Magazinrundschau

Nichts als eine Stilblüte

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.01.2013. Osteuropa würdigt die polnischen Komponisten im Allgemeinen und Witold Lutosławski im Besonderen. In The American Scholar erzählt William Deresiewicz, warum er in Portland ein Einhorn ist. Bloomberg sagt einen Aufstand in China voraus. Im Merkur beschreibt Chaim Noll den arabischen Frühling als Krieg zwischen Saudiarabien und Iran. Le Monde beklagt die hohen Gagen französischer Schauspieler. In HVG analysiert Péter Esterházy seine heißeste Beziehung. In der London Review of Books versteht James Meek, warum immer mehr amerikanische Autoren lieber an Fernsehserien arbeiten als an Romanen.

Osteuropa (Deutschland), 01.01.2013

Mit einem ganzen Heft über Witold Lutosławski wappnet Osteuropa uns bestens für dieses Jahr der polnischen Komponisten: Lutosławski wurde vor hundert Jahren geboren, vor achtzig Jahren Henryk Górecki und Krzysztof Penderecki.

Der polnische Autor und Filmkritiker Wojciech Kurczok widmet Witold Lutosławski einige unsortierte, aber sehr enthusiastische Bemerkungen: "Als ich unlängst nach vielen Jahren wieder Lutosławskis Musique funèbre (1958) hörte, begegnete ich mir selbst. Fünfzehn Jahre mochten vergangen sein, aber meine Begeisterung für dieses Werk ist unverändert geblieben: Vierzehn Minuten totaler Musik, wohl der höchste Flug einer polnischen Kompositionsidee, ein Meisterwerk, das für ältere Musikliebhaber das Wesen der elegischen Schönheit darstellt und für jüngere ein Beweis für Witolds souveräne Herrschaft ist. Ein piekfeiner Herr mit grauen Haaren und einer sanften Stimme, einem erstklassigen Intellekt und einem heiteren Gemüt." Das einzige, was Lutosławski zur Vollkommenheit fehlt, ist die oberschlesische Herkunft, lässt Kuczok durchblicken und hebt zu einer weiteren Hymne an, nämlich auf die Kattowitzer Kompositionsschule mit Szabelski, Górecki, Szalonek und Grazyna Bacewicz.

Weiteres: In einem sehr lehrreichen Artikel erklärt Sebastian Borchers die Bedeutung der polnischen Komponisten für die Neue Musik. Die Musikwissenschaftlerin Danuta Gwizdalanka beschreibt Lutosławskis Lebensweg und seine musikalische Entwicklung, von der Avantgarde zurück zu Melodie und Harmonie. Und die Geigerin Anne-Sophie Mutter erinnert im Interview mit Manfred Sapper daran, wie sie 1986 im Auftrag des Großmäzens Paul Sacher Lutoslawskis Stück "Chain II" uraufführte: "Lutosławski hat mir das Fenster in die Zukunft geöffnet. Es hätte nicht glückhafter sein können."
Archiv: Osteuropa

American Scholar (USA), 01.01.2013

Ziemlich komisch liest sich, was William Deresiewicz über sein Leben als Jude in Portland erzählt, wohin er aus New York verzogen ist. Zum Beispiel sprach ihn neulich im Supermarkt ein Mann an: "Sie sind Jude, oder?" Normalerweise, so Deresiewicz, kann es sich bei solchen Fragenden nur um Ultraorthodoxe oder "Jews for Jesus" handeln, die einen Juden zum rechten Glauben bringen wollen. "Aber es stellte sich heraus, dass er ein ganz normale Portlander war, ungefähr vierzig, mit Vollbart, großem Pullover, unschuldigem Gesicht. Aber seine Augen leuchteten selig... 'Äh, ja', sagte ich. 'Hi', er streckte seine Hand aus, 'ich bin Kevin!' Pause.' Wussten Sie, dass heute Purim ist?' Ich drehte mich zum Gemüseregal, zu überrascht um zu antworten. Purim? Woher wusste dieser Goy, dass Purim war? 'Nein?', sagte er, 'Sie fühlen sich Ihrem Erbe wohl nicht so verbunden?' … 'Dabei strahlen Sie es aus', sagte mein Verfolger weiter. 'Es ist eine große Tradition, Sie sollten stolz darauf sein!'" Als Jude in Portland, so William Deresiewicz, ist man ungefähr so alltäglich wie ein Einhorn. Und so wird man offenbar auch behandelt.
Stichwörter: Portland

