Magazinrundschau

Unberechenbar gut

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.09.2011. Der Merkur vermisst den Nonkonformisten, den möglicherweise die liberale Ironikerin aus dem Feld geschlagen hat. Atlantic Monthly kannn keinen Zusammenhang zwischen Monogamie und Charakter sehen. Ähnliches stellt die New York Times fest, nachdem sie David Lodges Roman über das ausschweifende Liebesleben von H.G. Wells gelesen hat. Die London Review of Books schöpft beim Anblick des Rasens von Tripolis Hoffnung für Libyen. Elet es Irodalom ruft den kritischen Intellektuellen zu: Der Kapitalismus braucht euch! Der New Yorker bedankt sich bei Jean Paul Gaultiers Großmutter. Und das TLS probiert mit Terry Castle Sex mit geladener Waffe.

Merkur (Deutschland), 15.09.2011

Das Doppelheft des Merkur besingt in diesem Jahr den Nonkonformisten, die aus "Trotz und Treue" das "Wagnis der Wahrheit" eingehen, wie Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel im Editorial schreiben, und die sie auf keinen Fall mit den geschäftsmäßigen Tabubrechern verwechselt sehen wollen, die "das liberale Juste-milieu in Erregung versetzen, indem sie sich als verwegene Unzeitgemäße geben und eine Lanze für den Papst, den Kommunismus oder irgendeine andere Orthodoxie brechen".

Bisher war der Nonkonformismus eine Domäne des sozialen Aufsteigers und eher in Politik und Wirtschaft als in der Kultur anzutreffen, stellt der Soziologe Heinz Bude fest. Wo sollen also in unserer offenen Gesellschaft diejenigen herkommen, die sich mit der Schließung des Geistes nicht abfinden wollen? "In der Vorstellung sozialer Integration ist das Aufstiegsversprechen für die von unten doch von der Exklusionsdrohung für die in der vollgestopften Mitte abgelöst worden. Da hat aufgrund der unaufhörlich wachsenden Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen die 'liberale Ironikerin' (Richard Rorty) dem männlichen Nonkonformisten schon lange das Wasser abgegraben. Wenn man heute einen existentiellen Nonkonformismus propagiert, tut man das womöglich in Erinnerung an vergangene Zeiten. Die Beweglichen sind genauso von sozialer Angst getrieben wie die Standhaften. Dann zählen nur noch beispielgebende Einzelne, die sich nicht mit der Ausrede zufriedengeben, dass man lieber Institutionen verbessern sollte als Individualitätstypen zu pflegen."

Jörg Lau untersucht verschiedene Typen des Außenseiters, der im Katastrophenfilm seine große Zeit erlebte, aber sehr unsympathische Züge annehmen kann, wenn er sich wie der Unabomber zum apokalyptischen Revolutionär hochstilisiert. Mit dem eher liberalen Naturaposteltum eines Henry David Thoreau kommt Lau besser klar: "Ausgerechnet der Hypermoralist Thoreau schafft ein Gegenbild zum Konzept des Gouvernantenstaats, das in unseren Tagen die politischen Phantasien beflügelt: ein Staat, der die Leute in Ruhe lässt, weil er die individuelle Freiheit als Quelle seiner Legitimität anerkennt − eine Republik der Außenseiter."

Weiteres: Siegfried Kohlhamm stellt klar, dass es Exzentrikern nicht um die Sache geht, sondern um sich selbst. Gerade darin aber liegt ihre Bedeutung: "Die Exzentriker sind nicht die Schöpfer, Urheber oder Bewahrer der Freiheit, sie sind Symptome dafür. Bolz feiert die Kraft des Reaktionärs, "seine Feinde in eine verdummende Wut zu versetzen". Und Gustav Seibt erklärt den Unterschied von Außenseiter und Ausnahmemensch.
Archiv: Merkur

