Magazinrundschau

Das Baby ist geboren!

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.02.2011. In Newsweek begrüßt Gameela Ismail die Geburt des ägyptischen Selbstbewusstseins. Die chinesische Zensur jagt Kaninchen, berichtet Rue89. Die LRB erzählt, wie Potemkin Productions funktioniert. In Chapati Mystery erklärt der Verleger Rakesh Khanna die Tamilen zu Spezialisten des Camp. Quaterly Conversation erliegt dem äußerst riskanten Erzählen des Nikolai Leskow. In El Pais Semanal begrüßt der Schriftsteller Chico Buarque die neuen Reichen in Brasilien. In Salon schaudert Jacek Dehnel zwischen mörderischen Bommeln und tödlichen Polstern eines Triester Familienmuseums. 

Newsweek (USA), 30.01.2011

Die Angst ist weg, stellen Babak Dehghanpisheh, Christopher Dickey und Mike Giglio fest, die über die Proteste in Kairo berichten. Gameela Ismail, die in letzter Sekunde zusammen mit anderen ihre Kinder aus einem Polizeiwagen befreien konnte, erklärt ihnen das so: "'Im Augenblick bin ich sehr optimistisch, aber ich habe Angst, dass die Dinge außer Kontrolle geraten. Mubaraks Partei wird nicht aufgeben. Sie werden die blutige Konfrontation suchen, wenn sie das Gefühl haben, die Macht zu verlieren. Aber die gute Sache ist andererseits: Das Baby ist geboren! Endlich, endlich haben die Menschen das Selbstbewusstsein, dass sie etwas Gutes tun können, dass sie ihren Ärger zeigen können, dass sie 'Nieder mit Mubarak' rufen können. Sie haben die Barriere der Angst durchbrochen - das Baby ist geboren. Wird es ein Mädchen sein oder ein Junge? Wird es an der Brust gesäugt werden oder mit Milchpulver ernährt? Wie werden wir es aufziehen? Auf welche Schule wird es gehen? Wir wissen es noch nicht. Aber das Baby ist geboren.'"
Archiv: Newsweek

New Republic (USA), 17.02.2011

Der iranische Publizist Abbas Milani möchte die Ägypter warnen und ermutigen: Im Iran gab es eine ähnliche Revolution. Und die ging nach hinten los. Heute "betont die Propagandamaschine des religiösen Regimes in Teheran hämisch die Ähnlichkeiten zwischen der iranischen Revolution 1979 und den Ereignissen im heutigen Ägypten. Sie erklärt schamlos den Aufstand in Ägypten zu einem Nachbeben der iranischen Revolution. Die Ägypter müssen diese Leute der Lüge strafen. Nicht nur für das Wohl Ägyptens. Seit mehr als einem Jahrhundert ist Ägypten ein führender Staat in der ganzen Region. Freiheit in Ägypten würde daher die iranischen Mullahs in die Defensive bringen. Der ägyptische Aufstand ist weit entfernt davon, die Ereignisse von 1979 zu wiederholen, er ist ein Cousin des iranischen Aufstands von 2009 - eine echte demokratische Revolte."

Eric Trager bewundert den aufscheinenden "unabhängigen Geist" in Kairo. Die Mubarak ergebene Polizei hat die Ägypter, nachdem sie sie zusammengeknüppelt hat, im Regen stehen lassen. Nach dem Motto: Guckt doch selbst, wer eure Häuser vor Plünderern bewacht, von denen es - Überraschung! - plötzlich ganz viele gab. "Statt die falsche Wahl zwischen Tyrannei und Chaos zu treffen, haben die Ägypter ihre Sicherheit in die eigene Hand genommen. Sie haben Gruppen gebildet, die die Nachbarschaft bewachen und lassen in ihren Häusern das Licht brennen, um die Straßen ausreichend zu beleuchten. Statt Angst zu haben, sind sie - vielleicht zum ersten Mal - ziemlich sicher, dass sie auch ohne Mubarak auskommen."
Archiv: New Republic
Stichwörter: Iranische Revolution

