Magazinrundschau

Forensische Romanze

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.02.2013. In Newsweek liest Simon Schama aus den Knochen Richards III. Die Financial Times besucht die Amazon-Sklaven im britischen Städtchen Rugeley. Im New York Magazine erzählt Oscar de la Renta, wie der Schuldeneintreiber von Tennesse Willliams über ihn herfiel. In Salon schreibt Adam Michnik an Michail Chodorkowski. The Nation feiert den Avantgardisten Wiktor Schklowski. In Slate.fr holt uns Michel Serres in die Zukunft zurück. Und in n+1 singt Valery Nugatov ein Liebeslied an die zeitgenössische Kunst.

Newsweek (USA), 11.02.2013

Der berühmte Historiker Simon Schama höchstselbst beugt sich für einen ausführlichen Artikel über die Gebeine Richards III.: "Nun liegt uns Richards Geschichte auch so vor, wie seine Knochen sie uns erzählen: als forensische Romanze. Wir sehen nicht nur den tiefen Spalt in seinem Schädel, dort, wo die Hellebarde seinen Helm durchdrang, sondern auch die Male der Verletzungen und Verstümmelungen, die seiner Leiche zugefügt wurden. Es war immer schon bekannt, dass der neue König, Henry Tudor, Richards Leiche für zwei oder drei Tage in Greyfriars Abbey ausstellte, und zwar halb nackt, die untere Hälfte notdürftig mit einem schwarzen Lumpen verdeckt - die ultimative Demütigung für einen König, der in Prachtkostümen paradiert hatte. Die Leiche zeigt auch Einstiche in die rechte Gesäßhälfte, eine weitere Demütigung, und seltsamer Weise fehlen die beiden Füße."
Archiv: Newsweek
Stichwörter: Richard III.

Financial Times (UK), 08.02.2013

Die Kohleminen sind zu, dafür hat Amazon jetzt eine riesige Lagerhalle im englischen Städtchen Rugeley gebaut. Hunderte Menschen haben wieder Arbeit. Alles bestens, oder? Eher ernüchternd, stellt Sarah O'Connor fest. Amazon zahlt kaum Steuern und stellt nur wenige der Arbeiter fest ein. "Für viele war es ein Kulturschock. 'Das Feedback, das wir bekommen, bezeichnet es als eine Art Sklavenlager', sagt Brian Garner, der flotte Vorsitzende des Lea Hall Sozialzentrums und Clubs für Minenarbeiter, eine beliebter Treffpunkt." Vor allem die Arbeitscomputer, die jeder mit sich tragen muss, nerven, "weil sie einem ständig anzeigen, ob man zu langsam oder zu schnell ist. Die Manager können außerdem Nachrichten simsen und Arbeiter auffordern, sich zu beeilen', erklärten einige. 'Die Leute werden ständig davor gewarnt, sich zu unterhalten. Das Management ist sehr darauf bedacht, jede Form von Zeitverschwendung zu unterbinden."
Archiv: Financial Times
Stichwörter: Amazon, Kulturschock

New York Magazine (USA), 11.02.2013

Eine Modeausgabe. Der Modedesigner Oscar de la Renta erklärt im Interview, warum er den wegen antisemitischer Sprüche von Dior gefeuerten John Galliano beschäftigt, dass er gern mal Michelle Obama anziehen würde. Und was sich seit seinen Anfängen in der Modeindustrie verändert hat: So konnte er 1963 für 150 Dollar ein Apartment in einem Brownstone mieten. "Ich war begeistert - auch, weil der Nachbar über mir Tennessee Williams war. Aber mein Apartment wurde zu einem Albtraum. [Williams] suchte sich die schlimmsten Typen auf der 42nd Street - als die noch wirklich gefährlich war. Eines nachts, ich schlief schon, brach ein riesiger Klotz bei mir ein und stürzte sich auf mich. Gott sei Dank konnte ich ihn loswerden. Er sagte, er sei von der Telefongesellschaft."

Salon.eu.sk (Slowakei), 04.02.2013

Salon hat einen langen Brief Adam Michniks an Michail Borissowitsch und Michail Chodorkowski aus der Gazeta Wyborcza ins Englische übersetzt. Michnik schreibt hauptsächlich über Chodorkowskis Autobiografie, die ihn beeindruckt hat. Etwa, dass Chodorkowski bei den Komsomolzen war. Für den jungen Michnik konnten das nur entweder Verfechter der Diktatur oder Opportunisten sein. "Aber manchmal traf ich Menschen, die mit dem System gebrochen und sich der Opposition angeschlossen hatten, was mein manichäisches Weltbild verkomplizierte. Was mich noch mehr verstörte waren die Veränderungen nach 1989, als die polnische Gesellschaft zerrissen war. Die Sprache des scharfen Antikommunismus und Nationalismus verwandelte sich in ein politisches Projekt und in die reaktionäre Rhetorik der Intoleranz oder der persönlichen Abrechnungen. Diese Leute suchten keine Verbündeten, mit denen sie ein demokratisches Polen aufbauen konnten - sie wollten eine nationale Hexenjagd gegen Parteimitglieder entfesseln. Sie waren, so nannte ich sie, Antikommunisten mit einem bolschewistischen Gesicht."
Archiv: Salon.eu.sk

