Magazinrundschau

Um die Prinzessin zu retten

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
17.04.2012. Amazons Preisdruck wird am Ende auch für die Kunden nicht gut sein, warnt Slate. In El Espectador überlegt Hector Abad, welche Länder besser Kolonien geblieben wären. The Atlantic porträtiert den Videospiel-Erfinder Jonathan Blow als Künstler. In Le Monde verteidigt Frederic Beigbeder den Realismus in der Literatur. Im Guardian kritisiert Ma Jian die Londoner Buchmesse für ihren Kotau vor der chinesischen Zensurbehörde. In Morning News verliert Alex Jung seine Angst vor einem nicht männlichen Kleidungsstück.

Slate (USA), 12.04.2012

Barry C. Lynn findet es absurd, dass das amerikanische Justizministerium Apple und fünf Verlage wegen Preisabsprachen verklagt und damit indirekt Amazon stärkt: "Seit der Boston Tea Party zielten Antimonopolgesetze vor allem auf die Händler und den Schutz der Freiheit der Bürger. Eine der härtesten Lektionen, die wir in diesen zwei Jahrhunderten gelernt haben, war es, dem Sirenengesang von niedrigen Preisen zu widerstehen - eben weil sie so oft zur Machtkonzentration benutzt werden. Niedrige Preise ermöglichen horizontalen Raub. Wenn ein fett kapitalisierter Händler (wie Amazon) seine weniger reichen Konkurrenten in den Bankrott treiben will, dann unterbietet er sie einfach Tag für Tag. Mehr noch, niedrige Preise ermöglichen auch vertikalen Raub, an den Produzenten; wenn ein mächtiger Händler (wie Amazon) mehr Geld aus seinen jetzt gefesselten Zulieferern herauspressen will, kann er die Preise so setzen, dass die Firmen, die seine Bedingungen akzeptieren, belohnt werden, und die, die ablehnen, bestraft werden."
Archiv: Slate
Stichwörter: Amazon, Boston, Die Räuber, Geld

El Espectador (Kolumbien), 15.04.2012

"Das neue Amerika und das alte Europa." Héctor Abad macht sich häretische Gedanken zum gerade in Kolumbien tagenden 6. Amerika-Gipfel: "Die Leute lieben es, schlecht durchdachte Banalitäten zu verkünden, als handelte es sich um endgültige Wahrheiten. Ein aktuelles Beispiel hierfür lautet: 'Das europäische Modell ist gescheitert, weg damit, suchen wir uns etwas Anderes.' Ein Irrtum, dessen Umsetzung gefährliche Folgen hätte: Westeuropa, selbst inmitten seiner Wirtschaftskrise, ist in politischer, kultureller und sozialer Hinsicht das bislang erfolgreichste Modell der letzten 5000 Jahre (von dem, was davor war, weiß man so gut wie nichts). Wie alles, was Menschen machen, ist es nicht vollkommen. Aber mehr als 200 Jahre nach der Unabhängigkeit der amerikanischen Staaten fragt man sich, ob es nicht zumindest einigen von ihnen besser ergangen wäre, wenn sie europäische Kolonien geblieben wären. Dem französischen Überseedepartement Guadeloupe ist es weniger schlecht ergangen als Haiti (so heldenhaft die dortige Sklavenbefreiung war), und müsste ich mich heute entscheiden, ob ich in dem so unabhängigen Cuba oder dem so abhängigen Puerto Rico leben sollte, fiele meine Wahl zweifellos auf Letzteres; für einen Algerier ohne ideologische Scheuklappen sollte es nicht ausgeschlossen sein, darüber nachzudenken, ob sein Land nicht besser ein französisches Departement geblieben wäre; und die Malwinen- bzw. Falklandinseln fahren mit England besser als mit Argentinien."
Archiv: El Espectador

