Magazinrundschau

Das Ohr des Präsidenten

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.01.2012. Es ist ja doch was dran an diesem französischen Philosophen mit der üppigen Haarmähne, staunen New York Magazine und TLS. Die Revista Piaui porträtiert einen irakischen Geologen, der die Norweger vor ihrer Ölindustrie beschützt hat. Die New York Review of Books stellt nach Lektüre der Briefe von Georgia O'Keefe und Alfred Stieglitz fest: schlechte Behandlung macht die Frau zum Charakter. Al Ahram veröffentlicht das Manifest eines ehrenwerten Bürgers. Slate.fr meldet: Auf kanadischen Webseiten kann man jetzt legal und kostenlos Celine runterladen. Wired begutachtet das United Artists des Internets.

New York Magazine (USA), 02.01.2012

Bernard-Henri Levy mag ja zu prächtiges Haar haben, um von Eierköpfen akzeptiert zu werden. Aber 2011 hat er wirklich was gerissen: Er hat Sarkozy und damit indirekt die UN dazu gebracht, die libyschen Rebellen gegen Gaddafi zu unterstützen, und sogar im Fall DSK sah er am Ende ganz gut aus, muss Benjamin Wallace-Wells zugestehen. "Was soll man schließen aus Bernard-Henri Levys bemerkenswertem Jahr? Vielleicht ist Heroismus manchmal an Ichbezogenheit gekoppelt. Vielleicht ist das manchmal sogar dasselbe. Die moderne Linke hat Levys Lust am radikalen Individualismus lange abgelehnt: Wir wissen, dass ein Individuum nicht außerhalb eines sozialen Kontextes agieren kann; dass, wenn der IWF-Chef Sex mit einem Zimmermädchen hat, es nicht einfach nur um zwei Menschen geht; dass, wenn westliche Militärs in einem afrikanischen Bürgerkrieg intervenieren, sie eine dunkle imperiale Vergangenheit heraufbeschwören. Aber diese Perspektive mag gelegentlich selbst einen blinden Fleck haben: Das Gefühl, dass die Gegenwart vielleicht etwas nahezu Unveränderliches ist, oder zumindest jenseits der Fähigkeiten eines einzelnen, sie zu ändern. Ganz selten kann die gegensätzliche Auffassung - Levys Auffassung - etwas Reales erreichen."

Times Literary Supplement (UK), 29.12.2011

Und wenn man in der Übersetzung die selbstverliebtesten Phrasen rausstreicht, dann könnte Bernard-Henri Levys neues Buch sogar in der englischsprachigen Welt ein Erfolg werden, glaubt der britische Ex-Diplomat und Politiker George Walden, der mit einer Spur von Neid nicht nur auf BHL, sondern auch auf Frankreich blickt: "Nicht nur könnte Levy nirgends außer in Frankreich existieren; die Umstände, die es ihm erlaubten, den [libyschen] Krieg zu beeinflussen, wie er es tat, wären in jedem anderen westlichen Land undenkbar: Ein Regierungssystem, in dem freischaffende Philosophen etwas bewirken können (man denke an Regis Debray und Mitterand); ein Präsident, der nach intellektueller Wertschätzung schmachtet; ein Premierminister, Außenminister und Armeechef, die es akzeptieren, öffentlich von einem Autor im Rennen um das Ohr des Präsidenten geschlagen zu werden - wo würde man das sonst finden? Und Levy war nicht einmal ein Unterstützer Sarkozys oder gar ein Freund."

P.G. Wodehouse hat während seiner Kriegsgefangenschaft in Deutschland einige Radiosendungen gemacht, in denen er amüsante Anekdoten über das Gefängnisleben erzählte. Die Deutschen nutzen das zu Propagandazwecken, aber daraus kann man Wodehouse keinen Vorwurf machen, denn er war total unpolitisch, meint A.N. Wilson nach Lektüre der Briefe von Wodehouse: "Viele Leute glauben, es sei die Pflicht eines Autors, sich mit der 'Realität' zu beschäftigen. In den 30ern hielten es viele von Wodehouses Kollegen mit der Linken und 'identifizierten' sich mit der Spanischen Republik oder mit Stalins Sowjetunion. Eine kleinere Gruppe schloss sich Ezra Pounds, Henry Williamsons und Celines öffentlichem Bekenntnis zum Faschismus an. Aber die zentrale Anziehungskraft von Wodehouse, einem Meister der Sprache, liegt in seiner Fähigkeit, in Redewendungen und Absätzen zu leben, und nicht einen größeren Ausblick zu eröffnen."

