Magazinrundschau

Ein veritabler Brocken

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
22.11.2011. Die Columbia Journalism Review erzählt am Beispiel der Zeitung San Jose Mercury News, wie man kämpfen und trotzdem verlieren kann. Capital New York erzählt, wie die Huffington Post zum journalistischen Schwergewicht werden will. Prospect überlegt, wie man Computerspiele für den Film fruchtbar machen kann. Elet es Irodalom warnt vor der Vertreibung des sozialistischen Fußballs aus der ungarischen Geschichte. Der Berlusconismus funktioniert auch ohne Berlusconi, fürchtet MicroMega. Vorsicht vor pakistanischen Kleintransportern, warnt The Atlantic.

Columbia Journalism Review (USA), 01.11.2011

Michael Shapiro beschreibt auf satten 31 Seiten am Beispiel der San Jose Mercury News die Geschichte des Kampfs der Zeitungen im Medienwandel. In den späten Neunziger war der Merc eine hochangesehene Zeitung. Und er war stinkreich: die Profitmargen lagen zum Teil bei über 30 Prozent. In den nächsten zehn Jahren sollte der Merc alles tun, um im Internetzeitalter zu bestehen. Es wurde investiert und experimentiert - und trotzdem ging es schief. Schapiro erzählt das mit Bewunderung für den Mut zum Experiment. Der Merc hat online vieles richtig gemacht - und das schon Anfang der Neunziger! - aber die Hauptlektion, die der Harvard-Wirtschaftsprofessor Clayton Christensen 1997 in seinem Buch "The Innovator's Dilemma" beschrieb, konnte er nicht begreifen. Christensen beschrieb darin zwei Arten von technologischen Kräften: die nachhaltige und die zerstörende. Nachhaltige und für die Zeitungen positive Technologie war die Umstellung von Blei- auf Fotosatz. Aber "'zerstörende Technologie' hat eine ganz andere Art von Macht, eine, die die besten Firmen desorientieren kann. Zerstörender Technologie ist kaum etwas entgegenzusetzen, weil sie zutiefst kontraintuitiv wirkt. Anders als etwa der Fotosatz verbessert sie nicht ein Produkt, dessen Markt - Anzeigenkunden und Leser - etabliert und zuverlässig profitabel ist. Statt dessen schafft sie neue Produkte, die erst einmal wenig Anziehungskraft für den existierenden Markt haben. ... Christensen, ein frommer Mormone, steckte eine Position ab, die an Geschäftshäresie grenzte. Angesichts zerstörender Technologie, schrieb er, ist es weiser, nicht auf die Wünsche der existierenden Kunden zu reagieren. Es sei zwingend, die Umsatzerwartungen herunterzuschrauben, um die Produkte zu befördern, die von dieser neuen Technologie geschaffen werden. Und es sei entscheidend, die Unvermeidlichkeit von Fehlschlägen zu akzeptieren. Nachhaltige Technologie bringt Beruhigung, zerstörende Technologie sät Zweifel."

Capital New York (USA), 16.11.2011

In einem Artikel, der sich eher der sonnigen Seite des "Huffington Post-AOL"-Deals widmet, erzählt Joe Pompeo dann doch recht lebhaft, wie das alles zustande kam und mit welchen Schwierigkeiten die Huffington Post zu kämpfen hat, seit sie sich vom Blog und News-Aggregator zu einem journalistischen Schwergewicht zu entwickeln versucht. Immerhin ist die Zahl der Redakteure und, ähm, traditionellen Journalisten jetzt von 170 auf 320 gestiegen. Das verursacht Friktionen zwischen dem Internetvolk und den Neuen: "Trotz viel Überzeugungsarbeit finden sie die Mission immer noch stark gegensätzlich, sagen viele Mitarbeiter. 'Man kann grob unterscheiden zwischen den Leuten, denen es nur um den Traffic geht, die auf die altmodischen Journalisten, denen es um Originalberichte geht, herabsehen', sagt ein Mitarbeiter, der sich in der Redaktion auskennt, ' und den Leuten, die den Auftrag verstanden haben: Aggregation und besucherfreundliches Material nicht zu verdrängen, sondern eine neue Schicht oben drauf zu legen."
Stichwörter: Huffington Post