The Atlantic (USA), 01.05.2012

Taylor Clark porträtiert den Videospiel-Erfinder Jonathan Blow, ein Mann, den selbst seine Freunde als "schwierig" und "stachelig" beschreiben, der mit dem Spiel Braid großen Erfolg hatte und mit dem so gewonnenen Geld jetzt das tut, was ihm am meisten am Herzen liegt: das Videospiel zur Kunst zu treiben. Keine Kleinigkeit, denn Videospiele sind, von zwei Ausnahmen abgesehen, schlicht dämlich, meint Clark. Eine von den zwei Ausnahmen ist Braid: "Auf der Oberfläche ist Braid ein schlichtes zweidimensionales Plattformerspiel, das dem abgenutztesten Aufbau eines Videospiels folgt. 'Tim ist weg, um die Prinzessin zu retten', liest man im ersten Buch, das Tim in den Wolken findet. 'Sie wurde von einem grässlichen bösen Monster entführt.' Aber Braid handelt so wenig von der Rettung einer Prinzessin wie Kafkas 'Verwandlung' von einem Käfer. Durch die Bücher, die Tim findet, enthüllt Blow, dass Tim einen Fehler gemacht hat und hofft, ihn wiedergutzumachen, was in den zentralen Spielmechanismus von Braid führt: Tims einzigartige Fähigkeit, die Zeit zurückzuspulen. Während Tim versucht, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, muss er gleichzeitig Rätsel lösen, die sich um seine Kontrolle über den Zeitfluss ranken. Inspiriert von den wechselnden Realitäten in Calvinos 'Unsichtbare Städte' und Alan Lightmans 'Einsteins Traum' hat Blow fünf Hauptreiche geschaffen, in denen sich die Zeit jeweils anders verhält... Das verblüffendste an Braid ist jedoch, dass es sich, viel mehr als jedes andere Spiel, wie ein Autorentext anfühlt - so reich an Bedeutung und Gefühlen wie jede gut erzählte Geschichte."

Weitere Artikel: Stephen Marche überlegt, ob Facebook uns nicht in Wirklichkeit einsamer macht und findet nach Lektüre diverser Studien heraus: Kommt darauf an. Wenn man es nutzt, um Verabredungen im wirklichen Leben zu treffen, hilft es. Wenn man es nutzt, um Verabredungen im wirklichen Leben zu vermeiden, schadet es. David Samuels hat wochenlang jedes Konzert der "Watch the throne"-Tournee von Kanye West und Jay-Z besucht und eine Vorliebe für Kanye West entwickelt.
Archiv: The Atlantic

Le Monde (Frankreich), 14.04.2012

Frankreich, meint der französische Schriftsteller Frederic Beigbeder, ist mit Sicherheit das einzige Land, dessen Literaten imstande seien, mitten in einem Präsidentschaftswahlkampf in einer Tageszeitung darüber zu streiten, ob der realistische Roman nun zum Populismus oder zum Puritanismus neige. Er mischt sich damit in eine Debatte ein, die Charles Dantzig mit einer Polemik am 17. März begonnen hatte, auf die am 9. April Michel Crepu, Chefredakteur der Zeitschrift Revue des deux mondes, reagierte. Beigbeder setzt sich vor allem mit den Thesen von Dantzig auseinander und verteidigt den Realismus: "Vielleicht sollte man sich einmal fragen, weshalb fiktionale Bücher immer noch gelesen werden. Suchen die Leute darin einen Sinn für ihr Leben? Da riskieren sie enttäuscht zu werden. Vielleicht möchten sie, dass der Roman Ähnlichkeit mit ihnen hat, ihnen etwas über sie erzählt. Sie fühlen sich bestätigt durch historische Bezüge. Und sie sind neugierig, wie die Leser von Zeitschriften oder Schaulustige auf der Straße, bei gewalttätigen, miesen oder auch grausamen Irren. Das ist bedauerlich und ein wenig erbärmlich, aber menschlich."
Archiv: Le Monde