Revista Piaui (Brasilien), 31.12.2011

Branca Vianna stellt den irakischen Geologen Farouk Al-Kasim vor, der als Berater bis heute maßgeblich Anteil daran hat, dass der Erdölreichtum Norwegens im Unterschied zu so vielen Ländern mit bedeutenden Bodenschätzen tatsächlich für die gesamte Bevölkerung des Landes Reichtum und Wohlstand brachte. Der Geologe kam 1968 als Flüchtling ins Land - den Irak hätte er als eine der Schlüsselfiguren der dortigen Ölindustrie offiziell gar nicht verlassen dürfen, doch war er auf der Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit für sein schwer erkranktes drittes Kind. In Norwegen konnte ihm geholfen werden, und er konnte sich revanchieren: Durch eine Reihe glücklicher Zufälle wurde man auf seine Expertise aufmerksam und machte sich seine Ratschläge zunutze, vor allem durch Schaffung einer Regulierungsbehörde, die nicht nur auf Augenhöhe mit den Erdölkonzernen verhandeln kann, sondern ebenso dem unmittelbaren Einfluss der nationalen Ölgesellschaft entzogen ist, "die allzu leicht allzu mächtig und zum Staat im Staate wird", wie Al-Kasim aus eigener Anschauung wusste. Im Irak hat Al-Kasim sein Wissen bislang offenbar wenig fruchtbar machen können, "die dort regierenden Mafiagruppen kümmern sich nur um ihre eigenen Interessen. Angeblich wird es allmählich besser, aber ich habe meine Hilfsbemühungen irgendwann aufgegeben."
Archiv: Revista Piaui
Stichwörter: Irak, Norwegen, Bodenschätze

New York Review of Books (USA), 12.01.2012

25.000 Seiten Briefe haben Georgia O'Keefe und Alfred Stieglitz sich zwischen 1915 und 1946 geschrieben. Eine zeitlang waren sie Eheleute in einer offenen Ehe, was in diesem Fall offenbar darauf hinauslief, dass der 24 Jahre ältere Stieglitz seine Frau gerne mit jüngeren Frauen in abhängiger Position betrog. Das hat sie zwar sehr verletzt, aber sie am Ende auch unabhängig gemacht, meint Christopher Benfey: "Es ist leicht, Stieglitz als gleichgültigen Ehemann anzuklagen. Er tat nur wenig, sein Verhalten zu rechtfertigen. Aber seine Offenheit machte es für O'Keefe einfacher, sich selbst zu erfinden. In diesem Sinne befreite er sie, wie schmerzhaft und grausam auch immer. 'Ich bin dir für alles dankbar', schrieb sie 1929 und fügte hinzu, dass ihre Erfahrung mit ihm es anderen Menschen 'sehr schwer' gemacht hätte, 'mich an irgendeinem Punkt zu berühren, der mich verletzen könnte'. Er habe ihr Herz genommen, erklärte sie ihm, 'und es mir zur gleichen Zeit in einer gebrauchsfähigen Form zurückgegeben'. Im Westen, wohin ihr Stieglitz taktvoller Weise niemals folgte, lernte O'Keefe, die Autos zu fahren, die er hasste. Sie erreichte etwas, das die Kunsthistorikerin Anne Middleton Wagner so beschrieb: eine zweckdienliche Neuerfindung als O'Keefe, die resolute Wüstenälteste, ein offenbar unbezwinglicher Charakter, der sich jenseits von Trivialitäten wie Alter und Sex bewegte."

Yasmine El Rashidi gibt einen Überblick über die nicht unkomplizierte politische Lage in Ägypten: die liberalen Kräfte, die einen säkularen Staat versprechen, schaffen es nicht, sich gegen die religiösen Kräfte durchzusetzen, die niedrige Brotpreise versprechen. Die Muslimbrüder wiederum drohen inzwischen Wähler an die von den Saudis finanzierten, fundamentalistischen Salafisten zu verlieren: "Die Muslimbrüder boykottierten den 'Tag des Zorns' am 27. Mai und die 'Zweite Revolution', was Millionen von Menschen verärgerte, die daran teilnahmen. In den letzten Monaten änderten die Führer der Muslimbrüder wieder und wieder ihre Meinung zu verschiedenen Fragen - etwa zum Status der Kopten und zu ihrem Endziel eines islamischen Staates - was ihnen den Ruf einbrachte, 'nie die ganze Wahrheit zu sprechen', wie ich oft hörte. Bei der Unterhaltung mit Wählern in armen Bezirken während der Wahlen am 28./29. November hörte ich wiederholt: 'Den Muslimbrüdern kann man nicht voll vertrauen, sie halten ihr Wort nicht. Die Salafisten sind rein.'"