The Nation (USA), 25.02.2013

Ben Ehrenreich schreibt einen langen Essay über den russischen Autor Wiktor Schklowski (1893-1984) , dessen Werk gerade peu a peu ins Englische übersetzt wird. "Was sich abzeichnet aus diesen Arbeiten ist ein Gruppenporträt von Schklowskis Formalismus - sogar der Name trocknet einem den Mund aus - das wenig Ähnlichkeit hat mit irgendeiner anderen Schule der literarischen Kritik, die im letzten Jahrhundert oder überhaupt im Westen entstand. Er wurde nicht an einer Universität geboren, sondern aus der literarischen Avantgarde und Seite an Seite mit der Russischen Revolution. Ironischerweise, bedenkt man, dass die Formalisten auf einer Trennung von Literatur und äußeren Ereignissen bestanden, erhob er sich nicht mal ein Haar breit entfernt von den Tumulten, die Europa die meiste Zeit der zwanziger Jahre erschütterten. Als die Revolution im Februar 1917 ausbrach -'es war wie Ostern', schrieb Schklowsky, 'ein fröhliches, naives, turbulentes Karnevalsparadies' - war er bereits ein Rebell, wenn auch von einer anderen Sorte als Lenin oder Trotzki. Jahre später, als [die italienische Autorin und Übersetzerin Serena] Vitale ihn fragte, was die Revolution für ihn bedeutet hatte, antwortete Schklowski: 'Die Diktatur der Kunst. Die Freiheit der Kunst.'"
Archiv: The Nation

Slate.fr (Frankreich), 10.02.2013

Eric Le Boucher feiert das Büchlein "Petite Poucette" des greisen Philosophen Michel Serres als lange erwartete Antwort auf den "Empört euch!"-Aufruf des anderen großen Greises Stéphane Hessel: "Dieser Held der extremen Linken hat uns mit seinem deprimierenden Traum von der guten alten Zeit nur in die gloriosen dreißig Nachkriegsjahre zurückgeworfen. Der energische Académicien Serres dagegen, künftiger Held der Internauten, bringt uns in die Gegenwart zurück." Le Boucher begrüßt den Fortschritt: "Die Erfindung der Schrift hat uns erlaubt, nicht mehr die ganze orale Tradition auswendig lernen zu müssen. Der Buchdruck gab uns Montaigne und einen Kopf, der gut funktionierte, statt einfach nur voll zu sein. Heute legt uns das Internet das Wissen der Welt zu Füßen. Und Serres bilanziert: 'War es das Ziel von Bildung, Wissen weiterzugeben? Okay, Aufgabe erfüllt!'"
Archiv: Slate.fr

Economist (UK), 09.02.2013

Der Economist beobachtet einen neuen Trend in Nordkorea: Kapitalistische Unternehmer besetzen erste wirtschaftliche Nischen im quasi-stalinistisch geführten Land. "Eine vitale Abwechslung für die Menschen, denen dort bislang groteske Lügen verfüttert wurden. Korrupte Grenzpatrouillen and Sicherheitsbeamte lassen sich von engagierten Menschen - ob nun aus religiösen oder politischen Gründen - bestechen, um Information rein und raus zu lassen. Handys, Computer und Radios, die die Händler verkaufen, lassen das Staatsmonopol auf Wahrheit erodieren." Dem argwöhnischen China rät der Economist unterdessen, den neuen Kapitalisten beherzt unter die Arme zu greifen. Im beistehenden Nordkorea-Briefing erfahren wir außerdem: "Diese illegalen Märkte (...) haben eine Klasse neuer Reicher entstehen lassen, die gelegentlich mit ihrem Reichtum protzen - und die Behörden schmieren, wenn diesen das zu verdächtig vorkommt. ... Diese Unternehmer könnten schlussendlich eine Bedrohung für das Regime darstellen, auch wenn sie durchaus ein Interesse daran haben, den Status Quo zu erhalten, solange er ihrem Profit dienlich ist. Die Zeit wird zeigen, ob ein ernsthafter Versuch unternommen wird, deren Reichtum zu beschlagnahmen. Alternativ dazu könnte der zusehends sichtbare Abstand zwischen Reich und Arm Ressentiments in der Bevölkerung begünstigen."