Magyar Narancs (Ungarn), 10.11.2011

Randolph L. Braham, amerikanischer Holocaustforscher mit jüdisch-ungarischen Wurzeln (seine Eltern und Verwandten wurden in Auschwitz umgebracht), weist in Vorträgen und Schriften die Ungarn immer wieder auf ihre fehlende Auseinandersetzung mit dem Holocaust hin. Im Interview mit Pal Daniel Renyi erklärt Braham, warum: "Ungarn hat, wie andere mittelosteuropäische Länder auch, nie die Verantwortung dafür übernommen, was mit seinen jüdischen Gemeinschaften im Jahr 1944 geschah. Statt dessen versucht man, jede Verantwortung auf die deutschen Nazis und die ungarischen Pfeilkreuzler der Szalasi-Zeit [Oktober 1944 bis Kriegsende] abzuwälzen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Deportation und Vernichtung der [440.000] ungarischen Juden zwischen März und Juli 1944 stattfand - als das Land noch von Reichsverweser Miklos Horthy und von der Sztojay-Regierung geführt wurde. ? Wenn sie nicht verstehen, was in diesem Land zwischen 1918 und 1945, und vor allem zwischen März und Juli 1944 geschah, werden die jetzt heranwachsenden Generationen nicht in der Lage sein, einen wirklich freien, demokratischen Staat zu bilden. Eine demokratische Gesellschaft kann nicht auf einer Grundlage von Lügen aufgebaut werden." Das Wegschauen, so Braham, wird auch noch befördert durch die neue ungarische Verfassung, "deren Präambel zufolge Ungarn zwischen März 1944 [dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht] und 1990 seiner Autonomie beraubt war".
Archiv: Magyar Narancs

Prospect (UK), 16.11.2011

Das Verhältnis zwischen Computerspielen und Filmen ist asymmetrisch, wenn nicht parasitär, schreibt Tom Chatfield: Man lobt Spiele für ihre cinematischen Qualitäten und verteufelt Filme, die sich den Computerspielen annähern, von trashigen Videospielverfilmungen ganz zu schweigen. Und dennoch sieht Chatfield in der Raumästhetik neuerer Filme wie "Tim & Struppi" oder "Avatar" unter dem Stichwort "digital world-building" eine gerade auch für das Kino fruchtbare ästhetische Allianz heraufdämmern: "Denn was passiert, wenn man, statt einfach nur ein visuelles Echo zu produzieren, versucht, den Film mit den wirklichen emotionalen und ästhetischen Qualitäten einer Spielerfahrung zu tränken: Die gesteigerte Erkundungs- und Handlungsfreiheit, die einen umströmt, wenn man auf eine gut gestaltete, virtuelle Welt stößt."

Weiteres: Gavin Kelly und James Plunkett liefern Hintergründe, warum selbst im Fall von wirtschaftlichem Wachstum mit keinem Zuwachs an Lebensqualität für die breite Masse zu rechnen ist. Ann Widdecombe würde zu guten, altmodischen Zeiten zurückkehren, würde sie die Welt regieren. Abgedruckt ist außerdem "The Redemption of Galen Pike", eine gerade mit dem V.S. Pritchett Memorial Prize ausgezeichnete Kurzgeschichte von Carys Davies.
Archiv: Prospect

Elet es Irodalom (Ungarn), 18.11.2011

Die Regierung versucht jetzt verstärkt, auch die ungarische Geschichte umzudeuten, kritisiert der Medienwissenschaftler Peter György. So will man etwa das 1953 erbaute "Volksstadion" abreißen, um die Erinnerung an den Fußball im Sozialismus auszulöschen: "Mit der Exzision des Volksstadions aus dem städtischen Gewebe wird nicht nur die Zeit des Sozialismus unsichtbar gemacht. Vielmehr wird hier jener Raum angetastet, der den Begriff der Heimat zu einer wahrnehmbaren, alltäglichen und zugleich historischen, reflexiven Erfahrung machen könnte. [?] Auf diese Weise zerstört sie gerade jene Heimat, die all die Menschen, die in einer von Risiko, Ängsten und Globalisierung geprägten Zeit leben müssen, besonders nötig hätten."
Stichwörter: Globalisierung

