Magazinrundschau

Niemals peinlich

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag
06.06.2014. Die NYRB überlegt, wer alles Schuld ist am wachsenden Terrorismus in Afghanistan. Im New Statesman erinnert John Gray an Maos Freunde in der akademischen Welt. Der New Yorker porträtiert den englischen Schriftsteller Edward St. Aubyn. Rue89 widmet sich den neuen Porn Studies. In der LARB beschuldigt Muhammad Idrees Ahmad Seymour Hersh, im Falle Syriens profaschistischer Propaganda aufgesessen zu sein. In Eurozine erklärt Peter Sloterdijk, warum es in Deutschland keine digitale Kompetenz gibt.

New York Review of Books (USA), 05.06.2014

Ahmed Raschid empfiehlt in der New York Review of Books nachdrücklich Carlotta Galls Buch über den Afghanistankrieg "The Wrong Enemy: America in Afghanistan, 2001-2014". Die New-York-Times-Reporterin macht seiner Ansicht nach ganz richtig die pakistanische Armee als den eigentlich Feind Amerikas aus, nicht die Afghanen. Aber die Pakistanis sind nicht allein Schuld am Aufstieg der muslimischen Extremisten, auch Bush und Obama haben versagt, eine Strategie für den Konflikt zu finden. Und es gibt noch mehr Schuldige, so Raschid: "Gall ignoriert den afghanischen Bürgerkrieg nach 1989, als alle Warlords internationale Hintermänner hatten. Sie erwähnt nicht, dass Pakistan und Saudiarabien die Taliban unterstützten, während Russland, Iran, Indien, die Türkei und Zentralasiatische Republiken die Nordallianz unterstützten. Erst kürzlich gab Iran den Taliban und Al Kaida Unterschlupf, Indien finanziert den Aufstand der Separatisten in Belutschistan und Afghanistan gewährt den Führern der pakistanischen Taliban Zuflucht. Die Amerikaner haben dabei versagt, die Bevölkerung der Region zu schützen. Die meisten Afghanen erklären einem heute, sie fürchteten sich am meisten davor, dass nach dem Abzug der Amerikaner die Einfälle aus den Nachbarländern wieder anfangen. Doch Gall gibt von allen Nachbarn nur Pakistan die Schuld."

Außerdem: Claire Messud liest eine englische Neuübersetzung von Camus" "Der Fremde". Cass R. Sunstein bespricht einen Band über die Verfassungszusätze der USA. Und Ian Johnson bespricht zwei neue Bücher über die Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens vor 25 Jahren.

New Statesman (UK), 23.05.2014

John Gray bespricht im New Statesman den Sammelband "Mao"s Little Red Book", der zwar ganz interessant beleuchte, welchen Einfluss einst die Mao-Bibel im Westen hatte, aber kein Wort über Maos Verbrechen verliere. Gray findet das symptomatisch für die Sinologie an den Universitäten: "Wahrscheinlich werden einige einwerfen, dass wir um Maos Versäumnisse wissen - warum also auf ihnen herumreiten? Aber wenn wir heute das Ausmaß von Maos Verbrechen kennen, dann ist das nicht das Ergebnis von jahrzehntelanger akademischer Arbeit. Die erste gründliche Untersuchung zur großen Hungernot, "Hungry Ghosts" (1996), wurde von dem in Hongkong lebenden Journalisten Jasper Becker verfasst. Erst 2010 erschien "Maos Großer Hunger" des Historikers Frank Dikötter, eine wegweisende Studie, die auf jahrelanger Forschung in den jüngst geöffneten chinesischen Archiven basiert. Abgesehen von den Erinnerungen der Überlebenden, wurden die menschlichen Kosten der Kulturrevolution am besten in den Büchern "Chinese Shadows" und "The Burning Forest" von Simon Leys erfasst (ein Pseudonym des belgischen Sinologen und Schriftstellers Pierre Ryckmans). Eine Offenbarung und Maßstab für alle ist die Arbeit "Mao" von Jung Chang und ihrem Mann Jon Halliday (Leseprobe bei Vorgeblättert). Abgesehen von Dikötters wurde keines dieser Bücher über die menschlichen Erfahrungen unter Mao von einem Wissenschaftler geschrieben."
Archiv: New Statesman