Rue89 (Frankreich), 30.01.2011

Rue89 berichtet, dass sich die chinesische Zensur neuerdings auch der erbitterten Kaninchenjagd widmet - im Internet. Anlass ist ein unter dem Pseudonym "Xiao Hong" ins Netz gestelltes Animations-Video über einen Haufen niedlicher und fügsamer Hasen, das viele Anspielungen auf chinesische Missstände des vergangenen Jahres wie den Skandal um mit Melanin verseuchte Milch oder die gewaltsamen Haus- und Wohnungsenteignungen durch Mitglieder der kommunistischen Partei enthält. "Das Filmchen endet mit einer drohenden Botschaft. Gegen Ende merkt man, dass die Hintergrundmusik sich ändert, die sanften Singstimmen weichen härterem Rock. Auch die Texte spitzen sich zu ... Die Botschaft ist klar und einfach: Das Kaninchen ist ein niedliches Tier, aber wenn es nervös wird, kann es beißen." Die chinesischen Behörden haben den Film vergangene Woche "harmonisiert", also für chinesische Nutzer im Netz gesperrt, auf YouTube ist er jedoch noch zu sehen:


Archiv: Rue89
Stichwörter: Rue89

Chapati Mystery (USA), 18.01.2011

Der in Chennai - dem früheren Madras - sitzende Kleinverlag "Blaft? übersetzt tamilische "Pulp Fiction? ins Englische und offeriert sie dem angelsächsischen Publikum. Ein bisschen gewöhnungsbedürftig sei das vielleicht schon, insbesondere für empfindliche literarische Mägen, räumt der in den USA aufgewachsene Verleger Rakesh Khanna im Interview ein: Unsere Sammlung "beginnt mit diesem 160-seitigen Roman von Indra Soundar Rajan, in dem die Giftschlangen und die Rinderstampeden und weit in die Vergangenheit reichende Verschwörungen und Schwarze Magie und abgeschnittene Zungen und verfluchte Schädel und brudermörderische Maharadschas und finstere lüsterne Kolonialisten und von Geistern Besessene und Leopardenangriffe erst der Anfang sind - es ist ein wenig, als äße man ein riesiges Hammelbein." Allerdings solle man, warnt Khanna, das indische Originalpublikum dieser Literatur keineswegs unterschätzen: "Ich denke, dass die tamilischen Autoren über den Camp-Faktor ihrer Texte völlig im Bilde sind - und wir machen uns deshalb auch nicht von oben herab über sie lustig. Die Leute im Westen halten sich manchmal in bizarrer Manier für erhaben über den Camp-Charakter der indischen Unterhaltungsindustrie, als glaubten sie, das indische Publikum erkenne die Albernheit der Filme und Bücher nicht. Ich glaube, ganz im Gegenteil, dass die Inder - und die Südinder ganz besonders - ein viel entwickelteres Verständnis von Camp haben als der Westen."
Archiv: Chapati Mystery

Elet es Irodalom (Ungarn), 28.01.2011

Seit Wochen läuft in der regierungstreuen Presse Ungarns eine Hetzjagd gegen liberale Philosophen, die angeblich Forschungsgelder zweckentfremdet hätten. In Deutschland haben Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin empört gegen diese Vorwürfe protestiert, die an den Haaren herbeigezogen seien. Der Philosoph Janos Kelemen sieht das genau so : "Sie sind autonom denkende, tolerante, für jede Meinung offene Intellektuelle ('Liberale') und daher besonders unbequeme Typen, wie es Philosophen aufgrund ihrer kritischen Haltung schon immer waren. Ihr Urahn ist der ironische, dialektische, verfolgte und zum Tode verurteilte Sokrates, der dem staatlichen Befehl folgend den Schierlingsbecher ausgetrunken hatte. Gerade von Agnes Heller hatten wir einst gelernt, dass die Geste des Sokrates vorbildlich für die philosophischen Haltung ist: Der Philosoph muss für seine Lehre mit seinem ganzen Wesen gerade stehen."