Außerdem liest man beim Economist neue Bücher über Scientology und Essays von James Wood.
Archiv: Economist

El Pais Semanal (Spanien), 10.02.2013

"Fenster auf und lüften, aber richtig!", fordert die spanische Schriftstellerin Almudena Grandes: "Was zurzeit in Spanien geschieht, ist gravierender, als es aussieht. Es geht nicht mehr nur um einen oder zwei oder auch drei Korruptionsskandale. Wir befinden uns am Ende einer Epoche, ein Staat zerfällt, für mich die logische Folge der Tatsache, dass man die 'Transición', also buchstäblich einen 'Übergang', in einen Dauerzustand hat verwandeln wollen - mit all den dazugehörigen undemokratischen Arrangements: Über alles - die Monarchie, die Verfassung, die Autonomien, das Zweiparteiensystem - entschieden regelmäßig drei, vier Herren, während sie nach gemeinsamem Mittagessen ihre Zigarre rauchten, und die Hauptsache dabei war, dass die Bürger niemals erfahren würden, was man im Einzelnen ausgehandelt hatte. Machen wir uns nichts vor: Diese Undurchsichtigkeit ist ein grundlegendes Element unserer Demokratie. Da hat es wenig Sinn, von Institutionen, die im Halbdunkel entstanden sind, Transparenz zu verlangen. Vonnöten ist eine vollständige Re-generation, im Wortsinn."
Archiv: El Pais Semanal
Stichwörter: Monarchie, Monarchien, El Pais

New Republic (USA), 11.02.2013

Der oft wenig respektvolle Kunstkitiker Jed Perl hat auch am Werk des wunderbaren Ai Weiwei manches auszusetzen, ist aber so höflich, es in Fragen zu kleiden: "So fest und bewunderungswürdig Ai gegen das chinesische Regime einsteht, in seiner Kunst neigt er zu stark zu Scherzen und Ironie, die in der Wiederholung banal werden. Sollen die 1001 Chinesen, die er zur Documenta brachte, ein Readymade sein? Und würde er auf den Einwand, dass fast sein gesamtes Schaffen dem Schaffen amerikanischer Künstler ähnelt - ob es seine Boxen sind, die an Judd erinnern, seine Möbel, die auch von Richard Artschwager sein könnten, oder seine Stahlstangen, die an Robert Morris und Carl Andre denken lassen - antworten, dass er es genau so meine und aus der amerikanischen "Original"-Idee ein Readymade mache? Und wenn er Antiquitäten kaputtmacht oder anderweitig verändert - ist das dann seine Version eines 'Readymade aided', wie es Duchamp einst nannte?"

Außerdem: Michael Kinsley beschreibt sein Leben als Journalist in amüsanten (und unfreundlichen) Briefen.
Archiv: New Republic

The Atlantic (USA), 01.02.2013

Joshua Lang entwickelt ein Szenario, das auch schon durch Horrorstories des 19. Jahrhunderts geisterte. Was ist eigentlich, wenn man in der Narkose gar nicht bewusstlos ist, sondern danach nur vergessen hat, was man durchgemacht hat? "Diese Erfahrung nennt sich 'intraoperatives Erwachen' oder 'Betäubungsbewusstsein', und sie kommt häufiger vor als Sie vielleicht glauben. Trotz abweichender Studien sind sich die meisten Experten einig, dass unter tausend Patienten in Vollnarkose ein bis zwei zu Bewusstsein kommen. Patienten, die erwachen, hören die Plaudereien der Chirurgen, die Schleif- und Schmatzgeräusche der Organe, das Blubbern des Bluts in den Kanülen; sie spüren die tastenden Finger der Ärzte, das Rucken und Ziehen an den Eingeweiden; sie riechen verätztes Fleisch und versengtes Haar. Aber da einer der ersten Schritte einer Operation das Zukleben der Augen ist, können sie nicht sehen. Und da sie meistens auch gelähmt werden, um Muskelzuckungen zu unterbinden, können sie den Ärzten nicht mitteilen, dass sie wach sind."
Archiv: The Atlantic