Außerdem: Joshua Hammer erkundet Libyen nach der Befreiung von Gaddafi und lässt sich erklären, warum es von allen arabischen Ländern die größte Chance hat, eine prosperierende Demokratie zu werden: "Es hat eine kleine, ziemlich gebildete Bevölkerung, hunderte von Meilen Küste und große Ölreserven." Sue Halpern mag weder Walter Isaacsons Steve-Jobs-Biografie (zu hagiogafisch) noch Steve Jobs, den sie für einen besonders skrupellosen, ausbeuterischen, die Umwelt schändenden Mistkerl hält. Und Colin Thubron bespricht Simon Sebag Montefiores Jerusalem-Biografie.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 22.12.2011

Angesichts der Durchsuchungen von Büros ausländischer NGOs und Organisationen in Ägypten schickt Youssef Rakha mit seinem "Manifest eines ehrenwerten Bürgers" einen beißenden Neujahrsgruß an den heimischen Militärrat: "Wir, die ehrenwerten Bürger von Ägpten - Pioniere auf jedem Gebiet, hundert Millionen Nationalisten und drei große Pyramiden - erklären unsere vollständige Unterstützung und nie versiegende Dankbarkeit für jene tapferen und galanten Soldaten aus unserem eigenen Fleisch und Blut, die mit ritterlicher Hingabe und respekteinflößender Tapferkeit aus ihrem unangreifbarem Selbst die unbezwingliche Besatzung schufen, mit der nicht nur wir, ihr Volk, sondern auch unser heiligstes, fremdenfeindlichstes Erbe beschützt wird. Bevor wir weiter mit unanfechtbaren Argumenten den blendend offensichtlichen Fakt aufzeigen, dass es nur der Weisheit und Rechtschaffenheit unseres Armeerates (Sieg Heil!), für dessen unbestechliche Gnade das Wort 'höchste' nur die bescheidenste Bezeichnung sein kann, zu verdanken ist, dass das Volk und seine ölbeschmierten heiligen Männer der parfümierten Bärte vor der stinkenden, galaktischen Konspiration geschützt wurden, der dieses Land zum Opfer gefallen ist."
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Rakha, Youssef, Ngos, Ngo

Foreign Affairs (USA), 03.01.2012

Ist die Welt wirklich friedlicher geworden? Vielleicht, aber die Erklärungen, die Steven Pinker in seinem Buch "Gewalt" dafür bietet, stellen den Historiker Timothy Snyder nicht zufrieden. Einer der Gründe dafür: "Pinker glaubt, dass die Menschen friedlicher werden, wenn sie Zeit und Gelegenheit haben, im Gespräch zu bleiben und ihre Handlungen zu überdenken. Doch er hat Schwierigkeiten anzuerkennen, dass - seiner eigenen Erzählung folgend - es nur einen Agenten gibt, der diese Art von gepolsterter Gesellschaft mit gebildeten Köpfen und Freizeit garantieren kann: der Wohlfahrtsstaat. Diese Verweigerung scheint in Pinkers Bekenntnis zum marktwirtschaftlichen Liberalismus begründet zu sein. Seine Vision von einem kommenden Zeitalter des Friedens ist ein gutes Beispiel dafür, wie zwei Trends, die politische Passivität begünstigen - die narzistische Unbeständigkeit der amerikanischen Linke und die antistaatlichen Vorurteile der amerikanischen Rechten - im selben Wahn enden: dass während wir reden, reden, reden, die Märkte die Arbeit der Geschichte tun."
Archiv: Foreign Affairs

Eurozine (Österreich), 22.12.2011

Tendenz zur Bürokratisierung einerseits, Verschiebung der Gewichte von Brüssel zu den Staatsschefs andererseits, und dann noch die dunkel-dräuende deutsche Frage, die sich in der Eurokrise mit einer dominierenden deutschen Wirtschaftsmacht neu stellt - Europa ist an einem entscheidenden Punkt angelangt, schreibt der schwedische Autor Per Wirten in einem lesenswerten Essay. Er teilt nicht Habermas" Optimismus, dass zumindest die schlimmsten Gespenster der Vergangenheit gebannt seien: "Wenn Habermas behauptet, dass zumindest das friedliche Zusammenleben durch das europäische Projekt endgültig gewährleistet sei, dann hat er für meine Gefühl in diesem Punkt unrecht. Die nationalen, chauvinistischen, separatistischen Stimmungen, die durch Ungarn, Norditalien, Dänemark und und andere Länder schwappen, sprechen für das Gegenteil. Das europäische Experiment ist noch nicht erfolgreich abgeschlossen. Die Dämonen, die durch das europäische Projekt bislang in Schach gehalten werden, warten stets noch auf Rache. Die Angst vor Europa ist immer noch gerechtfertigt."
Archiv: Eurozine