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.01.2013

In einem unwürdigen und grotesken Schauspiel wurde im Dezember die Bewerbung des bisherigen Direktors des Budapester Nationaltheaters, Róbert Alföldi, abgelehnt und der talentierte, ehemals alternative Theatermacher Attila Vidnyánszky zu seinem Nachfolger gewählt. Er war seit Längerem der Wunschkandidat der kulturfeindlichen politischen Macht, die ihn in kurzer Zeit zu einem der Mächtigsten in der ungarischen Theaterlandschaft aufsteigen ließ und von ihm nun erwartet, den "unnationalen Geist" aus dem Theater der Nation endlich auszutreiben. Als Günstling der Macht ist von Vidnyánszky jetzt nichts mehr zu erwarten, meint der Theaterkritiker Tamás Koltai, der angesichts dieses Pakts mit der Politik nicht viel Gutes aufs Nationaltheater zukommen sieht: "Die Leitung des Nationaltheaters hätte man Alföldi selbst dann nicht entziehen dürfen, wenn gar Peter Brook sein Interesse am Posten angemeldet hätte. Das Nationaltheater ist ein gutes Theater. Das Nationaltheater ist ein Theater der Nation. Diese beiden Feststellungen hatten in der ungarischen Theatergeschichte nur selten eine Gültigkeit, und zur gleichen Zeit so gut wie noch nie. Einen seltenen Wert auszulöschen ist gefühllos und verantwortungslos zugleich. Es ist wohl vergebens, von politischen Beamten eine gewisse kulturelle Empathie zu erwarten, anders verhält es sich jedoch mit der Verantwortung, schließlich sind sie von den Wählern aus diesem Grund an ihre Posten gesetzt worden. [...] Alföldis Nationaltheater ist deshalb ein nationales Gut, weil es auf hohem ästhetischen Niveau über das Ungarische spricht."

Bloomberg Businessweek (USA), 26.12.2012

Bereits vor einigen Monaten machten die Business Week (hier) und die New York Times (hier) mit ihren Recherchen zur Wirtschaftelite in China Furore. Nun stellt die Business Week nach wochenlangem Studium von Handelsregistern und Organigrammen eine interaktive Grafik mit Beziehungen der Clans der "acht Unsterblichen" vor. So wird heute die Gruppe der höchsten Funktionäre um Deng Xiao-Ping genannt, die China nach der Kulturrevolution wirtschaftlich öffneten, den Chinesen Wohlstand brachten, aber das Land zugleich auch gewissermaßen unter sich aufteilten. Die Karte zeigt, dass die Familien dieser Funktionäre, die inzwischen alle tot sind, auf mannigfaltigste Art miteinander verschwippt und -schwägert sind. Ihre Söhne werden als "Prinzlinge" bezeichnet. Und sie sind unermesslich reich! "Chinas Reich-Arm-Gefälle ist eines der größten der Welt - es liegt nach Statistiken einer von chinesischen Banken in Auftrag gegebenen Studie 50 Prozent über der Schwelle, ab der Experten mögliche Unruhen voraussagen. Proteste, Aufstände und andere Unruhen haben sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt - auf etwa 500 am Tag im Jahre 2010. 'Die gewöhnlichen Chinesen sind sich dieser Prinzlinge sehr wohl bewusst, und wenn sie über einen Wandel im Land nachdenken, verzweifeln sie häufig über die Macht dieser eng verfilzten Interessengruppen', sagt Barry Naughton, Professor für chinesischen Wirtschaft an der University of California in San Diego."
Stichwörter: Kulturrevolution, Clan