The Atlantic (USA), 01.10.2011

Nach den jüngsten und weidlich von den Medien ausgeschlachteten Affären um Anthony Weiner, Arnold Schwarzenegger und Dominique Strauss-Kahn weist der Medienhistoriker David Greenberg darauf hin, dass das Sexleben von Politikern erst seit Ende der 70er zu einer Waffe im politischen Kampf geworden ist, und zwar mit durchaus scheinheiligen Argumenten: "Die Geschichte gibt wenig Grund zu der Annahme, dass sexuelles Fehlverhalten oder die damit einhergehende Täuschung oder Heuchelei einen Politiker ungeeignet für Führungsaufgaben macht. Richard Nixon war, obwohl monogam, unser korruptester Präsident, während Ted Kennedy, wie presönlich ausschweifend auch immer, zu den größten Senatoren gehörte." Meist werde die Geschichte am heiklen Punkt "Charakter" aufgehängt, aber wie Greenberg weiß, geht es noch wackliger: "In manchen Fällen, wie dem von John Edwards rechtfertigten Journalisten die Bedeutung ihrer Geschichte mit einem besonders exquisiten Zirkelschluss: Jeder Politiker, der sich Extravaganzen oder ein riskantes Sexualverhalten erlaubt, hieß es, verdient es, geoutet zu werden, schon weil ihm die richtige Urteilskraft fehlt - schließlich wisse jeder, dass in unserem gegenwärtigen Medienbetrieb sein Verhalten in einen Skandal münden kann."

Außerdem: Unverzeihlich, aber erwartbar findet Benjamin Schwarz, dass der seit jeher unterschätzte Ambrose Bierce erst jetzt in die Library of America aufgenommen wurde. Und Christina Schwarz feiert David Lodges Roman über H.G. Wells' sehr aktives Liebesleben "A Man of Parts".
Archiv: The Atlantic

New York Times (USA), 18.09.2011

Der Literaturwissenschaftler und Romancier David Lodge hat einen biografischen Roman über den Vielschreiber H.G. Wells verfasst, Titel: "A Man of Parts". So weit man in Christopher Benfeys Rezension schlau daraus wird, geht es deutlich weniger um das literarische Werk als um die "privaten (d.h. die Geschlechts-)Teile" des Autors, der Vögeln als "Freizeitbeschäftigung wie Tennis und Badminton" begriff: "Wie andere seiner utopisch gesinnten Generation - man denke etwa an die üppige erotische Fauna des Bloomsbury-Kreises - war Wells ein Vertreter der freien Liebe und der offenen Ehe, insbesondere da seine zwei Ehen sich als sexuell öde erwiesen. Er war an jüngeren Frauen interessiert, oder sie waren es an ihm. Die 'jungfräulichen Töchter' seiner Kollegen in der sozialistischen Fabian-Bewegung waren eine spezielle Versuchung. Als Rosamund Bland sich für verfügbar erklärte, war auch Wells bereit, und zwar mit der zweifelhaften Begründung, dass auch ihr raubtierhafter Vater hinter ihr her sein: besser H.G. als Inzest."

Weitere Artikel: Pamela Paul schreibt einen Essay über die Revolutionäre des englischsprachigen Kinderbuchs von Maurice Sendak bis Dr. Seuss. Besprochen werden unter anderem noch Denis Johnsons Novelle "Train Dreams" und Roya Hakakians Rekonstruktion der vom Iran angeordneten Berliner Mykonos-Morde im Jahr 1992.
Archiv: New York Times

London Review of Books (UK), 22.09.2011

Rory Stewarts Eindrücke aus Libyen nach gelungener Revolution sind von besonderem Interesse - denn der konservative Tausendsassa-MP (Homepage) kann als Kriegszonenreisender die Lage mit der in Bosnien, Irak und Afghanisten aus eigener Anschauung vergleichen. Schlimmes hat er befürchtet und ist dann positiv überrascht: "Fürs erste erweist sich Libyen nicht als unberechenbar schlimm, sondern als unberechenbar gut. Nach fünfzehn Jahren Erfahrung mit Interventionen suchte ich nach bestimmten Hinweisen für ein Desaster... Aber auch nach 24 Stunden konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Lage keineswegs schlecht war: die Libyer waren begeistert und zuversichtlich, und mit Grund... Libyen sah nicht so schäbig oder gefährlich aus wie der Irak. Trotz sechs Monaten Kampf und Unsicherheit, waren die Rasen in Tripolis gemäht, die Bougainvilleas standen in Blüte und der Müll war in Mülltüten und nicht in schwärende Gräben gekippt wie in Basra. Die Läden und Tankstellen öffneten wieder, die Wasserversorgung stabilisierte sich. Die bewaffneten 15-Jährigen waren höflich. Keiner an irgendeinem der Checkpoints verlangte Bestechungsgelder oder unsere Satellitentelefone."