Al Ahram Weekly (Ägypten), 12.04.2012

So hat sie sich den arabischen Frühling nicht vorgestellt! Theaterkritikerin Nehad Selaiha berichtet empört über Gewaltakte religiöser Fanatiker gegen Theater: "Am Sonntag, den 25. März, erhielt ich eine Email von L'équipe de Dream City in Tunis. Darin hieß es: 'Vorsicht!! Unsere Künstler sind in Gefahr. Wohin bewegt sich Tunis? Heute wurde eine Veranstaltung mit dem Titel 'Die Menschen verteidigen das Theater' von Extremisten gestört. Entgegen der Behauptung der Extremisten hatten wir die Erlaubnis des Innenministeriums, diese künstlerische Veranstaltung auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis durchzuführen.' Noch verstörender war das Zeugnis der Künstlerin Leena Ben Mhenni. Sie sagte: Ich stand mit anderen Künstlern vor dem städtischen Theater, als die Polizei anfing uns zu drohen, sie würde uns der Gnade der Extremisten überlassen. Einige Extremisten durchbrachen den Polizeikordon. Während einige von uns fliehen konnten, wurden jene, die ins Theater flüchteten, von den Extremisten angegriffen. Die Polizei ließ die Situation aus unerklärlichen Gründen ausarten.' In Ägypten wiederum waren es nicht die Salafiten, reich und mächtig wie sie sind, sondern die Sicherheitskräfte selbst, die am 5. April auf Befehl das Theater des Ismailia Kulturpalastes stürmten, die Sitze zertrümmerten und den Innenraum veränderten mit dem erklärten Ziel einen Gerichtssaal für den Prozess gegen die Täter des Massakers im Stadion von Port Said zu schaffen!!"
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Arabischer Frühling, Dreamer

Guardian (UK), 14.04.2012

Steve Rose hat sich mit Werner Herzog, der mit "Into the Abyss" gerade einen Dokumentarfilm über zum Tode verurteilte Gefängnisinsassen in den USA gedreht hat (mehr hier, Ausschnitte dort), über dessen Verhältnis zum Tod unterhalten. Dabei ist der bayerische Regisseur um markige Anekdoten erwartbar nicht verlegen. Diesmal berichtet er von einem Erlebnis in einem Flugzeug, das notlanden musste: "'Wir wurden angewiesen, uns mit unseren Gesichtern auf die Knie zu bücken und unsere Beine zu umgreifen', sagt Herzog, 'und ich weigerte mich, dem Folge zu leisten.' Die Stewardess war sehr aufgeregt deswegen, der Ko-Pilot kam aus der Kabine und befahl ihm, sich wie angewiesen zu verhalten. 'Ich sagte, falls wir untergehen sollten, so wolle ich sehen, was auf mich zukommt, und wenn wir überleben sollten, dann will ich auch das sehen. Ich stelle für niemanden eine Gefahr dar, wenn ich mich nicht diese beschissene, würdelose Position begebe.' Am Ende konnte das Flugzeug normal landen. Herzog landete auf Lebenszeit auf der Schwarzen Liste der Fluglinie, aber die ist, lacht er, zwei Jahre später sowieso pleite gegangen."

Nach dem chinesischen Exilautor Bei Ling (hier) kritisiert jetzt auch der in Britannien lebende Autor Ma Jian die Londoner Buchmesse, die - mit Unterstützung des British Councils - für ihren China-Schwerpunkt ausschließlich Autoren eingeladen hat, die der chinesischen Zensurbehörde GAPP genehm waren, berichtet Richard Lea. "'Der Westen sollte sich nicht übertölpeln lassen', sagt Ma Jian, 'es gibt nur einen Gewinner bei einem solch fehlerhaften Dialog.' Er wartet, bis seine Partnerin Flora Drew, seine scharfen Worte ins Englische übersetzt hat und fährt fort: 'Indem man die unabhängigen, dissidenten Stimmen aus der Diskussion ausschließt, ducken sich die britischen Kulturinstitutionen vor dem chinesischen Regime und erkennen stillschweigend die Unterdrückung der Redefreiheit in China an. Diese Art Engagement stärkt die Diktatoren und schwächt die liberalen Kräfte.'"

Isabel Hilton verteidigt dagegen die Politik der Londoner Buchmesse: "Die Frankfurter Buchmesse vor zwei Jahren, das letzte große Literaturereignis mit einem China-Schwerpunkt, endete für alle schlecht. Viele Autoren aus der offiziellen Delegation hatten sich nicht freiwillig angemeldet und zeigten ihr Desinteresse, indem sie Veranstaltungen ausfielen ließen. Die Anwesenheit einer großen Anzahl chinesischer Sicherheitsleute, die die Autoren 'beschützten', sorgte für einen Missklang. Und die chinesische Regierung war wütend, weil neben der offiziellen Delegation feindlich gesinnte Personen eingeladen waren. Es war eine miserable Angelegenheit, die niemand wiederholen möchte."
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.04.2012