Technology Review (Deutschland), 02.01.2012

Wenn Steve Jobs einst in einem berühmten Werbespot vor Big Brother warnte, dann nur, weil er auf dessen Stelle scharf war, meint Jonathan Zittrain in der Technology Review. Die Welt der geschlossenen Apps, die er für Iphone und Ipad entwickelte und die Google für Android nachmacht, droht das offene Netz zu zerstören: "Das Ganze ist umso beunruhigender, als die Regierungen gemerkt haben, dass dieses Konzept eine Zensur viel einfacher macht. War es vorher eine Sysyphus-Arbeit, all die Bücher, Traktate und Webseiten unter Kontrolle zu halten, genügen jetzt ein paar Anordnungen an die digitalen Torhüter wie Apple oder Google, um unliebsame Inhalte zu entfernen."

Walrus Magazine (Kanada), 01.01.2012

Es gibt eine Prophezeiung, die stets eintrifft - nämlich die, dass Propheten so gut wie immer irren, schreibt Daniel Baird im Walrus Magazine nach Lektüre eines guten Dutzends apokalyptisch gestimmter Bücher. Einige von ihnen wurde von einst durchaus seriösen Autoren verfasst. Lawrence E. Joseph schrieb für die New York Times über Wissenschaft und Religion und scheint jetzt geneigt, an das vom Maya Kalender annoncierte Weltende in diesem Jahr zu glauben. Aber wie gesagt: "Die Schwierigkeit mit Prophezeiungen - ob sie nun auf der Bibel, alten Kalendern, Klimastudien, Wirtschaftswissenschaft oder Visionen mongolischer Schamanen beruhen - ist, dass sie fast unfehlbar falsch liegen. Menschen sind erstaunlich schlecht darin, sogar kurzfristige Ereignisse anzusagen, etwa das Wetter am Montag oder den Goldpreis am Freitag, um so weniger das Schicksal der Menschheit."
Archiv: Walrus Magazine

BBC Magazine (UK), 26.12.2011

Europa wird zu Staub zerfallen. Mit Spott stellt John Gray im BBC Magazine all jene, die an einen allmählichen Fortschritt des Menschengeschlechts glauben, an die Seite von Utopisten. Solche Leute seien auch in der EU am Werk. Er bemüht Arthur Koestler, dem Europa im Jahr 1939 wie ein von Termiten zerfressenes Gebäude zusammenzufallen schien, um die heutige Lage zu beschreiben: "Wer einen Schritt zurücktritt und mit etwas Distanz auf die Lage blickt, erkennt klar, dass innerhalb bestehender Institutionen keine Lösung für die europäischen Probleme gefunden werden kann. So wie das Holzgerüst im Haus eines Plantagenbesitzeres, über das Koestler in einem Buch über Termiten gelesen hatte, werden die europäischen Strukturen von den Schulden aufgefressen. Wo immer Europas Eliten Halt suchen, brechen die Pfeiler schon weg."
Archiv: BBC Magazine
Stichwörter: Gray, John, Koestler, Arthur

Slate.fr (Frankreich), 02.01.2012

Celines Werke sind gratis als Ebook downloadbar, meldet Slate.fr unter Bezug auf das Blog Aldus2006 - und das ganz legal. In Kanada werden die Werke von Autoren nämlich schon fünfzig Jahre nach deren Tod rechtefrei, während diese Frist in Europa siebzig Jahre beträgt. "Theoretisch ist die Fernlade in Frankreich nicht möglich, da der Internaut durch seine IP-Adresse erkannt wird und der Gesetzgebung seines Landes unterliegt. Es scheint allerdings recht leicht zu sein, diese Regelung zu umgehen und sich das Werk in digitaler Form zu verschaffen, auch wenn es den Editions Gallimard nicht gefällt - der französische Verleger bietet Celine überhaupt nicht in elektronischer Form an. Schon zu Lebzeiten drängte Celine auf eine größere Verbreitung seiner Werke durch Taschenbuchausgaben."
Archiv: Slate.fr
Stichwörter: Ebooks, Gallimard, Kanada, Celine