Film-Dienst (Deutschland), 03.01.2013

Harte Gangster, zwielichtige Straßen, heiliger Katholizismus - was hat man nicht schon alles über das Kino von Martin Scorsese geschrieben und gelesen? Einen anderen, weit zärtlicheren Zugang findet Rainer Knepperges im aktuellen film-dienst, der sich in einer verästelten Assoziationskette anhand von Scorseses Verbindungen zur Filmgeschichte durch dessen Werk tastet. "Die unernste Rolle des Regisseurs liegt Scorsese wie vor ihm nur Alfred Hitchcock, bis hin zum karikaturhaft gezeichneten Porträt im Profil. Die Silhouette als Versteck. Eine schlaue Selbstparodie, die nicht Hitchcock, sondern vor ihm schon ein anderer erfand: Cecil B. DeMille. Von dem hat Scorsese abgeschaut, wie man imposante Fassaden vor häusliche Dramen baut und durch monumentale Pforten hässliche Szenen zwischen Männern und Frauen filmt. Im schönen Schein steckt die Gewalt noch vor dem Ausbruch, als kaum kontrollierte Eifersucht, als Ehrgeiz, Neid und Argwohn. In 'Casino' sehen die 1970er-Jahre in Las Vegas aus wie die Mode unter König Ramses in DeMilles 'The Ten Commandments'. Der Technicolorfilm von 1956 ist Quintessenz dessen, was Scorsese, in einem herrlichen Text über seine heimlichen Lieblingsfilme (in Film Comment, 1978) ein 'guilty pleasure' nennt." Ein schuldiges Vergnügen, dem wir mit Wonnen folgen:

Archiv: Film-Dienst

Economist (UK), 05.01.2013

Die in letzter Sekunde beschlossenen Maßnahmen zur Umgehung der Fiskalklippe in den USA erinnern den Economist ungut an europäisches Lavieren in der Schulden- und Eurokrise. Viel mehr als ein Minimal-Kompromiss zwischen Demokraten und Republikanern, dessen Wirkung auf höchst absehbare Dauer angelegt ist, sei nicht zu erkennen: "Die Unfähigkeit der Europäer, eitle Nationalbefindlichkeiten zu überwinden, ob es sich dabei nun um die Frage handelt, wer für die Bail-Outs aufkommt oder wer die Kontrolle über die Überwachung der Banken übernimmt, hat sie davon abgehalten, die großen Kompromisse einzugehen, die notwendig wären, um die Zukunft der einzigen Währung zu sichern. In den Staaten haben die Demokraten und Republikaner unter Beweis gestellt, ähnlich unfähig darin zu sein, nach dem großen Gewinn zu greifen; beide werden viel zu sehr von den Extremisten auf beiden Seiten bestimmt und konzentrieren sich zu sehr darauf, der anderen Seite Zugeständnisse abzugewinnen, anstatt gemeinsam und beständig an der Absicherung der fiskalen Zukunft des Landes zu arbeiten."

Weiteres: Haben wir in absehbarer Zeit technische Instantan-Dolmetscher wie in "Star Trek"? Womöglich ja, folgt man diesem Artikel. Die Tatsache, dass eine tödlich endende Vergewaltigung in Indien solche Proteste im Land nach sich zog, wird hier auch als Zeichen für eine zusehends gefestigte und selbstbewusste indische Mittelschicht gedeutet. Außerdem wandelt der Economist mittels neuer Buchveröffentlichung im Reich der Toten und informiert sich bei dem Kulturanthropologen Jared Diamond, was man von traditionellen Gesellschaften lernen könnte.
Archiv: Economist

Merkur (Deutschland), 07.01.2013

Der Schriftsteller Chaim Noll will von einem Arabischen Frühling nichts wissen, er sieht vielmehr einen Stellvertreterkrieg zwischen den beiden Großmächten Iran und Saudi-Arabien ausgetragen, in den sich nun auch Katar eingeschaltet hat: "Der Emir von Katar war maßgeblich am Sturz des libyschen Gaddafi-Regimes beteiligt, indem er neben der medialen auch zur direkten militärischen Einwirkung beitrug und als einer der ersten islamischen Herrscher Kampfflugzeuge für den gemeinsamen Einsatz von Nato und Arabischer Liga zur Verfügung stellte. Katar brach auch als erstes Land die diplomatischen Beziehungen zum Assad-Regime in Syrien ab und gab damit das Signal zum Sturz dieses entscheidenden Alliierten des regionalen Gegners, des schiitischen Iran. 2011 löste Katar große Überraschung aus, als das Emirat dem durch Sabotage der Erdgasleitungen aus dem Sinai zeitweilig von Energieknappheit bedrohten Israel seine eigenen Erdgasreserven anbot. Neuerdings wendet der geldschwere Golfstaat sein Interesse der Hamas in Gaza zu, die durch den ökonomischen Verfall des Iran in finanzielle Schwierigkeiten geraten und damit - so das Kalkül - reif für eine sunnitische Übernahme ist."