New York Review of Books (USA), 08.12.2011

Peter Brown honoriert die intellektuelle Entschlossenheit, mit der das Metropolitan Museum seine Abteilung für Islamische Kunst umgestaltet hat: "Zunächst einmal tragen die Galerien deutlich einen neuen Namen. Sie heißen jetzt New Galleries for the Art of the Arab Lands, Turkey, Iran, Central Asia and Later South Asia. Ein veritabler Brocken. Aber hinter dem Titel liegen Jahrzehnte sorgfältigen Nachdenkens über das Verhältnis zwischen dem Universalen und dem Partikularen in einem weitgestreckten Weltreich von Kulturen. Die Auffassung von der islamischen Kunst als einem einzigen uniformen System, das sich mit monotoner Beharrlichkeit über die von Muslimen beherrschten Gebiete ausdehnt, ist unbrauchbar geworden."

Michael Lewis hat seine Wirtschaftsreportagen aus Vanity Fair nun als Buch unter dem Titel "Boomerang" herausgegeben (hier kann man sie auch online lesen), John Lanchester lernt von Lewis' Reisen in "die neue Dritte Welt", also Europa, dass nichts an einer einheitlichen europäischen Finanzpolitik vorbeiführt: "Sagen Sie das den Deutschen, und alles, was sie hören, ist, dass sie gezwungen sein werden, die Schulden der anderen Länder zu zahlen. Und die schmerzhafte Wahrheit ist, ja, das werden sie."

Weiteres: Michael Greenberg berichtet von den Problemen, denen die New Yorker Occupier gegenüberstanden, bevor sie so rabiat geräumt wurden. Schriftsteller Louis Begley stellt Tom Segevs nun auch auf Englisch erschienene Biografie Simon Wiesenthals vor.

MicroMega (Italien), 21.11.2011

Der Berlusconismus ist nicht am Ende, meint Paolo Flores d'Arcais, einer der prominentesten und hartnäckigsten Berlusconi-Kritiker unter den italienischen Intellektuellen in einem größeren MicroMega-Dossier zum italienischen Regierungswechsel, denn die Macht Berlusconis begründete sich längst nicht allein aus der Tatsache, dass er Regierungschef war: "Sein 'harter Kern' liegt im monopolistischen (und immer mehr an Orwell gemahnenden) Zugriff auf das Fernsehen, im Netz der auf ihn zugeschnittenen Gesetze, das ihm Straflosigkeit sicherte (obwohl er vor Gericht bestimmt zehnmal schuldig befunden wurde), im Gewirr krimineller, abgeleiteter, manipulativer Machtsysteme (Abteilungen der Geheimdienste, korrupte Honoratioren, Manager der staatsnahen Betriebe mit gigantischen Interessen im Öl- und Rüstungsbereich, mafiöse Milieus, Despoten aus fremden Ländern...), mit denen er sich seine politische und persönliche Macht formte und einen veritablen Parallelstaat schuf."
Archiv: MicroMega

Al Ahram Weekly (Ägypten), 17.11.2011

Ägyptens Muslimbrüder werden beschwichtigend - sogar im Westen - gern mit der türkischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung verglichen. Azmi Ashour hat da seine Zweifel: Erdogans Partei existiert in einer seit neunzig Jahren säkularen Gesellschaft. In Ägypten gibt es das nicht, im Gegenteil: "Die Dualität zwischen [Mubaraks] Regime und den Muslimbrüdern hat zu einem Typus von Individuen geführt, der ausschließlich seine eigenen Ansichten für die richtigen hält und andere Meinungen nicht in Betracht ziehen kann. Tatsächlich war diese Kultur der Ausschließlichkeit lange der Hauptmakel der Mentalität der Muslimbrüder-Elite, die nicht nur das herrschende Regime als ihren Feind ansah, sondern auch jeden anderen, der nicht stramm auf ihrer Seite stand."