Weitere Artikel: James Meek warnt vor der schleichenden Privatisierung des britischen "National Health Service". Nach wie vor äußerst beeindruckend findet Jenni Diski die Studie des Psychologen Milton Rokeach über drei Männer, die sich für Christus halten (Titel: "The Three Christs of Ypsilanti"), die erstmals im Jahr 1964 erschien und nun wieder aufgelegt wird. Sadakat Kadri schüttelt den Kopf über die vielen schwerlich haltbaren drakonischen Urteile gegen die britischen Randalierer. Peter Campbell macht sich Gedanken über all die dunklen kleinen Häuser in London.

Le Monde (Frankreich), 16.09.2011

Der Streit um das Wort "Shoah" wird in Le Monde mit Engagement weitergeführt. Vor zwei Wochen hatte Claude Lanzmann protestiert, dass der Begriff aus den Schulbüchern zugunsten des neutraleren "aneantissement" (Vernichtung) gestrichen werden soll. Das Wort "Shoah" war durch Lanzmanns berühmten Film im Französischen so prägend geworden wie im Deutschen das englische Wort "Holocaust" durch die gleichnamige Fernsehserie. Serge Klarsfeld tritt Lanzmann in Le Monde zur Seite: "Wodurch sollte man das Wort ersetzen? Wessen 'Vernichtung'. Da muss man dazusagen 'der Juden'. 'Shoah' enthält wie die schwarzen Löcher im All, die die Materie und das Licht eines Sterns einsaugen, alles in sich. Man brauchte ein einzelnes Wort, um zu benennen, was passiert war. Dieses Wort existierte nicht im Französischen. Nur durch ein Kunstwerk konnte es geschaffen werden, das alle Strahlungen, die von Opfern und Tätern, allen Hass und alles Leiden in sich aufnahm."

Archiv: Le Monde

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.09.2011

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist in Ungarn eine ganze Reihe von erfolgreichen unabhängigen Theaterprojekten entstanden, die sich in einem ständigen Kampf gegen die Mandarine der etablierten Kulturszene befinden. Dies liegt auch an einem verpassten Generationenwechsel, der jüngeren Regisseuren wie dem Gründer des Kretakör-Theaters Arpad Schilling eine Position in den etablierten Theatern verwehrt hat. Dabei würde laut Schilling der ungarischen Kultur etwas mehr Wettbewerb durchaus guttun: "Eine Gesellschaft, die ihre eigene Kultur nicht als ein spannendes, mobiles, sich stets veränderndes Gebilde betrachtet, ist in einer Wettbewerbssituation zum Scheitern verurteilt. Von einer staatlich geförderten Kultur, die sich vom Gedanken der Konkurrenz abwendet, wird die bestehende gesellschaftliche Struktur scheinbar konserviert, in Wahrheit jedoch zerstört. Ohne Wettbewerb werden sich die nachfolgenden Generationen höchstens zu Verbrauchern entwickeln, zu echten Akteuren der Kultur jedoch nicht. Für die nachfolgenden Generationen ist der Widerstand eine identitätsstiftende, natürliche Tätigkeit. Heute müssen sie jedoch nicht nur dem von außen kommenden regulären Autokratismus widerstehen, sondern auch der von ihren Vorgängern geerbten Versuchung, sobald sie eine Position erhalten zu einem Despoten zu mutieren."