Außerdem plädiert der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe angesichts wachsender Inflationsgefahr und eines "im Grunde bereits zerbrochenen Euro-Systems" für die Rückkehr zur D-Mark. Im Print fürchtet der Historiker Eli Zaretsky um die Zukunft der amerikanischen Linke, die wahrscheinlich nicht ganz so glorreich sein wird wie ihre Vergangenheit.
Archiv: Merkur

Open City (Indien), 06.01.2013

Indische Frauen sind in ihren Städten nicht sicher, egal wie reich sie sind. Was also soll man tun? Sich klein machen, ducken, Risiken vermeiden? Für viele junge Frauen ist das keine Option mehr, erklärt Devika Bakshi. "Meine Freundin muss nachts nicht den Bus nehmen, um nach Hause zu kommen. Ihre Lebensumstände zwingen sie nicht dazu. Dieser fehlende Zwang ist ihr Privileg, meint sie. Aber vielleicht weil wir in einer Stadt leben, wo etwas so Grundlegendes wie der öffentliche Nahverkehr als Bedrohung betrachtet wird, als letzter Ausweg, als Risiko, vielleicht ist es darum eine andere Art von Notwendigkeit, die sie dazu bewegt, doch den Bus zu nehmen - um die Kontrolle über ihre Entscheidungen zu behalten, um einen Platz im öffentlichen Raum zu behaupten."
Archiv: Open City

Prospect (UK), 03.01.2013

Auch die Finanzkrise von 2008 hat dem Trend zur Kapitalakkumulation unter Superreichen nichts anhaben können, beobachtet Andrew Adonis, der eine neue Plutokratie heraufdämmern sieht. Dagegen wünscht er sich einen neuen Klassenkampf des 21. Jahrhunderts: "Eine große und zu selten diskutierte Frage ist die nach der Kompatibilität dieser Plutokratie mit der modernen Demokratie. Diese Angelegenheit ist noch drängender als die der zunehmenden Konzentration von Reichtum innerhalb einer Gesellschaft im Großen und Ganzen. Es geht dabei auch um den politischen Status dieser neuen Klasse von Superreichen und deren Fähigkeit, Gesetz und Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen zu formen. ... Das Scheitern der Öffentlichkeit, die wilderen gierigen Exzesse der Konzerne zu zügeln, die den Großteil der heutigen Plutokratie hervorbringen und unterhalten, ist eine zentrale Herausforderung für die fortschrittliche Politik des kommenden Jahrzehnts. Die heutigen Superreichen sind der Ansicht, dass ihnen ihr Reichtum zusteht, darin der britischen Aristokratie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht unähnlich, die so festentschlossen gegen den Aufstieg der Demokratie gekämpft hatte."
Archiv: Prospect

