Magazinrundschau

Kultur-Pidgin

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.10.2013. In El Pais Semanal erklärt der Schriftsteller Mia Couto, warum in Mosambik das, was man nicht sieht, am wichtigsten ist. Die LRB sieht patriotisch-christliche "Nachtwölfe" durch Putins Russland ziehen. In der NYRB lernt John Banville von Reiner Stach, was es bedeutete, Kafka zu sein. Quaterly Conversation stellt den ungarischen Autor Miklós Szentkuthy vor. The Virginia Quarterly Review porträtiert Harry Belafonte als zornigen Bürgerrechtler. Und der Rolling Stone erzählt die Geschichte des Welthits "The Lion Sleeps Tonight", dessen Melodie viele Weiße reich machte, nur nicht ihren Komponisten, den Zulu Solomon Linda.

El Pais Semanal (Spanien), 05.10.2013

Lola Huete Machado unterhält sich mit dem mosambikanischen Schriftsteller Mia Couto, der in diesem Jahr mit dem Premio Camoes ausgezeichnet wurde, dem wichtigsten Preis der portugiesischsprachigen Literatur: "Hierzulande ist das, was man nicht sieht, wichtiger als das, was man sieht. Die meisten Menschen hier haben zum Beispiel zwei Religionen. Was keinen Konflikt nach sich zieht - die Leute sind nicht ausschließlich entweder das eine oder das andere, nicht entweder Muslime oder Animisten. Man betet zu den jeweils funktionellen Göttern. Und das sollte man unbedingt wissen. Wüsste ich zum Beispiel nichts über den Katholizismus, hätte ich Schwierigkeiten, Spanien zu verstehen. Und die Logik der hiesigen Verhältnisse versteht man nicht ohne den Animismus. Die Spezialisten in Politik oder Wirtschaft begreifen nicht, dass es hier eine andere, tiefere, weniger sichtbare Logik gibt, die schwierig zu erklären ist." In seinen Büchern versucht er erst gar nicht, das zu erklären. "Ich möchte bloß darauf aufmerksam machen, dass das, was man sieht, nicht alles ist. Schlimmer als nicht zu begreifen ist nämlich, zu glauben, man habe längst begriffen. Selbst für Mosambikaner ist das in seiner Komplexität nicht einfach zu verstehen."
Archiv: El Pais Semanal

London Review of Books (UK), 10.10.2013

Peter Pomerantsev zeichnet ein geradezu schauderhaftes Gegenwartsbild von Russland, wo die "Nachtwölfe", patriotisch-christliche Biker unter Putins schützender Hand im Namen der heiligen russischen Volksseele wider den Westen giften und Rechtsextreme im Fernsehen die Menschen aufhetzen. "Der Kremlin braucht die Biker und Bewegungen solcher Art. Nichts von dem, wovon die russische Diktatur einst abhing, um sich den Hauch einer Legitimität zu verleihen (...), ist heute noch so machtvoll wie früher. Gerade einmal fünf Prozent der Russen halten die Regierung für 'sehr effektiv'. Putins Popularität war noch nie so niedrig ... Das System braucht neue Stars und die 'Nachtwölfe' entsprechen den Anforderungen. Wo die politischen Player vor kurzem noch von 'Modernisierung' und 'Innovation' sprachen, lauten die Reizwörter nun 'Religion', 'Traditionalismus', 'Eurasien' und 'Gott'."

Jenny Turner ist nicht ganz überzeugt von Virginie Despentes' Roman "Apocalypse Baby". Das Grundthema findet sie allerdings durchaus faszinierend: "FRAUEN! Seid ihr abgestumpft, grau, langweilig? Geht ihr auf die Vierzig zu, seid ohne Talente und Interessen und habt keine Ahnung, was ihr als nächstes tun sollt? Löst ihr 'einen leichten Ekel in Leuten' aus, bis zu dem Punkt, dass ihr von jedermann ignoriert werdet, womöglich weil ihr 'mit euch selbst nicht im reinen" seid? Dann könntet ihr schlimmeres tun, als bei der Überwachungsindustrie anzuheuern, schlägt Virginie Despentes in 'Apocalypse Baby' vor. Der Sektor boomt und Unscheinbarkeit und Unbestimmtheit sind ein Plus."