Merkur (Deutschland), 01.06.2014

Im Merkur erinnert sich die Schriftstellerin Edith Lynn Beer an das oft besungene Österreich-Ungarn ihrer Familie, das es schon vor ihrer Geburt nicht mehr gab. "Ich war noch zu jung, um in der Schule von der Geschichte Österreich-Ungarns erfahren zu haben, da versammelte sich in Woodmere, Long Island, an den Sonntagen in den 1940ern ein Chor von Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten an unserem Wohnzimmertisch und sprach über "die Bukowina", wie sie sie nannten, den äußersten, östlichen Teil Österreich-Ungarns, als existiere sie noch. Den Ersten Weltkrieg und den aktuellen Krieg gegen die Nazis vergaß meine Familie an diesen Nachmittagen einfach, als könnten ihre Erinnerungen die Heimat vor der Invasion für immer bewahren."

In der Sprachkolumne des Merkurs nimmt Daniel Scholten die Ambitionen zur Etablierung einer geschlechtsneutralen Sprache in der neuen Straßenverkehrsordnung aufs Korn, wo aus Autofahrern "Auto Fahrende" wurden und - "von hier an wird es richtig falsch" - aus Fußgängern "zu Fuß Gehenden".
Archiv: Merkur

New Yorker (USA), 02.06.2014

Ian Parker befasst sich mit dem englischen Schriftsteller Edward St. Aubyn und seinen kommerziell höchst erfolgreichen Versuchen, den von der Mutter geduldeten sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater und seine Drogensucht mittels des Alter Ego Patrick Melrose literarisch zu verarbeiten. Parker stellt die Verbindung her zwischen Fiktion und einer finsteren Wirklichkeit, die in der "Patrick Melrose"-Trilogie offenbar nur ansatzweise Niederschlag findet: "Edward St. Aubyn zufolge begannen die Übergriffe durch den Vater, als er drei Jahre alt war und endeten, als er acht war. Nick Ayer kennt eine Frau, die als Kind ebenfalls von Roger (St. Aubyn) missbraucht wurde. Wenn Patrick in "Zu guter Letzt" Momente der Missbrauchsgeschichte in seiner Familie rekapituliert, eine Geschichte, die laut St. Aubyn Reportagecharakter hat, gibt es Bezüge zu anderen Opfern neben Patrick … Dies erinnernd, beschreibt St. Aubyn die Ankunft einer neuen Nanny. "Sie sagte, ich bin deine neue Nanny, und nun ist es Zeit für ein Bad, mach dich fertig. Ich ging und zog einen Anzug an, Krawatte, Schuhe, Socken. Sie fragte, was das soll, und ich antwortete: Sie sind eine Fremde, ich werde mich nicht vor ihnen ausziehen. Ich stieg also bekleidet wie ich war in die Wanne. Es ist klar, warum ich das tat."

Gestern kam die Meldung, dass Jaron Lanier mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Deutsche Leser kennen den amerikanischen Cyberpionier - er gilt als Erfinder der virtuellen Realität - nur als Konvertiten, als Mahner vor "digitalem Maoismus" und kybernetischem Totalitarismus. Doch 2011 zeichnete Jennifer Kahn im New Yorker ein sehr viel komplexeres Porträt Laniers: Sie beschreibt seine ungewöhnliche - und dramatische - Kindheit, tief geprägt von der Hippiekultur, was ihn allerdings nicht davon abhielt, für Atari oder (seit 2006) im Forschungslabor von Microsoft zu arbeiten: "Laniers Sehnsucht, sich dem Gespräch zu entziehen, während er gleichzeitig Akzeptanz sucht, hat tiefe Wurzeln. "Als ich aufwuchs fand mein Dad manchmal, dass ich nicht exzentrisch genug bin - in dem Sinne, dass ich später als Erwachsener in einem Haus mit Wänden, die parallel stehen, leben wollte, so Sachen", erzählte Lanier. Dann sprach er über seine Mutter. "Hätte sie länger gelebt, ich glaube ich wäre auf konventionelle Art erfolgreicher geworden", meint er. "Ich wäre Medizinprofessor in Harvard geworden oder etwas ähnliches. Mein Dad sagte "Sei der Buckminster Fuller oder der Frank Lloyd Wrigt" - sei der seltsame Außenseiter, der erfolgreich wird. Was ich dann ja auch irgendwie wurde."