London Review of Books (UK), 03.01.2013

Nach vier Staffeln "Breaking Bad" denkt James Meek darüber nach, was da mit den neueren amerikanischen Serien in die Welt gekommen ist - und warum dies insbesondere für Autoren verheißungsvoll ist, die ihre Romanprojekte zum Leid der Verlage immer häufiger beiseite legen, um stattdessen lieber am "nächsten 'Mad Men'" zu arbeiten: "Die amerikanischen Fernsehserien des 21. Jahrhunderts verbinden die Produktionswerte und Ambitionen (Skeptiker würden wohl sagen, Prätentionen) eines oscar-relevanten Films mit den Charakteristiken einer Seifenoper - eine kontinuierliche, ununterbrochene Erzählung über viele Staffeln und Cliffhanger hinweg. Man vergleiche das mit einer europäischen Fernsehserie, wie etwa der dänischen Serie 'The Killing' ... Der Mann, der als kreativer Kopf hinter 'The Killing' steht, der Hauptdrehbuchschreiber Sören Sveistrup, arbeitet mit nur drei weiteren Schreibern zusammen und inszeniert selbst keine Episoden. Vince Gilligan, der kreative Kopf hinter 'Breaking Bad', hat neun Co-Autoren und dreht regelmäßig selbst. Er ist, was man in den USA einen 'Showrunner' nennt, der die Rolle des ausführenden Produzenten, des Regisseurs und des Drehbuchautors in sich vereint - mit der Verantwortung für die übergeordnete Erzählung dessen, was schlussendlich eine große Geschichte mit gut 46 Stunden Laufzeit sein wird. Vielleicht ist dies ein weiterer Grund dafür, warum Romanautoren vom Traum, beim Kabelfernsehen zu arbeiten, verführt wurden: Es bietet ihn nicht nur ein kreatives Ventil, sondern einen Weg zu etwas, dessen sich Drehbuchautoren in der Filmgeschichte selten erfreuen konnten: Macht."

Weiteres: John Lanchester wirft einen keineswegs amüsierten Blick auf die britischen Finanzsparpläne, die ihm sogar die Freuden daran, "Ich hab's Euch doch gesagt" sagen zu können, gründlich vermiesen. Alan Hollinghurst liest die Tagebücher von E. M. Forster. Mary Beard bespricht Claire Hollerans Studie "Shopping in Ancient Rome". Außerdem besucht Julian Bell die Ausstellung "Seduced by Art: Photography Past and Present " in der National Gallery, wo ihm unter anderem Jeff Walls fotografische Re-Inszenierung von Delacroixs "La Mort de Sardanapale" mit Möbel auffiel:




El Espectador (Kolumbien), 05.01.2013

"Während Hugo Chávez im Sterben liegt", stellt der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad Überlegungen zum Umgang autoritärer Regimes mit der Wahrheit an: "Ob man es mit einer demokratischen oder autoritären Regierung zu tun hat, zeigt sich auch daran, wie man mit Informationen in Bezug auf die Person an deren Spitze umgeht. Das venezolanische Regime informiert über Chávez' Gesundheitszustand zwar nicht ganz so restriktiv, wie seinerzeit im Fall von Fidel Castro oder Stalin geschehen, und trotzdem erinnert die Vorgehensweise zweifellos mehr daran als etwa an die Berichte über das Blutgerinsel Hillary Clintons. Gleichzeitig beschwert sich das venezolanische Regime über 'internationale Medienkartelle', die einen 'psychologischen Krieg in Bezug auf die Gesundheit des Staatsführers anzetteln'. Dabei befördern eben die autoritären Regimes selbst, indem sie Informationen immer nur wohldosiert preisegeben, niemals transparent agieren, Geheimnisse als politische Waffe einsetzen - 'Ich weiß mehr als du und mehr als die Opposition und deshalb weiß ich auch, wie ich mich auf den Kampf vorzubereiten habe' -, den Krieg, über den sie sich beklagen. Und bestätigen damit nur, wovor sie sich am meisten fürchten: Dass sich, sobald es mit dem harten Mann an der Spitze vorbei ist, alles ändern wird."
Archiv: El Espectador

Times Literary Supplement (UK), 07.01.2013

Während des Kalten Krieges waren Totalitarismustheorien wenigstens nur umstritten, seufzt John Gray, heute sind sind sie, schlimmer noch, aus der akademischen Mode. Zu ihrer Revitalisierung empfiehlt er Vladimir Tismaneanus Werk "The Devil in History", das keinen Zweifel darüber lasse, dass der sowjetische Kommunismus von vornherein so mörderisch war wie der Faschismus: "Es ist unmöglich geworden, von einem relativ wohlgesinnten Lenin zu sprechen', schreibt er, 'dessen Ideen von dem Psychopathen Stalin übel verzerrt wurden.' Anders als Stalin zeigte Lenin keine Anzeichen von Psychopathologie. Gewalt als Methode und Terror als Erziehung waren weniger Ausdruck der Paranoia als vielmehr integrale Bestandteile der bolschewistischen Doktrin. Nach ihren eigenen Aussagen handelten Lenin und seine Anhänger gemäß ihrer Überzeugung, dass einige Gruppen von Menschen vernichtet werden müssten, um das Potenzial der Menschheit auszuschöpfen. Diese Tatsachen werden weiterhin von vielen ignoriert, die sich selbst für liberal halten, und man muss fragen, warum."