Über Kunst und Alltag in der kommunistischen Epoche zu berichten, ist alles andere als selbstverständlich, denn mit dem damaligen System ist auch die Sprache dieser Zeit untergegangen. Ohne die Kenntnis dieser Sprache bleibt jedoch das einst Geschehene unbegreiflich, meint der Medienwissenschaftler Péter György: "Die Voraussetzung des Verständnisses ist, dass wir die Existenz des einstigen ideologischen Universums akzeptieren und ernst nehmen; wenn wir also nicht wahrhaben wollen, dass die kommunistische Ideologie den Alltag tief durchtränkt hatte und schließlich zur Muttersprache von Millionen Menschen wurde, werden wir die gewaltige Entfernung unserer heutigen Welt vom damals Geschehenen nicht veranschaulichen können. Folglich werden wir auch nichts über die Kunst jener Zeit erzählen können und werden lediglich die Lügen über die angebliche Kontinuität wiederholen. Als würden wir im selben Land, in derselben Zivilisation, in derselben Welt leben, doch dem ist nicht so."
Stichwörter: Zivilisation, Muttersprache

Morning News (USA), 16.04.2012

Alex Jung, asiatisch-amerikanischer Schwuler aus Florida mit einer Jeansgröße deutlich über 34, hat über die Jahre ein Unbehagen an seinem Körper, maskuliner Kleidung und überhaupt dieser Standard White English Fashion entwickelt, die sich für ihn in zigarettenförmigen Hosen manifestiert. Warum ist überhaupt so festgelegt, was ein Mann tragen muss? Jung, der ein ganz normaler Typ ohne Modekenntnis ist, erzählt sehr schön, wie er langsam seine Angst ablegte, ein Kleidungsstück zu tragen, dass als nicht besonders männlich gilt: drop-crotch pants, die alles sein können - von der Rapperhose bis zur im Deutschen sogenannten Haremshose. "Mein Pessimismus in Bezug auf Männermode, Globalisierung und Männlichkeit, wurde sofort gemildert durch ein erstaunliches Bild. Kürzlich fotografierte Scott Schuman, The Satorialist, Ryo Miyamoto, der an eine graue Steinmauer in Manhattan gelehnt war. Miyamoto trägt Schichten über Schichten von Stoff: Einen Blazer über einer gesteppten Weste über einer langen Strickjacke, die über einem gesteppten Rock hängt, der über eine weiße Hose gezogen ist. Die Farben sind warm und tief - oliv, burgunder, dunkle Blaus. Es ist verstörend und fesselnd, man sieht zweimal hin, denkt zweimal nach." Hier einige Beispiele für die - tja, wie soll man sagen, Hängebodenhose? - von Comme des Garcons und Junya Watanabe: gemäßigt, etwas mutiger oder extrem, in kurz, oder lang, geblümt, gepunktet oder als Reiterhose.
Archiv: Morning News

MicroMega (Italien), 16.04.2012

Italien diskutiert über den Film "Diaz" (Trailer bei Youtube), der die Ereignisse in der Schule gleichen Namens in Genua im Jahr 2001 nacherzählt: Die italienische Polizei hatte bei einer Demonstration von Globalisierungsgegnern gegen den in Genua stattfindenden G8-Gipfel die Schule gestürmt und wie entfesselt auf die hundert dort campierenden Demonstranten eingeprügelt. Der Film kommt eigentlich zu spät, meint Lorenzo Guadagnucci in MicroMega. "Nach all dem, was seitdem passiert ist, reicht es nicht, bei der Aufzählung der Gewalttaten haltzumachen und auszulassen, dass sich der Machtmissbrauch später eigentlich noch verschlimmert hat. Der Boykott der Untersuchungen durch die Staatspolizei, die Weigerung der höchsten Verantwortlichen, vor Gericht auszusagen, die fehlende Zurückweisung der Gewalt und der Lügen - dies alles sind Fakten, die die Glaubwürdigkeit der aktuellen Polizeihierarchie auf den Nullpunkt reduziert haben." MicroMega präsentiert ein ganzes Dossier zu dem Film.
Archiv: MicroMega
Stichwörter: Youtube, Genua, Machtmissbrauch

Economist (UK), 14.04.2012

Eine Milliarde Dollar hat Facebook für den Kauf des Mobile-Service Instagram aufgebracht. Allem allgemeinen Staunen über die Höhe der Summe zum Trotz, könnte sie gut investiert sein, erfährt man hier: Nicht nur wird ein möglicher Rivale im Feld der sozialen Netzwerke geschluckt, er wird auch Konkurrenten wie Twitter und Google+ vor der Nase weggeschnappt. Und: "Genauso wie Facebooks Anschaffung jede Chance auf ein 'Googstagram' versenkt, bringt er dem Unternehmen auch dringend benötigtes Know-How für mobile Serviceangebote. Im harten Kontrast zu Instagrams raffiniertem Interface sind Facebooks mobile Apps schwerfällig."