Die allerneueste Ausgabe des New Yorker ist die traditionelle Fiction- und Poetry-Ausgabe. Online lesen darf man ein Porträt des Autors und Videobloggers John Greens lesen sowie Christine Smallwoods Besprechung von Phyllis Roses "The Shelf: From LEQ to LES" für das sich die Autorin durch die Bücher LEQ-LES im Regal ihrer Bibliothek gelesen hat.
Archiv: New Yorker

Rue89 (Frankreich), 31.05.2014

Porno, erfahren wir auf Rue89, ist eine ernsthafte Angelegenheit, die inzwischen unter dem Label porn studies auch wissenschaftlich erforscht wird. In einem Gespräch mit dem Geisteswissenschaftler François-Ronan Dubois, der jüngst eine einschlägige Einführung in das - natürlich aus Nordamerika importierte - Fach vorlegte, versucht Renée Greusard mehr darüber herauszufinden. Dubois erklärt es zum einen als eine universitäre Disziplin, zum anderen als eine "militante Bewegung", die einen kritischen und einen positiven Aspekt habe. Ersterer beschäftige sich mit den Stereotypen, Mainstream-Fragen und den konkreten Aufnahme- und Darstellungsformen der Studios, Letzterer "berücksichtigt auch bereits bestehende Initiativen, die jedoch noch Minderheiten darstellen oder Existenzprobleme haben, wie eine ethische, feministische oder schwule Pornografie". Auf die Frage nach der Akzeptanz des Sujets im akademischen Milieu meint er: "Ein junger Forscher, muss es sich schon überlegen, wenn er einen Artikel oder eine Arbeit zu diesem Thema schreibt. Er ist gezwungen, sich zu fragen, ob das eine gute Karrierestrategie ist. Es gibt einen spontanen Vorbehalt dagegen. Wenn man über Balzac arbeitet, muss man sich solche Fragen jedenfalls nicht stellen."
Archiv: Rue89

LA Review of Books (USA), 01.06.2014

In der Los Angeles Review of Books macht Muhammad Idrees Ahmad, Autor von "The Road to Iraq - The Making of a Neoconservative War", dem gefeierten Journalisten Seymour Hersh, der einst das Massaker von My Lai aufdeckte, sehr schwere Vorwürfe und hat dafür leider einige recht triftige Argumente. Hersh hatte in der London Review of Books, gestützt auf eine anonyme Quelle, behauptet, einige Giftgasattacken in Syrien seien nicht vom Assad-Regime, sondern von Islamisten verübt worden, um Barack Obama zur Intervention in Syrien zu verleiten (unser Resümee). Ahmad weist Hersh handwerkliche Fehler nach - unter anderem diesen: "Um Hershs Methode zu verstehen, lese man nur diesen beispielhaften Satz Hershs über das Untersuchungsteam der UN (dessen Ergebnisse eindeutig auf Assad als Urheber der Giftgasattacken hinweisen, d.Red.): "Ihr Zugang zum Ort des Geschehens, der erst fünf Tage nach den Gasattacken möglich wurde, fand unter Kontrolle der Aufständischen statt." Damit suggeriert Hersh, dass die UN durch die Gegenwart der Rebellen behindert worden seien und bezweckt, dass die Leser ein Hauptdetail übersehen: Der Besuch fand deshalb "fünf Tage nach dem Gasangriff statt" , weil das Regime den Zugang zu den Stätten verhinderte und sie stattdessen mit andauerndem Artilleriebeschuss belegte." Der London Review of Books wirft Ahmad vor, "profaschistischer Propaganda" aufzusitzen und keine Gegenstimmen zuzulassen.

