Magazinrundschau

Eine Art Bauchrednerei

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
17.08.2010. Dawn beklagt die Unfähigkeit der politischen Klasse in Pakistan. In der LRB erklärt Colm Toibin, wie man gleichzeitig wissen und nicht wissen kann, dass man schwul ist. In Eurozine erklärt der Historiker Faisal Devji, warum Osama bin Laden nie über die Rolle des Nachahmers westlicher Kritiker hinausgekommen ist. Der Figaro wartet auf den neuen Roman von Michel Houellebecq.

Dawn (Pakistan), 15.08.2010

"Mitten in der zweiten Woche nach der Flutkatastrophe bleiben die Spenden, die in die Hilfskasse des Premierministers geflossen sind, ein Almosen. Unter den wenigen großzügigen Spendengebern befindet sich ein vom Tellerwächser zum Millionär aufgestiegener Politiker, der eine Woche früher wahrscheinlich genauso viel für ein Hochzeitsfest in einem vornehmen Hotel in Dubai ausgegeben hat", schreibt Kunwar Idris. Das beweist ihm vor allem eins: Wie heruntergekommen die politische Klasse Pakistans ist. "Die Nation scheint ihre Seele verloren zu haben. Ihre gewählten Repräsentanten haben jetzt keinen Diktator mehr, den sie verfluchen können, und sie können auch keinen 'blockierenden' Richter verantwortlich machen. Sie halten lange Predigten, haben aber nicht das moralische Rückrat, eine Nation in der Krise zu inspirieren. Nur die Soldaten und einige Dschihadisten helfen den Menschen in Not. Die linken und die Mainstream-Parteien sind nirgends zu sehen."
Archiv: Dawn
Stichwörter: Dschihadisten, Dubai

London Review of Books (UK), 19.08.2010

In einem langen Essay, der als Besprechung von Angelo Quattrocchis Buch "Der Papst ist nicht schwul" daherkommt, untersucht der schwule irische Schriftsteller Colm Toibin die psychosexuellen Strukturen der katholischen Kirche. Er erklärt, warum es für viele "sexuell verwirrte" männliche Jugendliche die eleganteste Lösung war, Priester zu werden. Und er berichtet durchaus aus eigener Erfahrung, unter anderem in Erinnerung an einen Workshop für zukünftige Priester, an dem er sechzehnjährig 1971 teilnahm. "Dass man schwul war, war etwas, das einem über sich selbst zugleich zu wissen und nicht zu wissen gelang. Ich bin mir zum Beispiel fast sicher, dass ein Priester, der mich in der Schule vor einem Jungen mit Mittelscheitel warnte (ein klares Zeichen für Homosexualität - und das war das einzige Mal, dass das Wort fiel), selbst keine klare und offene Vorstellung davon hatte, dass er selbst Jungs im Teenageralter begehrte. (Mehr als zwanzig Jahre später kam er wegen Missbrauchs ins Gefängnis.) Er hatte, da bin ich sicher, die in der Adoleszenz, und mit guten Gründen, erlernte Fähigkeit, manche seiner Handlungen und Wünsche vor sich selbst zu verbergen. Seine Macht und seine Stellung würden auch bedeuten, dass die von ihm begangenen Verbrechen niemals ans Tageslicht kommen würden. Das Priesteramt hatte, so musste er das sehen, diese Probleme für ihn gelöst."

Weitere Artikel: Andrew O'Hagan kommentiert die Veröffentlichung der geheimen Afghanistan-Papiere durch WikiLeaks. Neal Ascherson bespricht Adam Sismans Biografie (Verlagsseite) des eminent öffentlichkeitswirksamen britischen Historikers Hugh Trevor-Roper und Melissa Danes hat mit einigem Missvergnügen Christos Tsiolkas' viel gefeierten Roman "The Slap" gelesen. Peter Campbell besucht die Alice-Neel-Ausstellung "Painted Truths" in der Whitechapel Gallery.

Nepszabadsag (Ungarn), 14.08.2010

Am 16. Juli hat das russische Unterhaus eine Gesetzesänderung verabschiedet, wonach derjenige, der verdächtigt werden kann, in ein künftiges Verbrechen (z.B. Terrorakt) verwickelt zu werden, vom Inlandsgeheimdienst FSB im Rahmen einer prophylaktischen (!) Vorladung offiziell verwarnt werden muss. Der ungarische Literaturkritiker Akos Szilagyi bewertet die Einführung des juristischen Begriffs "Precrime" als ersten Schritt hin zum Polizeistaat: "Der quasi Rechtsbegriff 'Precrime' und dessen quasi Sanktionierung - auch wenn diese Sanktion noch so sanft ist - ist im Grunde nichts anderes, als das 'Vorverbrechen' des Rechtsstaats. Das Verbrechen selbst wäre nach diesem Muster die Verwirklichung der Polizeistaatlichkeit. Damit stellt sich aber die Frage: Welche wirksamen Mittel sind vorhanden, um den Staat als potenziellen Verbrecher auf dem Weg zum Verbrechen aufzuhalten?"
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Rechtsstaat, Polizeistaat