Le Monde (Frankreich), 05.01.2013

In Frankreich ist eine lebhafte Debatte um einen Beitrag des Verleihers und Produzenten Vincent Maraval entbrannt, wonach französische Schauspieler zu viel verdienten, französische Filme dadurch viel zu teuer und nicht wettbewerbsfähig seien. Den eigentlichen Skandal sieht Maraval darin, dass die französischen Schauspieler "durch öffentliche Gelder" reich würden und durch ein System, das ihre "kulturelle Sonderstellung" schützt. Dem widersprach unter der Überschrift "Es lebe die kulturelle Sonderstellung!" zunächst Jerome Clement, ehemaliger Präsident des Centre national de la cinematographie und von Arte, in mehreren Punkten: "Nein, es gibt weder einen Skandal, noch ein Gesetz des Schweigens, sondern einfach nur den Stolz einem, sicherlich verbesserungsfähigen, System anzugehören, das unserer Filmkunst immerhin vor dem unheilvollen Schicksal des spanischen oder italienischen Kinos zu bewahren." Zuletzt meldete sich Marc Missonnier, unabhängiger Produzent des letzten "Asterix"-Films zu Wort, der Maravals Kritik in einigen Punkten teilt. "Die Schauspielergehälter blockieren das System. Ein Akteur, der für einen nicht gut laufenden Film sehr gut bezahlt wurde, kann es sich heutzutage erlauben, das Gleiche für den nächsten Film zu verlangen ... Die Stars, die in 'schwierigen' Filmen mitwirken, sollten akzeptieren, dass die Gage im Verhältnis zum Budget steht. Amerikanische Schauspieler zögern nicht, dies zu tun."
Archiv: Le Monde

HVG (Ungarn), 22.12.2012

Auf der letzten Seite der Wochenzeitung HVG wird stets eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens porträtiert - aus aktuellem Anlass und vorwiegend aus privater Sicht. In der letzten Ausgabe im Jahr 2012 war nun der Schriftsteller Péter Esterházy dran. János Dobszay und Zoltán Kelemen stellten ihm die zugegebenermaßen absurde Frage, ob er, würde er seine Schreibfähigkeit verlieren, auch aufhören würde zu existieren: "Ich könnte mir mein Leben auch ohne das Schreiben vorstellen, daran habe ich mich nicht so sehr festgebissen. Wenn ich aber keine Beziehung zur Sprache hätte, diese starke, muttersprachliche Beziehung, mit jener Intensität, Ausgeliefertheit und Freude, die mich mit der ungarischen Sprache verbindet, dann weiß ich nicht, was mir bleiben würde. Ich habe auch ein deutsches Sprachgefühl, allerdings sitzt dieses ein wenig schief, es ist kühler, rationaler und hat nichts, worauf es sich stützen könnte. Jene heiße Beziehung, die mich mit dem Ungarischen verbindet, ist wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden. Ohne sie wäre ich blind. Und nichts als eine Stilblüte."
Archiv: HVG

New Yorker (USA), 14.01.2013

Den sogenannten Twentysomethings scheint es ganz gut zu gehen, stellt Nathan Heller nach Lektüre einige Neuerscheinungen fest, in denen AutorInnen aus besagter Altersgruppe über diesen Lebensabschnitt schreiben und Ratschläge erteilen, wie man das Beste aus ihm herausholt. "Konfusion triumphiert ... An dem einen Morgen schlägt man die Zeitung auf und liest, die heutigen jungen Leute seien eine strebsame Herrenrasse mit Netzintelligenz, die versuchten, dir den Job abzujagen und den Preis für deine Behausung hochtreiben. Am nächsten Tag wird über sie berichtet, sie hausten in deinem Keller, fräßen dir dein ganzes Müsli weg und fänden keinen noch so geringfügigen Job, nicht mal bei Wendy's. Für junge Menschen mit dem Luxus von Zeit und Wahlmöglichkeiten, führen diese Unklarheiten zu einer besonderen Form der Panik."