"Zuerst starb die Pressefreiheit in den Seelen", meint die Soziologin Maria Vasarhelyi, und nicht, wie man denkt, mit der Verabschiedung des neuen ungarischen Mediengesetzes. Dieses markiere vielmehr das Ende eines Krieges, der ungefähr genauso alt sei wie die dritte Republik in Ungarn. Dieser Medienkrieg habe Mitte der 90er Jahre begonnen - mit dem Abbau der demokratischen Öffentlichkeit, der Zerrüttung der beruflichen und moralischen Normen des Journalismus, der Einschüchterung und Zermürbung der Journalisten-Zunft - und gehe nun mit der totalen Niederlage der Pressefreiheit zu Ende. "Der Kampagne mit den leeren Titelblättern haben sich lediglich acht der mehreren hundert Medien angeschlossen [...] - die überwiegende Mehrheit der Verleger und Redakteure fand sogar diese zurückhaltende Form des Protests zu riskant. [...] 'Die Pressefreiheit, liebe Freunde, ist kein bloßer rechtlicher Zustand, sondern ein rechtlicher Zustand, der von freien Menschen geschaffen wird', schrieb Peter Nadas im Jahre 1998, und der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung wird durch nichts anderes so überzeugend bewiesen, als durch den heutigen, niederschmetternden Zustand der ungarischen Presse."

Nepszabadsag (Ungarn), 29.01.2011

Der ungarische Schriftsteller Mihaly Kornis hat in den letzten zehn Jahren jede Frage über Politik und Gesellschaft abgewiesen, sagt er im Interview mit Dora Matalin, aber jetzt will er nicht mehr schweigen: "Ohne Solidarität gehen wir zugrunde. Heute du, morgen ich, übermorgen - wer weiß, wie viele? Gegen jeden meiner weltberühmten Schriftstellerkollegen kann eine Hetzkampagne gestartet werden, wie jetzt gegen Agnes Heller, Mihaly Vajda und die anderen Philosophen. Renommiertere ungarische Denker gibt es übrigens nicht. Ihre Reputation kann man ihnen nicht nehmen - da versucht man wenigstens, ihr Ansehen hierzulande zu zerstören. Diese Hetze, die auf unhaltbaren Beschuldigungen basiert, ist kein bloßer politischer Fehler. Es ist, als würde man die Großmutter verprügeln. Ich sehe darin das erste schauprozessartige Vorgehen seit den siebziger Jahren, als auch ich im Fadenkreuz stand, und kann daher nicht gleichgültig bleiben. In einem Radiointerview sagte ich kürzlich, dass ich die demokratische Überzeugung der Regierung nicht in Frage stelle, solange ihre Taten dafür keinen Anlass geben. Wenn Unschuldigen schwere Vergehen zur Last gelegt wird, werde ich wissen, dass die Zeit der totalitären Autokratie wiedergekehrt ist. Nun ist sie da. Der Feldzug gegen die Philosophen lehrt uns, dass ab sofort jeder angegriffen werden kann, und das Publikum interessiert sich nicht für glaubwürdige Beweise."
Archiv: Nepszabadsag

Telerama (Frankreich), 28.01.2011

Thierry Leclere schildert in einer Reportage, was es im Tunesien unter Ben Ali hieß, ein Künstler oder Intellektueller zu sein. Neben dem Theater El Teatro, dessen Betreiber es vielen tunesischen Künstlern ermöglichten, "nicht zugrunde zu gehen unter diesem kulturverachtenden Polizeiregime und Bling-Bling" schreibt er auch über eine Buchhandlung in Tunis. "'Wir waren immer ein rebellischer Buchladen', erklärt Selma Jabbes. Ihre Mutter, die das Geschäft 1967 eröffnete, war der erste weibliche Buchhändler Tunesiens. Aber konnte man unter Ben Ali wirklich rebellisch sein? Ja, zumindest andeutungsweise. Ohne großes Spektakel. Ohne Lärm. Zum Beispiel in dreiundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal das Bild des Präsidenten-Diktators ins Schaufenster gehängt zu haben, ist bereits ein Zeichen für einen ziemlich starken Charakter." (Vaclav Havel sah das 1978 auch so.)
Archiv: Telerama