Außerdem: Patrick Cockburn blickt auf mehrere Jahre Kriegsberichterstattung zurück. Jeremy Harding besucht eine Ausstellung von zeitgenössischer chinesischer Kunst in Shanghai. Und Jenny Diski macht sich Gedanken über Unterwäsche und ihren alternden Körper.

Nepszabadsag (Ungarn), 05.10.2013

Bence Svébis stellt den jungen Autor Péter Gerőcs vor, dessen erster Roman, "A betegség háza" (Das Haus der Krankheit, Kalligram) in diesem Jahr erschienen ist. Gerőcs, der aus der Schule von László Márton, Péter Nádas und Miklós Mészöly kommt, ist damit einen großen Schritt weiter, meint Svébis, er verlässt sich immer weniger auf die Krücken kanonisierter Stimmen, sondern entwickelt eine eigene Sprache: "Der Erzähler Barnabás ist ein Menschenhasser, eine verbitterte, zynische Figur. Er analysiert alles, reflektiert nicht nur seine Umgebung, sondern auch sich selbst. Er nimmt das Leben auseinander, statt zu genießen will er es interpretieren. Er sucht nach Fehlern, damit er stets Fehler finden kann. Er isoliert sich zunehmend, geht zunächst aus der Stadt in ein Haus am Plattensee, dann in sich selbst. (...) Tatsächlich ist es so, als gäbe es zwei Erzähler und Kapitel für Kapitel würden sie sich abwechseln. Die geraden Kapiteln sind nüchtern, real, hier sind die Geschichten rund, die ungeraden Kapiteln sind krank, erschöpft, mit Erinnerungslücken versehen. Die geraden erzählen von der Vergangenheit, die ungeraden versuchen die Gegenwart zusammenzustellen. Zwei unterschiedliche seelische Verfassungen derselben Person."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Nadas, Peter

New York Review of Books (USA), 24.10.2013

John Banville hat mit angehaltenem Atem die neuen Kafka-Bücher von Saul Friedländer ("Franz Kafka") und Reiner Stach ("Die Jahre der Entscheidungen" und "Die Jahre der Erkenntnis") gelesen. Friedländers These zu Kafkas Homosexualität lässt er stehen, ohne näher auf sie einzugehen, aber Stachs bisher zweibändige Biografie preist er in höchsten Tönen: "Dies ist eine der großen literarischen Biografien, die im Bücherregal neben oder vielleicht sogar noch über Richard Ellmanns 'James Joyce', George Painters 'Marcel Proust' und Leon Edels 'Henry James' gehört. In seinem Werk gelingt Stach eigentlich etwas wahrhaft Originelles: In einer Kombination aus unermüdlicher Gelehrsamkeit, frappierender Empathie und einem Stil, den man vielleicht am besten als leidenschaftlich flüssig bezeichnet, gibt er wirklich eine Ahnung davon, 'was es bedeutete, Kafka zu sein'. Er hat sich selbst die Proustsche Aufgabe gesetzt, eine ganze Welt heraufzubeschwören und darzulegen, und er hat diese Aufgabe mit bemerkenswerten Erfolg gemeistert. Das Ergebnis ist ein unheimlich direktes Porträt von einem der beständigsten und rätselhaftesten Meister der Literatur."