Teils als Antwort auf die aktuelle Finzanzkrise, teils als Reaktion auf das miserable Krisenmanagement der ungarischen Regierung, gehen etliche Intellektuelle in Ungarn wieder auf Distanz zum Kapitalismus. Der Wirtschaftswissenschaftler und frühere Chef des ungarischen Bankenverbands, Peter Felcsuti, hält ihre Kritik, die keine wirkliche Alternative aufzeige, für den falschen Weg: "Durch diese Art des 'naiven' Antikapitalismus wird jedoch gerade jenes gesellschaftliche Kapital verringert, welches das Land benötigt, um gegen die quälenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme erfolgreich anzukämpfen und damit das zu erreichen, was zusammenfassend als Anschluss an das Zentrum der westlichen Welt und als Modernisierung bezeichnet wird. Durch die aktuelle Krise und die Suche nach einem Ausweg wird jedoch die Erosion dieses ohnehin schon dürftigen gesellschaftlichen Kapitals noch weiter beschleunigt, was wiederum zu einer Abwärtsspirale führen kann: Ungarn wird vom Zentrum noch weiter abgetrieben und zu einer jahrzehntelangen Stagnation an der Peripherie verurteilt. Der feinsinnige 'Antikapitalismus' der Schriftgelehrten, das Träumen von einem 'postkapitalistischen Neusozialismus' trägt kaum zur Verbesserung dieser Lage bei."

Il Sole 24 Ore (Italien), 18.09.2011

Anna La Vigni empfiehlt einen von Riccardo Manzotti herausgegebenen Aufsatzband über "Situated Aesthetics". Wie auch immer man zur "externalistischen" Richtung der ästhetischen Theorie stehen mag, also der Überzeugung, dass wir Kunst nicht nur mit unseren Augen, sondern in einer Art erweiterten Fühl-Raum wahrhnehmen, La Vigni bringt ein paar ganz interessante Beispiele von Kunstwerken, die das ermöglichen. Zum Beispiel Alexitimia. "Sie hat eine weiche und zarte Haut. Sie spricht nicht, aber wenn sie berührt wird, dann reagiert sie. Sie ist keine Person. Es handelt sich um eine robotische Skulptur von Paula Gaetano Adi (2007): eine rundliche rosa Form, die von einer Schicht künstlicher Haut bedeckt wird. Eine Haut, die schweißnass wird, sobald eine liebkosende Hand auftaucht. Viele im Latex verborgene Drucksensoren registrieren die Berührung durch eine Hand und leiten einen Reiz an Mikrosteuerungselemente weiter, die wiederum kleinste Pumpen für die Wasser-/Schweißabsonderung aktivieren. Für denjenigen, der mit dem Kunstwerk interagiert, ist es eine ungewöhnliche ästhetische Erfahrung, die kein rigides Konzept mit sich bringt, sondern eine unmittelbare und intime Erfahrung mit der Umwelt erlaubt. Auch wenn sie wissen, dass hier ein Robotermechanismus vorliegt, sind die Besucher doch gefangen von der Emotionalität Alexitimias."
Archiv: Il Sole 24 Ore
Stichwörter: Wasser, Latex

Polityka (Polen), 19.09.2011

Justyna Sobolewska eruiert, hier auf Deutsch, welchen Stand die polnische Literatur auf den internationalen Buchmärkten hat, und kann beachtliche Erfolge melden: "Heute ist die polnische Literatur Teil der internationalen Literatur, und Schriftsteller sind nicht nur deshalb interessant, weil sie aus Polen stammen. Dennoch scheint unser Gebiet Europas noch immer attraktiv zu sein. 'Polentum ist nicht mehr so wichtig. Pilch und Stasiuk sind genauso Schriftsteller wie Saramago oder Houellebecq, und so werden sie auch wahrgenommen', so Bill Johnston, der in Amerika zeitgenössische polnische Autoren übersetzt."
Archiv: Polityka