New Yorker (USA), 07.02.2011

Daniel Zalewski porträtiert den mexikanischen Regisseur, Filmproduzenten und Drehbuchautor Guillermo del Toro, der mit Horrorfilmen seinen Durchbruch schaffte und bei Tolkiens "Der kleine Hobbit" Regie führen sollte. Den Auftrag gab er jedoch wegen ständiger Terminverschiebungen ab und arbeitete nur noch am Drehbuch mit. "Del Tor, mit seiner überladenen Ästhetik, war schwerlich die naheliegende Wahl als Nachfolger von Jackson, der in seiner Trilogie Tolkiens mythologische Figuren in realistische Landschaften setzte - man machte sich Sorgen um Frodos pelzige Zehen, als er durch schweren Schnee stapfte. Del Toro meint, Jackson habe die Schlacht von Mordor mit der gleichen Genauigkeit nachgestellt wie die Schlacht von Galliopoli. Seinen eigenen Stil beschreibt Del Toro dagegen als eher 'opernhaft'. ... 'Ich war nie ein Riesenfan der Ring-Trilogie. Der Hobbit', meint er, 'ist viel weniger schwarz-weiß. Die Monster sind nicht mal böse, sondern charmant, lustig, verführerisch. Smaug ist ein irre aufgewecktes Kerlchen!'"

Weiteres: Joan Acocella porträtiert J. R. Ackerley, den homosexuellen britischen Autor und Redakteur der BBC-Sendung "The Listener". Sasha Frere-Jones schreibt über die Wandlungen der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey.
Archiv: New Yorker

El Pais Semanal (Spanien), 30.01.2011

"Das alte Brasilien verschwindet." Jesus Ruiz Mantilla interviewt den Musiker und Schriftsteller Chico Buarque, dessen neuester Roman "Leite derramado" die vergangenen zweihundert Jahre brasilianischer Geschichte als pessimistische Familiensaga erzählt: "'Auch Brasilien hat jetzt also seine Mittelschicht, und die will sich zeigen?' - 'Ja, erst gestern las ich eine Reportage über die - neuen - Reichen und die - alten - Superreichen im Bundesstaat Santa Catarina: Die Reichen gehen normalerweise an den Strand, die Superreichen dagegen bleiben in ihren Luxushotels, mit den bloß reichen neuen Reichen wollen sie nichts zu tun haben. Mir ist das neue Brasilien in jedem Fall lieber, es ist viel dynamischer. Seine Entstehung ist vor allem Lula zu verdanken. Und Dilma Rousseff setzt das fort. Diese Umwandlung der Gesellschaft erfolgte nach den Regeln des Kapitalismus, es ging darum, einen Wohlstand zu schaffen, der dann zu verteilen war. Manche Linke neigen vielleicht zu der Ansicht, dass das nicht menschlich genug abgelaufen ist, keiner kann jedoch bestreiten, dass es die intelligenteste Lösung war.'"
Archiv: El Pais Semanal

London Review of Books (UK), 03.02.2011

Der Brite Peter Pomerantsev berichtet von seinen Abenteuern als Programmleiter eines russischen Fernsehunternehmens mit dem schönen Namen Potemkin Productions. Er schildert höchst eindrücklich die Bestechungsrituale, deren Zeuge er wurde. Er berichtet, dass fast sämtliche Reality-Formate scheiterten, weil kein Zuschauer auch nur im entferntesten an ein Minimum Realitätsgehalt der Sendungen glaubte. Ebenfalls keine Chance hatten die Superstar-Shows, weil nämlich kein Mensch im aktuellen System Russlands offen seine Ambitionen zeigt: "Das Russland von heute belohnt denjenigen, der aus dem Schatten heraus operiert, den grauen Apparatschik, den Meister der Absprachen im Seitenzimmer - kurz gesagt: Leute wie Putin. Nach oben gelangt in einem solchen System derjenige, der sich zu erniedrigen weiß, der seinen Herrn zu preisen und ihm zu dienen versteht, der also - wie man in Russland sagt - ein holop (d.i. ein 'Speichellecker') ist. Klug und extrovertiert und ehrgeizig? Nicht, wenn du erfolgreich sein willst. Die Shows, die funktionierten, gründeten deshalb auch auf ganz anderen Prinzipien. Der bei weitem größte Erfolg, den wir hatten, war Posledny Geroi ('Der letzte Held'), eine Version von Survivor, eine auf Demütigungen und Leiden beruhende Show."