London Review of Books (UK), 05.01.2012

Der arabische Frühling ist zu Ende, resigniert Adam Shatz bei der melancholischen Umschau, was aus den Versprechungen von Anfang 2011 geworden ist: "Einen kurzen Moment lang gab es unter den Menschen am Tahrirplatz, die verzweifelt Teil der modernen Welt sein wollten, ein liberales Ägypten. Jedoch, wie Ernst Bloch einst anmerkte, leben wir zwar alle in der Gegenwart, doch 'nicht alle sind im selben Jetzt da'. Kaum war Mubarak gestürzt, kaum begann sich erstmals seit der Machtübernahme der freien Offiziere im Jahr 1952 ein wirkliches politisches Leben im Land zu entfalten, machte die revolutionäre Jugend die Entdeckung, dass sie nur wenig Rückhalt unter denen genoss, die in einem anderen Jetzt leben. Sie machte die Erfahrung, dass das Anzetteln einer Revolution nicht bedeutet, sie auch für sich zu besitzen. Ägypten mit seinen konservativen, frommen, traditionellen Aspekten erkannte sich in den größtenteils bürgerlichen, internet-affinen Tahrir-Grüppchen nicht wieder."

Jenny Diski schreibt über neue, internetgestützte Modelle im Verlagswesen, die für sich beanspruchen, das zuletzt immer stärkere Wort der Buchhaltung auszuhebeln. Sehr verdächtig kommt ihr allerdings der Service Unbound vor, bei dem Autoren geplante Veröffentlichungen vorstellen und damit für Vorab-Unterstützung werben können: "Unbound verkauft sich selbst als radikalen Schritt weg von der kommerziellen Veröffentlichungspraxis, doch statt eine Alternative anzubieten, stellt das Verfahren eine Essenz des Marketings dar. Keiner nimmt Risiken auf sich oder vollzieht einen Gesinnungswandel. Es handelt sich um ein crowdsourcing-Modell, das genauso die Masse umschmeichelt wie eine populistische Veröffentlichungsweise, wenn auch im kleineren, abgesicherteren Maßstab. Früher waren Bibliotheken und Buchläden die Orte, an die man ging, um sich begeistern zu lassen. Die Begeisterung, die Unbound anbietet, ist die eines Pferderennens mit der Möglichkeit, vor dem Startschuss noch an den Fesseln der Pferde rumzufummeln."

Weiteres: Auch Obama ist eine blanke Enttäuschung, findet Jackson Lears und begibt sich bei der Lektüre zweier Bücher über den US-Präsident auf biografische Ursachenforschung. Unterdessen nimmt sich Stephen Holmes Russland unter Putin zur Brust und findet dafür in dem Buch "Mafia State" von Luke Harding, der darin seine Erfahrungen als erster, des Landes verwiesener Journalist seit dem Kalten Krieg beschreibt, viel Anschauungsmaterial.

Besprochen werden eine Wilhelm-Sasnal-Ausstellung in der Whitechapel Gallery, Raul Ruiz' filmisches Vermächtnis "Mysteries of Lisboa" und sehr ausführlich die Leonardo-Ausstellung in der National Gallery.

Wired (USA), 19.01.2012

"Ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte, hat Internet-Ruhm begonnen, sich auszuzahlen", schreibt Ben Austen über die Professionalisierungstendenzen von YouTube-Stars. Genauer schaut er sich die Maker Studios an, ein Studio nahe Los Angeles, das es der YouTube-Prominenz gestattet, kollaborativ zusammenzuarbeiten: "Makers Geschäftsmodell ist einfach. Das Studio behält einen Teil der Werbeeinkünfte seiner Partner für sich ein, dafür versorgt es aufsteigende Talente mit Regisseuren, Schnittmeistern, Komparsen, Kostümen, technischer Hilfestellung, Studioräumlichkeiten und Ausrüstung und hilft außerdem beim Verhandeln mit Websites und anderen. Die Gründer von Maker sehen darin Parallelen zu United Artists, dem revolutionären Hollywood-Studio, das 1919 von D.W. Griffith, Charlie Chaplin und anderen befreundeten Stars gegründet wurde, um die Kontrolle über das Werk und dessen Vertrieb zu erlangen. Und beim Besuch der Maker-Büros fühlt man die selbe Art anarchischer Energie, die Hollywood in dieser wilden prä-Konzernzeit prägte." (Dass sich die Geschichte von United Artists auch als fortlaufende Pleitegeschichte erzählen lässt, wollen wir hier nur am Rande erwähnen.)

Außerdem: Bill Wasik, der ursprüngliche Initiator von Flash Mobs im Jahr 2003, macht sich sehr umfassend Gedanken über die Zusammenhänge zwischen neuen Kommunikationstechnologien, Gruppenpsychologie und den Riots im vergangenen Jahr von Großbritannien bis hin zu missglückten PR-Mobs, die in Massenschlägereien ausarteten.
Archiv: Wired