Der Präsidentschaftswahlkampf findet vor der Kulisse einer wie nie zuvor polarisierten USA statt, sorgt sich dieser Artikel. Dazu passend: Eine Reportage über die langsam Fahrt aufnehmende Obama-Kampagne, die den Graswurzelansatz der erfolgreichen Kampagne von 2008 noch verstärken will. Angesichts der wirtschaftlichen Situation Deutschlands würde es dem übrigen Europa zwar gut tun, die Vorzüge des deutschen Wirtschaftskonzepts zu übernehmen, resümiert dieser Artikel, umgekehrt wäre aber auch Deutschland zur Besserung der allgemeinen Situation gut beraten, Wohlstand und Nachfrage im Innern zu mehren. Und was den Exportweltmeister Deutschland überhaupt betrifft: Deutsche Kultur steht in Großbritannien hoch im Kurs, erfährt man hier. Außerdem findet sich ein Plädoyer für Open Access.

Besprochen wird eine Biografie über die amerikanische Intellektuelle Lillian Hellman. Sehr empfehlenswert scheinen auch zwei derzeit in London gespielte Theaterstücke über das "Verhältnis zwischen Tyrannei und Kreativität", die sich beide um Josef Stalin und Michail Bulgakow drehen.
Archiv: Economist

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 13.04.2012

Wer sagt, dass Europa ein Superstaat sein muss? Der britische Historiker Neal Ascherson spürt dem utopischen Funke Europas nach und findet ihn im Widerstandsstandsfrühling der Jahre 1943 bis 1948, in der europäischen Resistance. "Wir malen uns gern aus, dass die jungen Männer und Frauen, die damals in den Wäldern auf den nächsten Fallschirm mit Waffen für ihren Partisanenkampf warteten, von einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft träumten. Aber das taten sie nicht. Sie kämpften, um ihr Land zu befreien. Ihr Antrieb war ein altmodischer Patriotismus, der Wunsch, ihre geschändeten Staaten zu befreien, auszumisten und neu aufzubauen." Aschersons Bild von Europa ist das eines lebenden Schwamms: "Eines knautschigen Gebildes unbestimmter Ausdehnung, eines kostbaren und wunderschönen Kollektivwesens, in dessen offenen Poren ungezählte Gastorganismen schwimmen oder sich einnisten und vermehren. Es wird nie ein klirrender, stählerner Superstaat sein, der blitzartig über Krieg und Frieden entscheiden kann. Und es wird für seine eigene Verteidigung in Wahrheit immer auf andere Mächte angewiesen sein."

Vanity Fair (USA), 01.05.2012

William Langewiesche erzählt die Geschichte des Camorra-Bosses Paolo di Lauro, der 2006 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Langewiesche scheint das eher zu bedauern: Unter di Lauro sei es relativ friedlich zugegangen in Neapel, seine Nachfolger hätten sich dagegen sofort in Verteilungskämpfe gestürzt. "Die Camorra dient der Gesellschaft am besten, wenn sie stark ist. Alle Richter, mit denen ich gesprochen habe, haben das als Wahrheit bestätigt und doch haben eben diese Leute di Lauro verurteilt. Ich fragte sie, ob sie an die Überlegenheit des italienischen Staates glauben und mit einer Ausnahme haben alle mit Nein geantwortet. Der eine Richter, der die Ausnahme war, sagte, zusammengefasst: 'Wir haben keine Wahl. Die Camorra hat einen Anti-Staat erschaffen, dessen Existenz die Legitimität des italienischen Staates bedroht. Wenn die Gerichte darauf nicht reagieren würden, wären sie nicht mehr real. Wenn die Gerichte nicht real sind, wird Italien nicht überleben ...' Ich erwähnte das gegenüber einer Strafverteidigerin der Camorra. Sie kannte den Richter und sagte: 'Der Anti-Staat ist der Staat selbst. Es ist der Staat, nicht die Camorra, der Italien erwürgt.'"
Archiv: Vanity Fair