Weitere Artikel: Eric Hobsbawm liest ein Buch über die wahre Geschichte einer winzigen Gruppe Anfang der Dreißiger nach der Bibellektüre aus eigenem Entschluss zum Judentum konvertierter italienischer Dorfbewohner, die schlussendlich nach Israel auswanderten. Zwei Neuerscheinungen, die die Finanzkrise aus marxistischer Sicht analysieren, hat sich Benjamin Kunkel vorgenommen. Michael Wood hat im Kino das Western-Remake "True Grit" der Brüder Coen gesehen. Julian Stallabrass schreibt einen Nachruf auf den Kodachrome-Film.

Magyar Narancs (Ungarn), 20.01.2011

Mitte Januar ist in der Bild-Zeitung ein Interview mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban erschienen. "In unseren Medien war und ist die Verletzung der Menschenwürde tägliche Realität", sagt er darin und verunglimpft nach Meinung der liberalen Wochenzeitschrift Magyar Narancs die ganze ungarische Presse: "Das würde doch heißen, dass es in Ungarn keinen verantwortungsbewussten Journalismus gibt, dass eine fachlich fundierte Kritik an Orbans Wirken undenkbar ist, dass die Presse nicht mit Experten, sondern mit Beleidigungen arbeitet, dass Journalisten allesamt ein schreckliches Pack sind, die gedrillt werden müssen. Das ist aber nicht wahr."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Orban, Viktor

Point (Frankreich), 27.01.2011

In seinen Bloc-notes erklärt Bernard-Henri Levy, weshalb er den Boykott-Aufruf gegen Israel für eine "Schweinerei" hält. "Zunächst einmal: Man boykottiert totalitäre Regimes, nicht Demokratien. Man kann den Sudan boykottieren, weil er einen Teil der Bevölkerung von Darfur ausgerottet hat. Man kann China boykottieren, das sich in Tibet und anderswo massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat ... Aber man boykottiert nicht die einzige Gesellschaft des Nahen Ostens, wo die Araber eine freie Presse lesen, demonstrieren können, wenn sie wollen, Abgeordnete ins Parlament schicken und sich ihrer Bürgerrechte erfreuen können ... Man boykottiert nicht, gleichgültig was man über seine Regierungspolitik denkt, das einzige Land in der gesamten Region ... dessen Wähler die Macht haben, die Position ihrer Regierung zu sanktionieren, ihr eine andere Richtung zu geben oder sie zu kippen."
Archiv: Point

New York Times (USA), 30.01.2011

In seinem Vorwort zum NYT-e-Book über Wikileaks, "Open Secrets: Wikileaks, War and American Diplomacy", erzählt Chefredakteur Bill Keller sichtlich angewidert von den Zumutungen an einen Gentlemanjournalisten, der - um den größten Coup in der Geschichte des Journalismus zu landen - mit einem schmuddeligen, großmäuligen Mann wie Julian Assange zusammenarbeiten muss. Assange war kein Partner oder Mitarbeiter, sondern eine "Quelle", wie Keller mehrfach betont. Und die fasst man nur mit spitzen Fingern an, um sie zu veredeln: "Deine Pflicht als unabhängige Nachrichtenorganisation ist es, das Material zu überprüfen, den Kontext zu liefern, verantwortungsbewusste Entscheidungen darüber zu treffen, was veröffentlicht wird und was nicht, und der Sache einen Sinn zu geben. Genau das haben wir getan. Aber auch wenn ich Assange nicht als Partner betrachte und zögern würde, das, was Wikileaks tut, als Journalismus zu bezeichnen, ist es erschreckend, sich Wikileaks angeklagt vorzustellen, weil sie Geheimnisse öffentlich gemacht haben, ganz zu schweigen von der Verabschiedung neuer Gesetze, um die Verbreitung als geheim eingestufter Dokumente bestrafen zu können, wie es manche vorschlagen." Das könnte am Ende noch den blütenweißen Arsch der NYT gefährden.