Weiteres: Jennifer Homans lobt Elizabeth Kendalls Balanchine-Biografie, die neue Einblick über die Jugend und georgische Herkunft des Choreografen gewähre. Malise Ruthven diskutiert Akbar Ahmeds Buch "The Thistle and the Drone", das nachzeichnet, wie der Krieg gegen den Terror zu einem Krieg gegen den tribalistischen Islam in Afghanistan und Pakistan wurde. Timothy Snyder liest mehrere Bücher, die sich mit Herschel Grynszpan befassen, der 1938 in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath verübte, was die Nazis wiederum zum Vorwand für die Novemberpogrome benutzten.

MicroMega (Italien), 01.10.2013

Richtig feierlich wird Umberto Eco: Nur die Universitäten können Orientierung im Informationsorkan des Internets bieten, und überhaupt - auch Europa wurde an der Uni erfunden: "Das Heilige Römische Reich, seinerzeit von Barbarossa verkörpert, die römische Kirche, die in scharfer Konkurrenz stehenden Reiche von Frankreich und England, die kleinen spanischen Länder, die sich gegen die islamische Herrschaft wehrten, die ersten Handelsrepubliken und Städte Italiens, die aufkommende Hanse: Sie waren alle von unterschiedlichen Idiomen und Interessen zerrissen, und vereint allein durch eine Lingua franca, das mittelalterliche Latein, das allerdings nur von Gelehrten gesprochen wurde. Aus diesem Kultur-Pidgin entstand die Universität, dieses unvergleichliche Haus friedlicher Migration von Forschern und Studenten."
Archiv: MicroMega

Economist (UK), 04.10.2013

Die unmittelbaren Folge des Shutdowns in den USA hält der Economist zwar für überschaubar, doch sorgt ihn die zugrunde liegende Pattsituation: Mit ihrem Protest gegen Obamas Gesundheitsreform schaffen "die Republikaner einen Präzedenzfall, der, wenn er Schule macht, Amerika unregierbar machen würde. Die Wähler waren stark genug, ihrer Partei zwar die Kontrolle über einen Teil der Regierung - das Repräsentantenhaus - zu verleihen, doch den Demokraten überreichten sie das Weiße Haus und den Senat. Wenn eine Partei mit so einem bescheidenen Mandat damit droht, die Regierung solange zum Erliegen zu bringen, bis der politische Gegner ein unliebsames Gesetz widerruft, so unterliegen bereits beschlossene Gesetze offensichtlich der Gefahr, von einer Minderheit abgeschafft zu werden. Washington wird dauerhaft paralysiert und Amerika zu chronischer Ungewissheit verdammt."
Archiv: Economist
Stichwörter: Washington, Ungewissheit

Quarterly Conversation (USA), 02.09.2013

Briten (hier) und Amerikaner sind gerade dabei, einen ungarischen Autor zu entdecken, den Franzosen, Spanier, Portugiesen, Rumänen und Slovaken bereits übersetzt haben, die Deutschen kannten ihn in den 30ern, haben ihn später aber offenbar wieder vergessen: Miklós Szentkuthy (1908-1988), dem Rainer J. Hanshe, Gründer der Contra Mundum Press, ein Loblied singt. Hanshe gibt aber auch folgendes zu bedenken: "Dass Szentkuthy selbst den Lesern von Weltliteratur kaum bekannt ist, obwohl er seit 1990 in Übersetzung vorliegt, verleiht Erich Auerbachs prophetischer Dialektik Gewicht, 'daß auf einer einheitlich organisierten Erde nur eine einzige literarische Kultur, ja selbst in vergleichsweise kurzer Zeit nur wenige literarische Sprachen, bald vielleicht nur eine, als lebend übrigbleiben wird. Und damit wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört.' Es ist klar, dass er damit die englische Sprache meinte, und so die verstörende Realität bestätigt, dass Szentkuthy erst mit seiner Übersetzung ins Englische die Weltbühne betreten wird."