Eurozine (Österreich), 06.06.2014

In Eurozine möchte Kenan Malik in der Debatte um den Ersten Weltkrieg und seine Ursachen nicht den Imperialismus aus dem Blick geraten lassen: "Es gab vor allem in diesem Jahr viele Diskussionen über die Rolle von Deutschlands Militarismus. Viele, die den Ersten Weltkrieg als einen gerechten, zumindest notwendigen Kampf darstellen wollen, betonen, wie wichtig es war, dass Großbritannien die deutsche Aggression stoppte. Deutschlands expansionistische Tendenzen und sein virulenter Rassismus ergeben nur Sinn vor dem Hintergrund des Imperialismus im 19. Jahrhundert, vor der Aufteilung des Globus unter den großen Mächten, als sich die "lebenden" Nationen das "Territorium der sterbenden" einverleibten. Imperialistische Expansion und die Rivalität der Großen Mächte waren eng miteinander verknüpft, wie Lord Salisbury richtig vorausgesehen hatte. Rivalitäten beförderten die imperialistische Expansion, während die imperialistische Expansion die Rivalitäten nährte."

Im Schweizer Monat unterhalten sich Marc Beise, Frank Schirrmacher und Peter Sloterdijk (online gestellt von Eurozine) über die "amerikanischen Digitalgiganten", und Peter Sloterdijk macht einen etwas überraschenden Punkt, als er Frank Schirrmacher zur Idee für ein europäisches Google beglückwünscht - als hätte Schirrmacher mit seinen apokalyptischen Visionen nicht kräftig dazu beigetragen, jeden Gedanken an digitale Innovationen zu ersticken. Diese Haltung kommt nicht von ungefähr: "In Europa", so Sloterdijk, "haben wir uns als Opfer empfunden, als Spielmasse der russisch-amerikanischen Konfrontation, und haben Lichterketten gebildet. Damit schafft man aber noch keine Kompetenz; es gibt hier ein europäisches Versäumnis, für das wir einen hohen Preis bezahlen. Es ist ja nicht so, dass der Computer ausschließlich auf amerikanischem Boden entstanden ist. Konrad Zuse hat für seinen genialen Computer, den er Ende der vierziger Jahre entwickelt hat, nach 20-jährigem Prozess vor dem Deutschen Patentamt eine endgültige Ablehnung seines Patentantrages erhalten, mit dem Argument, hier liege ein Produkt von mangelnder Erfindungshöhe vor. Das ist ein Ausdruck, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss!"

Außerdem interviewt Geert Lovink die Filmemacherin und Aktivistin Astra Taylor, die in ihrem Buch "The People"s Platform" über Internet und Kapital schreibt und eine große Lücke ausmacht: "Kritisches Denken ist nicht auf dem Stand der heutigen Realität mit ihrem vernetzten Kapitalismus - Deleuze" kurzes Postskriptum über die Kontrollgesellschaften ist so ziemlich das beste, was man zu diesem Thema bekommen, und er erwähnt nicht einmal explizit das Internet."
Archiv: Eurozine

New York Times (USA), 06.06.2014

Im New York Times Magazine porträtiert Jesse Lichtenstein die junge amerikanische Indie-Lyrikerin Patricia Lockwood. "Motherland Fatherland Homelandsexuals" heißt ihr neuer Gedichtband, darin stehen solche Sachen: "Emily Dickinson was the father of American poetry and Walt Whitman was the mother. Walt Whitman nude, in the forest, staring deep into a still pool - the only means of taking tit-pics available at that time." Auf Twitter, wo Lockwood 38.000 Follower hat, schreibt sie ihre berüchtigten "Sexts": "I am a water glass at the Inquisition. You are a dry pope mouth. You pucker; I wet you." Die Fans lieben sie dafür und inzwischen auch die Verleger. Lockwood selbst umreißt ihre Poetik in aller Kürze: "Ein guter Nebeneffekt davon, nie ins College gegangen zu sein, ist der Umstand, dass es mir niemals peinlich ist, etwas nicht zu wissen. Ich weiß einfach zu viel nicht. Würde man mein Gehirn anschauen, es würde so sein, wie das jener Taxifahrer, die nur einen großen Hirnlappen haben mit nichts als Richtungen drin. Bei mir wären es halt Metaphern. Eine echte Ausnahmeerscheinung."
Archiv: New York Times