Die ägyptische Autorin Mansoura Ez-Eldin erzählt, wie brutal die Polizei gegen die Demonstranten in Kairo vorgeht. Und nicht nur in Kairo: "Seit Tagen ist Tränengas der Sauerstoff, den die Ägypter einatmen. ... Die Sicherheitskräfte in Kairo haben angefangen Gummigeschosse auf die Demonstranten abzufeuern, bevor sie scharf schossen und Dutzende töteten. In Suez, wo die Demonstrationen sehr gewalttätig endeten, wurde vom ersten Tag an scharf auf Zivilisten geschossen. Ein Freund, der dort lebt, schickte mir eine Botschaft, wonach die Stadt am Donnerstag morgen aussah wie nach einem brutalen Krieg: Die Straßen waren niedergebrannt und zerstört, Leichen lagen überall. Wir werden nie erfahren, wieviele Menschen den Polizeikugeln in Suez zum Opfer fielen, erklärte mein Freund feierlich."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Assange, Julian

Guardian (UK), 31.01.2011

Auch die Guardian-Reporter David Leigh und Luke Harding haben ein Buch über Wikileaks geschrieben, "Wikileaks. Inside Julian Assange's war on secrecy". Alan Rusbridgers Einführung ist um ein Grad wärmer gegenüber Assange als Bill Keller, jedes freundliche Wort ist allerdings ein Zitat von anderen. An der Bedeutung von Wikileaks lässt Rusbridger keinen Zweifel: "Wikileaks und ähnliche Organisationen scheinen mir generell bewundernswert zu sein in ihrer einzigartigen Auffassung von Transparenz und Offenheit. Bemerkenswert ist, dass uns der Himmel nicht auf den Kopf fiel, trotz der wirklich erstaunlichen Menge an Informationen, die in den letzen Monaten veröffentlicht wurden. ... Urteilt man nach der Reaktion von Ländern, die nicht die Wohltat einer freien Presse genießen, dann gibt es einen beachtlichen Hunger nach Informationen aus diesen Depeschen - ein Hunger, der dem wissenden Gähnen großstädtischer Weltmänner, die darauf bestehen, dass die Depeschen uns nichts Neues erzählen, diametral gegenüberstehen. Statt einer reflexhaften Flucht in mehr Sicherheit könnte dies die Gelegenheit sein, die Vor- und Nachteile erzwungener Transparenz zu analysieren."

Der Guardian kartografiert verschiedenste Stimmen des arabischen Frühlings, Schriftsteller, Journalisten, Blogger, die alle auf die Revolten in Tunesien und Ägypten reagieren: Der ägyptische Blogger Alaa Abd El Fatah sieht eines klargestellt: "Die arabische Welt war nicht so stagnierend oder apathisch, wie alle glaubten." In Marokko jubiliert die Schriftstellerin Laila Lalami: "Welch Freude ist es, in diesem Moment zu leben!" Der palästinensische Dichter Tamim Al-Barghouti ahnt Verwicklungen: "Ramallah fürchtet, dass ein erstarktes Kairo ein erstarktes Gaza bedeutet, und Tel Aviv und Washington wissen, dass sie nicht nur den Iran fürchten müssen, sondern auch Irak, Syrien, Libanon und Palästina auf einmal." Bedrückte Stille dagegen im Libanon, notiert die Autorin Joumana Haddad: "Was bleibt? Der Terror, die Unsicherheit, die Drohungen, die Spaltungen und mehr und mehr die drohende Gefahr eines neues Bürgerkriegs."