Virginia Quarterly Review (USA), 07.10.2013

Jeff Sharlet hat sich mit Harry Belafonte getroffen und ein umfangreiches, von Anekdoten nur so gespicktes Porträt über den amerikanischen Sänger und Bürgerrechtler geschrieben, der in den 50ern, wie er stolz anmerkt, mehr Platten als Elvis verkauft hat. Dabei kommt auch die Sprache auf seine ersten Abendshows. "1959 trat Belafonte in Las Vegas für 50.000 Dollar auf. Jeden Abend blickt er in einen weißen Ozean. Schwarze hätten sich seine Show nicht einmal dann leisten können, wenn Vegas nicht segregiert gewesen wäre. Aber das Fernsehen? Die Schwarzen hatten Fernseher. Ein Abend im TV erreichte mehr Schwarze als ein Jahr voller Sonntagabendauftritte im Apollo. Das Fernsehen, dachte Belafonte, würde sein Schlaghammer sein. Er würde sich die Idiotenkiste zunutze machen, um die Ketten aufzubrechen. Der Sponsor Revlon bestellte fünf weitere Sendungen. Doch nach nur einer weiteren Show trat Revlon mit einem Problem an ihn heran. 'Die Weißen unten im Süden mögen das nicht. Sie schalten den Sender aus.' Es liege an den Sängern und Tänzern. Einige weiß, andere schwarz. Wähle, hieß es. Egal, wie - solange die Gruppe homogen war. Man rechnete damit, dass Belafonte wohl die Schwarzen vorzog, wollte aber seine Freiheit respektieren. ... 'Ich sagte, macht's gut und auf Nimmerwiedersehen,' Belafonte lacht, wenn er das sagt, mit dem großzügigen Grinsen eines Haifischs. 'Macht's gut' - die Worte, mit denen er sich befreite. 'Statt ein dankbarer Nigger zu sein, der angekrochen kommt und sagt, wie wunderbar, dass Sie mir diese Möglichkeit bieten, saß ich also da und sagte: Nö, macht's gut.'"

Hier nimmt Belafonte Abschied von "Darlin' Cora": Er hat seinen Boss niedergeschlagen, weil er nicht "Boy" gerufen werden, will und jetzt ist der Sheriff hinter ihm her.



Rolling Stone (USA), 02.10.2013

Folkliebhaber wissen, dass der Song "The Lion Sleeps Tonight", mit dem die Tennieband The Tokens 1962 einen Welthit hatte, auf "Wimoweh" von Pete Seeger und seinen Weavers basiert. Weniger bekannt ist jedoch, dass "Wimoweh" wiederum von dem Song "Mbube" abgeleitet ist, der 1939 von der südafrikanischen Band Solomon Linda and The Evening Birds aufgenommen wurde. Anhand der bekanntesten Melodie, die jemals aus Afrika kam, erzählt Rian Malan in einem 13 Jahre alten Text, den longform jetzt online gestellt hat, ein faszinierendes und zeitlos beispielhaftes Stück räuberischer Popmusikgeschichte: "Vor langer, langer Zeit, trat ein Zulu an ein Mikrofon und improvisierte eine Melodie, die um die 15 Millionen Dollar einspielte. Dass Solomon Linda davon nichts abbekam, war wohl unvermeidlich. Er war ein Schwarzer im von Weißen regierten Südafrika, und seinen amerikanischen Genossen erging es kaum besser. Robert Johnsons Beitrag zum Blues blieb weitgehend unbelohnt. Leadbelly verlor die Hälfte seiner Veröffentlichungsrechte an seine weißen 'Förderer'. Led Zeppelin klauten 'Whole Lotta Love' von Willie Dixon. Alle Musiker waren kleine Fische in der Nahrungskette der Popmusik, aber Schwarze waren besonders angreifbar, und Solomon Linda, ein ungebildeter Wanderarbeiter aus einem wilden und rückständigen Land, war völlig wehrlos gegen versierte Raubfische."

Hier das Original von Solomon Linda and The Evening Birds:



Archiv: Rolling Stone