Weiteres: Rachel Avi beschreibt eine Diskussion um die Frage, ob man Pädophile vorsorglich einsperren soll und darf, um mögliche Straftaten zu verhindern. Joan Accocelli hat zwei neue Bücher über Franz von Assisi gelesen: "Francis of Assisi: The Life and Afterlife of a Medieval Saint" (mehr) des französischen Mittelalterexperten Andre Vauchez und Francis of Assisi: A New Biography" (mehr) des amerikanischen Dominikanerpfarrers Augustine Thompson.

Ein sehr unterhaltsames Lesestück ist Adam Greens bereits in der letzten Ausgabe erschienenes Porträt des Varieté-Künstlers Apollo Robbins, der den Taschendiebstahl zur hohen Kunst erhoben hat; In Zaubererkreisen gilt er als Legende und hat Psychiater, Neurologen, aber auch das Militär zu Studien über die Natur der menschlichen Aufmerksamkeit inspiriert: "Wenn Robbins loslegt, hat es den Anschein, die einzig mögliche Erklärung sei eine Fähigkeit, die Zeit anzuhalten und wieder weiterlaufen zu lassen. Im Rio verschwand [während einer Vorführung] das Handy eines Mannes aus seinem Jackett und wurde durch ein Stück Brathühnchen ersetzt."
Archiv: New Yorker

Al Ahram Weekly (Ägypten), 02.01.2013

"Für die Mehrheit der Künstler in Ägypten endete 2012 auf einer traurigen Note, mit großer Angst, sogar Panik vor der Zukunft und viele, viele bedauerten all die Fehler, die die Revolution vom 25. Januar in eine Art Albtraum verwandelt haben", schreibt Nehad Selaiha in einem Rückblick auf die wichtigsten Theaterinszenierungen 2012. "Der ruhmreiche Traum hat sich verflüchtigt und die trostlose Realität liegt schwer auf uns. Und doch, trotz der zerschmetterten Hoffnungen, gebrochenen Versprechen, verfehlten Allianzen und des häufigen Verrats, trotz der Gewalt und des Blutvergießens hat der Geist heroischen Trotzes und der unbeugsame Wille zu überleben, weiterzumachen, gleich, welche Hürden überwunden werden müssen, die unabhängige und halb-unabhängige Theaterszene in Ägypten das ganze Jahr 2012 durchdrungen."
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Die Unbeugsamen

New York Review of Books (USA), 10.01.2013

Rainer Maria Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter" enthalten wahre Weisheit, meint John Banville, auch wenn der Dichter manchmal ganz schön nerven konnte: "Rilkes Briefe sind nicht Briefe im üblichen Sinne. Es gibt keine Plaudereien, keinen Klatsch, keine Verleumdungen, die die Korrespondenz selbst der vornehmsten Seelen würzen. Die Stimme hier ist ein rhapsodisches Rauschen, es gibt viel Selbstbespiegelung - ich, ich, ich und wieder ich - und aufgeblasene Ausführungen über die Freuden und Leiden der Dichtung. Er lebt in Superlativen, in der großen deutschen Tradition, die sich auf einen singulären bescheidenen Fakt mit der Begierde eines Schweins stürzt, das einen Trüffel entdeckt. Andererseits muss man einfach beeindruckt sein von der leidenschaftlichen Hingabe, mit der Rilke die Aufgabe des Lebens angeht - des Lebens als Dichter, heißt das. Er sehnte sich nach Einsamkeit und war auf große Opfer vorbereitet, sie sich zu bewahren."

Außerdem: Zadie Smith schreibt über "Freude". Andrew Hacker denkt anlässlich einiger Bücher - ua. von Nate Silver - über Vorhersagen nach. Hugh Eakin ist nicht sehr optimistisch, dass Saudiarabien sich in absehbarer Zeit modernisieren könnte. Und David Cole liest eine Geschichte des Kampfs um die Schwulenehe.