und das Tier beinahe mit dem Varioobjektiv seines altmodischen Camcorders bajonettierte."

Und John Wray porträtiert Nick Cave, der sich in dem Film "20 000 Days on Earth" (mehr hier) selbst spielt. Dazu gibt"s Fotos von Cave und den "Bad Seeds" bzw. "The Birthday Party" im Berlin der 80er.
Archiv: New York Times