Elet es Irodalom (Ungarn), 08.02.2013

Im Jahr 2011 hat die ungarische Regierung - ausgerechnet in dieser Frage brav der EU folgend - das "Nichtraucherschutzgesetz" auch auf gastronomische Einrichtungen wie Kaffeehäuser ausgeweitet. Hätte man nicht noch einmal schwarzes Schaf spielen können, fragt verzweifelt der Historiker und passionierter Zigarrenraucher Gyula Zeke und ruft alle Demokraten auf, sich gegen diesen "Gesundheitsfaschismus" zu wehren: "Welchen Sinn hatten die beiden Weltkriege, die Überwältigung massenmörderischer Diktaturen und die Niederlage des Ostblocks im Kalten Krieg, wenn die jetzigen Mächtigen der aufatmenden Welt mir auf demokratischem Wege mitteilen wollen, was mich glücklich machen soll, und wenn ich kein Verständnis dafür zeige, mich durch Gesetze zur Einsicht zwingen wollen? Die Wende von 1989 bedeutete für mich, dass ich mich endlich damit und nur damit beschäftigen kann, wovon ich etwas verstehe. Dass ich keine Angst haben und mich nicht als Mensch zweiter Klasse fühlen muss, dass ich mich nicht für irgendeine bessere Sache politisch einsetzen muss, sondern dass es genügt, meinen Namen unter meine Texte zu schreiben und die Stadt nach meiner eigenen kulturellen Routine zu nutzen. Es sind dreiundzwanzig Jahre vergangen, und wieder laufe ich voller Unruhe in einem ganz und gar jämmerlichen Land umher und kann mich nicht einmal mit einer Zigarre zu meinem Bier oder Kaffee an meinen Platz setzen, um die Sache zu überdenken."

Nach landläufiger Meinung ist für die gesellschaftliche Krise in Ungarn die wachsende Spaltung der Gesellschaft verantwortlich. Oder umgekehrt. Der Politologe Ervin Csizmadia hält jedoch die Spaltung selbst nicht für das eigentliche Problem, sondern, dass diese Spaltung als unüberwindbare Gegebenheit, als ein Fluch betrachtet wird. Deshalb ist eine neue Debatte erforderlich, fordert Csizmadia: "In den meisten Ländern der Welt gibt es eine Spaltung, die mit der politischen Polarisierung in Ungarn vergleichbar oder sogar größer ist, dennoch können viele Länder dieses Problem viel besser lösen und sind auch wettbewerbsfähiger als Ungarn. Der Grund dafür liegt meiner Meinung nach darin, dass man diese internen, zumeist den dortigen Traditionen zugrunde liegenden Gegensätze nicht verwischen oder künstlich lösen will, sondern sich mutig mit ihnen auseinandersetzt und standhaft nach integrierenden Mechanismen sucht, die über diese Spaltung hinaus weisen. Eines der wichtigsten Mittel für das Weiterkommen Ungarns wäre daher eine neue Debatte darüber, weshalb diese integrierenden Mechanismen in unserem Land fehlen und wie sie begründet werden könnten."

n+1 (USA), 12.02.2013

n+1 übersetzt ein höchst emphatisches Gedicht von Valery Nugatov über seine Liebe zur Kunst:

"I want to fuck you
in front of
works of contemporary art
in front of installations
assemblages
readymades
performances
video art
..."

Außerdem: Charles Petersen denkt über Schwindler nach und über Stanley Cavells Essay "Must We Mean What We Say?"
Archiv: n+1
Stichwörter: Video Art

New York Times (USA), 09.02.2013

Dank seines Öls ist die postsowjetische Öl-Diktatur Aserbaidschan steinreich geworden, aber berüchtigt geblieben. Der Regional-Magnat Ibrahim Ibrahimow will Investoren mit einem riesigen Luxus-Resort im Kaspischen Meer anlocken. Nach einem Besuch in Baku bleibt Peter Savodnik im Magazine skeptisch: "Ibrahimow, der seine blauen Krokodillederschuhe von Stefano Ricci zur Schau stellt, die gut zu seiner blauen Jean von Stefano Ricci, seinem blauen Zilli-Jackett und seinem blauen Zilli-Hemd passen, wippt unrhythmisch mit seinen Füßen. Jedes Mal, wenn ich eine Frage stelle oder er zur Antwort anhebt, kommt ein Anruf oder eine Nachricht auf sein Handy. Gelegentlich sagt Ibrahimow wahllos etwas dahin, das man nicht für etwas Tiefsinniges halten sollte: 'Ich lebe sehr einfach.' oder: 'Meine Lieblingsorte sind Frankreich und die Türkei."

Außerdem: Jeff Himmelmann porträtiert den bekennend bisexuellen R'n'B-Megastar Frank Ocean. Besprochen werden in der Book Review unter anderem David Shields' neue Literatur-Essays "How Literature Saved My Life" und Elizabeth L. Clines Plädoyer für den Slow Style "Overdressed" und gegen die Hochgeschwindigkeitsmode der billigen Materialien und ausgebeuteten ArbeiterInnen in China.
Archiv: New York Times