Weiteres: Der Historiker Antony Beevor fasst angeregt Simon Sebag Montefiores Geschichte Jerusulams zusammen: "ein fesselnder Bericht von Krieg, Verrat, Plünderung, Vergewaltigung, Massaker, sadistischer Folter, Fanatismus, Fehden, Verfolgung, Korruption, Heuchelei und Spiritualität." Ursula K Le Guin findet den Surrealismus in Roberto Bolanos neu ins Englische übersetzten Roman "Monsieur Pain" zwar etwas altmodisch, ist aber von der "politischen und moralischen Dringlichkeit" des Romans sehr eingenommen: "Seine quälende Methode, sich dem Unaussprechlichen zu nähern, enthüllt das Gesicht des Bösen, ohne es zu verherrlichen." John Banville lobt John Gray für seine Geschichte der Unsterblichkeitsfantasien "The Immortalization Commission" als "Kenner menschlicher Idiotie". Steve Poole liest ohne rechte Überzeugung Evgeny Morozovs "The Net Delusion": Kann schon sein, dass der Cyber-Utopismus zu optimistisch ist, aber Morozovs Sicht auf die Menschen findet Poole definititv zu negativ.
Archiv: Guardian

Eurozine (Österreich), 31.01.2011

Dürfen Journalisten ihre eigene Geschichte werden? Die mexikanische Reporterin Lydia Cacho denkt über die Rolle investigativer Journalisten nach, die durch ihre Prominenz korrumpiert oder gefährdet werden können, aber auch geschützt. Ihre eigene Berühmtheit sieht Cacho so: "Vor sechs Jahren wurde ich von einem Mafiaclan, der mit Minderjährigen und Kinderpornografie handelte, gefangen gehalten und gefoltert. Die mexikanischen Medien riefen: 'Eine Frau stellt sich der Mafiamacht entgegen!', als wäre das eine Überraschung. Aber dank ihrer Reaktionen, sah die Gesellschaft hin und hörte mir zu, und viel wichtiger noch, sie reagierte und forderte Gerechtigkeit für die Hunderte von Kindern, die Opfer von Sextourismus und Kinderpornografie wurden. Die Abgeordneten schufen neue Gesetze zum Schutz der Kinder, und als ich von Beleidigungsvorwürfen freigesprochen war, applaudierten mir Frauen auf der Straße, junge und alte, und umarmten mich. Sie hielten mich auf Plätzen an, um mir zu gratulieren, dass ich sie daran erinnerte, dass die Wahrheit Macht hat - das habe auch Frauen, die sich weigern, sich einer machistischer Gewalt zu unterwerfen."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Kinderpornografie

Merkur (Deutschland), 01.02.2011

Der Mensch sollte sich nicht von der Ökonomie ablenken lassen, meint der Schriftsteller und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler. Wenn er verhindern will, dass er "ausgeknipst" wird, muss er die Technik im Blick behalten: "Technik bedeutet Ausschluss von Sinn. Eine technische Welt in der engeren Abgrenzung funktioniert ohne jeden Rückgriff auf Sinn und auf Handelnde, für die allein etwas Sinn macht oder nicht: Darin besteht die Wirkmächtigkeit einer technischen Welt: Mit dem Sinn ist auch jedes denkmögliche Problem aus dieser Welt eliminiert. Für die Technik gibt es nur eine Art von Desaster: Sie funktioniert nicht. Ob eine Technikkatastrophe auch eine solche für Mensch und Umwelt bedeutet, ist aus Sicht der Technik nicht nur nachrangig, sondern völlig irrelevant. Der Trick der Technik besteht darin, sich als Mittel zu beliebigen Zwecken anzubieten. Die Ökonomie akzeptiert das Angebot bereitwillig."