Außerdem: Nehad Selaiha erinnert sich anlässlich einer Theateraufführung von Studenten an den syrischen Dramatiker Saadallah Wannoos.
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Muslimbrüder

Guernica (USA), 22.11.2011

Amira Hass ist die einzige israelische Journalistin, die permanent auf der West Bank lebt und ihren Landsleuten die Folgen der Besatzung nahe zu bringen versucht. Wie reagieren die Israelis auf ihre Artikel, fragt sie Jasmin Ramsey. "Ich hielt eine Vorlesung in Middlebury, unter dem Titel 'Translating Occupation to the Occupier'. Das sagt ja wohl alles. Ich glaube, die meisten Israelis ziehen es vor, nichts zu wissen. Für sie sind Artikel über die Besatzung Texte in einer fremden Sprache. Wenn sie wollen, kann man es ihnen übersetzen. Aber es ist ihre Entscheidung. Im großen und ganzen wollen die Israelis es nicht wissen, glaube ich. So schreibe ich vor allem für die Bekehrten."
Archiv: Guernica
Stichwörter: Guernica

Slate.fr (Frankreich), 21.11.2011

Jacques Attali, der einflussreiche ehemalige Berater Mitterrands, warnt Angela Merkel in Slate.fr: Entweder sie stimmt dem Aufkauf notleidender europäischer Anleihen durch die Europäische Zentralbank und der Emission europäischer Staatsanleihen zu oder... sie besiegelt Europas Selbstmord. Und nebenbei befreit Attali uns Deutsche von vier unserer liebsten Illusionen. Entzauberung Nummer 1: "Deutschland ist nicht der Klassenbeste der Union, der nun für die Sünden der anderen zu bezahlen hätte. Seine öffentliche Schuld liegt bei 82 Prozent des Bruttosozialprodukts, praktisch genausoviel wie in Frankreich. Zehn seiner Banken, alle in öffentlicher Hand, die zwanzig Prozent der Kredite außerhalb des Finanzgewerbes liefern, befinden sich in einer sehr schlechten Lage. Deutschlands Energieverbrauch wird immer mehr von russischem Gas abhängen, das bereits heute 37 Prozent seiner Importe darstellt. Seine Demografie ist derart katastrophal, dass Deutschland schon im Jahr 2060 weniger Einwohner haben wird als Frankreich und 44 Prozent der Deutschen im Gegensatz zu 35 Prozent der Franzosen über 65 sind, was die Rückzahlung der deutschen Schulden besonders erschwert." Autsch!
Archiv: Slate.fr

The Atlantic (USA), 01.12.2011

Die Überschrift von Jeffrey Goldbergs und Marc Ambinders 19-seitiger Reportage über Pakistan sagt schon alles: "Der Alliierte aus der Hölle". Eine Frage treibt die beiden besonders um: Wie sicher sind die pakistanischen Atomwaffen vor muslimischen Terroristen? Es stellt sich heraus, dass die Pakistaner sich mehr für die Frage interessieren: Wie können wir unsere Atomwaffen vor amerikanischen und indischen Spionen schützen? Zu diesem Zweck werden die Waffen bzw. ihre Bestandteile ständig im Land herumgefahren. "Statt das nukleare Material in bewaffneten, gut geschützten Convois zu transportieren, zieht die SPD es vor, das Material in einem Täuschungsmanöver in Zivilautos ohne erkennbaren Schutz im normalen Verkehr zu bewegen. Nach pakistanischen wie amerikanischen Quellen sind manchmal Kleintransporter mit bescheidenem Sicherheitsprofil das bevorzugte Beförderungsmittel."

Außerdem: Caitlin Flanagan erklärt, warum die amerikanische Elke Heidenreich, Oprah Winfrey, so phänomenal erfolgreich ist.

Oh, und übrigens lagen im Oktober bei The Atlantic die Einnahmen aus Anzeigen auf der Webseite über den Einnahmen aus Anzeigen im Printmagazin, meldet die NYT.
Archiv: The Atlantic