Times Literary Supplement (UK), 16.09.2011

Angus Trumble hat die autobiografischen Essays der Literaturkritikerin Terry Castle gelesen, die Susan Sontag einmal als die 'ausdrucksstärkste und erhellendste' aller KritikerInnen bezeichnet hat. Die Wirrungen ihres akamdemischen und (homo-)sexuellen Lebens beschreibt Castle schonungslos, wie Trumble feststellt: "Und schlussendlich erfahren wir von der schmerzhaften Affäre mit 'der Professorin' in all ihrer trostlosen Unvermeidbarkeit. Wir hören von grausamen Gedankenspielen und fürchterlichem Verhalten, das beschämende Spektakel jugendlicher Lust und, natürlich, Lust im mittleren Alter, von Panikattacken in Abschlussprüfungen und der geladenen Waffe, die 'die Professorin' in ihrer Nachttischschublade verwahrte, 'um sie beim Sex rauszuholen und zu betrachten' und von den harten Lektionen danach."

Die Historikerin Jane Caplan ist beeindruckt von Ian Kershaws neuen Buch "The End", in dem der britische Hitler-Biograf die letzten Tage des Dritten Reichs untersucht. Kershaws Buch ist eine Mentalitätsstudie der politischen Macht: "Im Großen und Ganzen handelt es sich um eine unglaublich ambitionierte Suche nach den Motiven für das ungebrochene 'Überleben' in jeglichem Wortsinn. Obwohl dieses Buch nicht unter der Frage geschrieben wurde, wie der Krieg endete, sondern warum er nicht endete, ist diese Studie nicht im Geist des Gegenbeweises entwickelt worden. Vielmehr entfaltet Kershaw, der Meister der multifaktischen Erklärung, diese Frage und nimmt uns tief mit hinein in die Strukturen des Nazi-Regimes und deren Einfluss auf Machthaber und Untergebene."
Stichwörter: Sontag, Susan, Kershaw, Ian

Prospect (UK), 24.08.2011

Tpyisch neurussisch, aber dann auch wieder nicht, scheint das große Projekt der Wiederherstellung der St. Petersburger Insel "Neu-Holland". Einst berühmt für ihre großen Speicher, verfiel dieser Teil der Stadt seit dem 19. Jahrhundert. Ein erster Plan zur Wiederherstellung unter Leitung von Sir Norman Foster scheiterte, jetzt aber hat ausgerechnet der Oligarch Roman Abramowitsch tief in die Portokasse gegriffen und spendiert rund 300 Millionen Euro, nicht zuletzt, um der Kunst eine Stätte zu bieten. Shaun Walker hat sich vor Ort umgesehen: "Im Juli wurde Neu-Holland das erste Mal in Teilen wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Hauptteil mit den Speichern ist noch geschlossen, aber es gibt bereits einige vorläufige Ausstellungen und eine begrünte Fläche zum Spielen oder Herumhängen. Ein Restaurant und ein Cafe haben in einem früheren Gefängnis eröffnet, einem dreistöckigen Gebäude in Form eines Schwimmreifens. Fünfzehntausend Besucher wollten das am Eröffnungswochenende sehen. Nicht in erster Linie Touristen, sondern Petersburger, die unbedingt einen ersten Blick darauf werfen wollten. Tausende hinterließen auf Postkarten ihre Meinung zu den acht zur Auswahl stehenden Entwürfen für den Neuaufbau der Insel."
Archiv: Prospect

Clarin (Argentinien), 16.09.2011

Andres Hax unterhält sich mit dem New Yorker Politologen John Grouard Mason, der gerade als Teilnehmer eines von Le Monde Diplomatique organisiserten Symposiums über den arabischen Frühling zu Besuch in Buenos Aires ist. Auf die Frage nach einer linken Bewegung in den USA, antwortet er: "In den letzten zwanzig, und ganz besonders in den letzten zehn Jahren, ist innerhalb der Demokratischen Partei, aber auch außerhalb von ihr, eine feste progressive Gruppierung entstanden. Wir nennen uns die Netroots. Obama hat all diese Leute für seine Wahlkampagne benutzt. Kaum war er zum Präsidenten gewählt worden, hat er uns aber wie eine heiße Kartoffel fallen lassen und alle Verbindungen zu uns abgebrochen. Da haben wir gezeigt - Move On hat gezeigt, True Democracy hat gezeigt -, dass wir ein alternatives mediales Universum schaffen können, das stark auf dem Internet, auf Youtube etc. beruht... Natürlich kann man, da unser Netz im Internet funktioniert, unsere Spuren genau verfolgen, mithilfe von Facebook und Google kann man genau sehen, wer mit wem in Verbindung steht etc. - sie wissen alles über uns. Vorläufig mache ich mir deshalb aber noch keine Sorgen - uns steht nun mal kein anderes Werkzeug zur Verfügung. Wenn es ganz schlimm kommt, springe ich eben ins Auto und fahre über die Grenze nach Kanada oder steige ins nächste Flugzeug nach Frankreich..."
Archiv: Clarin