Außerdem: Dietmar Voss beschreibt, wie aus der patriarchalen Bio-Macht, die gemäß Foucault "sterben macht und leben lässt", eine "mütterliche" Biopolitik geworden, die "leben macht und sterben lässt" und den gesellschaftlichen Gattungskörper hegt und pflegt. Und Horst Meier stellt klar, dass der Pazifismus dem Grundgesetz nicht eingeschrieben ist.
Archiv: Merkur

Salon.eu.sk (Slowakei), 27.01.2011

Triest ist eine melancholische Stadt, schreibt Jacek Dehnel in Polityka (von salon.eu.sk ins Englische übersetzt). Ein Beweis dafür sind ihm die vielen finsteren Familienmuseen, die reiche Kaufleute hinterlassen haben. "Dunkle Teppiche, düstere Ebenholzmöbel mit Messingbeschlägen, gigantische Kandelaber, Kamine aus Porphyr mit Glashauben, unter denen die Uhren lange aufgehört haben zu ticken. 600 Meter lange Hallen. Das Musikzimmer, in dem jeder Zoll Wand mit dunklen neogothischen Vertäfelungen überzogen ist. Das Herrenzimmer: ein schwarzer Schreibtisch umgeben von schwarzen Stühlen mit schwarzen Überzügen über den Armlehnen, mit einer dunklen Wand und düsteren Vorhängen, die von einer schwarzen Schiene herabhängen. Das Damenzimmer dekoriert in Babyblau und Weiß, ganz gefällig auf den ersten Blick, mit Spiegeln und Porzellanvasen - aber wenn man näher hinsieht, ist jede Farbe gebrochen und alles ist mit einer dicken Schicht von Traurigkeit überzogen. Alles riecht nach nach Rauch und Verfall. Getrennte Ehebetten. Porträts von geisterhaften, körperlosen Verwandten. Mörderische Bommeln an den Vorhängen, tödliche Polster auf den Armlehnen, jedes Möbelstück ist offensichtlich mit Arsen getränkt."
Archiv: Salon.eu.sk

Quarterly Conversation (USA), 06.12.2010

Als "großen Unbekannten" unter den bedeutenden russischen Autoren des 19. Jahrhunderts bezeichnet David Auerbach Nikolai Leskow. Nach der Lektüre der ins Englischen übersetzten Texte dieses Prosaisten hält er ihn für einen Meister, allerdings nicht der Psychologie, sondern des aufs äußerste riskanten Erzählens. Am großartigsten findet Auerbach die Erzählung "Der verzauberte Pilger", deren Held ein junger Mann namens Iwan ist, der von seinem Weg in den Schoß der russisch-orthodoxen Kirche erzählt: "Leskow scheint es darauf angelegt zu haben, seine Figur einfach in die verrücktesten Abenteuer hineinzusetzen, die ihm nur einfallen wollten, und zu sehen, wie dieser merkwürdige Stoiker mit ihnen umgeht... In mindestens zwei Dutzend unverbundenen Episoden, manche kaum mehr als ein, zwei Seiten lang, geschieht etwa dies:
- Iwan wird zum Kindermädchen für Frau und Kind eines Landbesitzers. Der Liebhaber der Frau bringt ihn dazu, sie und das Kind mit ihm entkommen zu lassen...
- Iwan flieht vor dem Gesetz in die Tartarische Steppe, wo ihn die Tartaren festsetzen, indem sie ihm schmerzhafte Borsten in seine Hacken einnähen. Er verbringt da zehn Jahre, mit mehreren Frauen und Kinder, und flieht dann.
- Iwan wird von seinem Alkoholismus geheilt, und zwar durch einen mysteriösen Magnetiseur, der ihn durch eine Folge bizarrer Alpträume begleitet.
- Ein anderer von Iwans Herren kauft ein Zigeunermädchen und hält sie in einer Hütte gefangen. Sie flieht und bittet Iwan, sie umzubringen, was er tut, allerdings fühlt er sich furchtbar schuldig und bemüht sich (vergebens), im Krieg sein Leben zu geben.
Und so geht das weiter und weiter, die ganzen 150 Seiten dieser Geschichte."