Vanity Fair (USA), 01.10.2011

Wochenlang hat die 20-jährige Zugbegleiterin Huang Yun ihr "Acht Zähne Lächeln" geübt, eine andere junge Frau hat sich um 4 Uhr morgens für Tickets angestellt, damit Simon Winchester und sein Fotograf Rob Howard am 30. Juni um Punkt drei Uhr nachmittags von der Rainbow Bridge Station in Schanghai mit dem ersten CRH380A-Zug in 4 Stunden und 48 Minuten nach Peking fahren können. Jetzt steht Winchester auf dem Bahnsteig: "Ich habe wahrscheinlich in meinem ganzen Leben nie einen so sauberen und schimmernden Berg von Titanweiß gesehen - eine pfeilgerade Röhre von glänzend polierten Abteilen, mit einem langen Brausen von getönten Fenstern und einem Streifen aus leuchtendem Blau darunter - der den gesamten Bahnsteig entlang reichte, soweit das Auge sehen konnte. Außerhalb jeder offenen pneumatischen Tür stand eine junge uniformierte Frau mit vor sich gefalteten Händen, die breit und selbstbewusst lächelte. Das ist Eisenbahn-Majestät, schienen die Frauen unisono zu sagen. Das ist Chinas Zukunft. Willkommen an Bord." Die große Frage ist: Ist der Zug - der zum großen Teil auf kopierter Siemenstechnik beruht - so gut wie ein japanischer? Die Antwort ist, wie einige spätere Ereignisse belehren, nein. Und das hat hausgemachte chinesische Gründe.
Archiv: Vanity Fair
Stichwörter: Eisenbahn

New Yorker (USA), 26.09.2011

Susan Orlean porträtiert Modeikone Jean Paul Gaultier, dessen Enthusiasmus für gewöhnliche Dinge sie ganz unfranzösisch findet. An seinen wichtigsten Kollektionen, erfahren wir, war seine Großmutter schuld: "Heute ist es üblich, den Träger eines BHs oder ein Dessous-ähnliches Top zu sehen, aber in den frühen Achtzigern war es dies nicht. Unterwäsche wurde als antifeministisch und unterwerfend verteufelt und nicht gezeigt, wenn sie überhaupt getragen wurde. Aber das Korsett seiner Großmutter und ihr aufwändig gesäumter BH erschienen Gaultier eher grandios als einengend, wie eigentlich jedes Stück Kleidung, das die Idee von Körper und Fleisch vermittelt, besonders wenn es die üblichen Geschlechterideen durcheinander bringt - und das obwohl die Mode zu jener Zeit von einer neuen Gruppe von japanischen Designern beherrscht wurde, wie Yohji Yamamoto und Rei Kawakubo, deren intellektuelle, architektonische Kleidung, wenn überhaupt etwas, dann anti-körperlich und geschlechtsneutral war. Dann kam eine von Gaultiers Angestellten mit einem Chanel-Jackett zur Arbeit, aufgeknöpft, über nichts als einem Spitzen-BH, was ihn daran erinnerte, wie seine Großmutter in Unterwäsche herumlief. Er beschloss, Kleidung zu entwerfen, die eine Ausarbeitung ihrer Dessous waren. In einigen Fällen vergrößerte er die Körbchen des BHs, so dass sie wie umgedrehte Eiswaffeln aussahen oder afrikanische Fruchtbarkeitsschnitzereien."
Archiv: New Yorker