Eurozine (Österreich), 09.08.2010

In einer interessanten Analyse der Rhetorik von führenden Al-Qaida-Kadern erklärt der in Oxford lehrende Historiker Faisal Devji, warum Osama Bin Laden der ultimative Insider ist. Der Essay wurde im aktuellen Transit-Magazin abgedruckt. Auf Deutsch darf man ihn nicht lesen, aber auf Englisch hier bei Eurozine. "Als Prominenter ist bin Laden natürlich ein Teil des Westens, den er kritisiert. Da kann er noch so auf seiner ausländischen Herkunft oder seinen fremdartigen Überzeugungen herumreiten, er kommt da nicht raus. Osama bin Laden selbst ist sich seiner Insider-Rolle durchaus bewusst, nicht zuletzt weil die Worte, mit denen er Amerika attackiert, von Kritikern wie Noam Chomsky und Michael Scheuer stammen. Während er selbst kein Sozialist oder Liberaler ist, übernimmt bin Laden die antikapitalistische und antielitäre Haltung dieser Figuren, um seine Opposition zum Westen auszudrücken. Seine Kritik des Westens ist immanent, darüber hinaus aber eine Art Bauchrednerei, in der der Terroristenprinz durch die Münder von Amerikanern spricht und nicht in seinem eigenen Namen. An sich ist diese Verwertung vorgegebener Positionen nicht seltsam, die Sprache der meisten europäischen und amerikanischen Politiker besteht daraus. Aber im Fall von Osama bin Laden verdeutlicht es, dass er keine Position außerhalb der Welt seiner Feinde besitzt."
Archiv: Eurozine

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 13.08.2010

Die Informatikerin Constanze Kurz schildert, wie die durch eine verbesserte Kamera-Überwachung ermöglichte lückenlose Speicherung und Analyse von biometrischen Daten der Menschen, die sich in öffentlichem Raum bewegen, nun entscheidend beschleunigt werde durch die Vernetzung der Kameras über das Internet zu "zentralen Auswertungsknoten": "Die ursprünglich vorhandene Trennung in viele kleine Verantwortungs- und Überwachungsbereiche entfällt, der gefürchtete Big Brother entsteht aus der technologiegetriebenen Kombination der vielen einzelnen elektronischen Augen zu einer universellen, flächendeckenden Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse und menschlichen Verhaltensmuster." Verschlimmert wird das Ganze durch den immer billigeren Speicherplatz: "Während bis vor wenigen Jahren Aufnahmen nur kurze Zeit aufbewahrt und nicht vollständig ausgewertet werden konnten, steuern wir auf eine Zukunft zu, in der das einmal Aufgezeichnete nie wieder weggeworfen werden muss. Vor kurzem konnte man sich noch einreden, dass der Überwacher hinter den Monitoren sowieso nicht hinschaue. Jetzt wird dessen Aufmerksamkeit durch eine Software gelenkt, die auf alles reagiert, was nicht ins Muster des braven, shoppenden Bürgers passt."

Außerdem klärt Misha Glenny über die generelle Tendenz in diversen nationalen Verteidigungsstrategien auf, den Cyberspace als "fünften Schauplatz des Krieges" zu betrachten. Er berichtet, dass nach dem Konflikt zwischen Google und der chinesischen Regierung im Januar diesen Jahres die USA sowie die NATO nun verstärkt die Cybersysteme und Abwehrprogramme ihrer "wichtigsten Rivalen" (seien sie staatlich oder nicht) ausforschten. Es gelte, ein "Cybergeddon" zu verhindern.

Spectator (UK), 14.08.2010

Alles hängt und drängt zur Stadt, stellt Doug Saunders fest. Und das ist gut so. Die wichtigste Kraft im 21. Jahrhundert seien nämlich weder Kriege noch Rezession noch der Klimawandel, sondern die Urbanisierung. Nach UN-Schätzungen werden 2050 zwei von drei Menschen in Städten leben. "Warum ist es wichtig, jetzt darüber nachzudenken? Denken wir doch mal an die Folgen, zum Beispiel im Hinblick auf die Entwicklungshilfe. Wenn wir arme Länder mit Hilfsgeldern versorgen, damit Dorfbewohner weiterhin Subsistenzfarmer bleiben, so wie das viele Wohlfahrtsorganisationen und Regierungsbehörden gerade tun, dann machen wir einen furchtbaren Fehler. Das Landleben ist nicht romantisch. Das Leben auf dem Land ist der größte Menschenvernichter der Gegenwart, die größte Quelle von Unterernährung, Kindersterblichkeit und vorzeitigem Tod. Es kann sein, dass urbane Armut eine Mutter zwingt, ihr Kind auf die Straße zu schicken, damit es sich als Verkäufer verdingt, auf dem Land wird dieses Kind an Hunger sterben. In der Stadt verhungern generell kaum Menschen. Die Einkommen der Stadtbewohner sind überall höher, oft um eine Vielfaches, der Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wasser, Abwasserreinigung wie auch Kommunikation und Kultur sind immer besser in der Stadt."
Archiv: Spectator

Figaro (Frankreich), 13.08.2010

Frankreich wartet auf den Bücherherbst und vor allem auf eine Neuerscheinung, die der Verlag - Flammarion - trotz des großen Namens ihres Autors nicht ankündigte. Den Redaktionen wurden die Fahnen erst jetzt statt wie gewöhnlich Mitte Juni zugeschickt und das Buch wird auch erst am 8. September, drei Wochen nach Auslieferung des Herbstprogramms der anderen Verlage, in die Läden kommen: Diese verdächtig nach Hype-Produktion riechende Taktik gilt dem neuen Buch von Michel Houellebecq mit dem Titel "La Carte et le Territoire". Dominique Guiou schreibt: "Hier und da tauchen bereits ein paar Echos auf. Eine Art Appetithäppchen, in Erwartung der Houellebecq-Welle... Denn seit dem Erfolg seines ersten Romans 'Ausweitung der Kampfzone' 1994, hat Michel Houellebecq polarisiert. Man vergöttert ihn, oder man kann ihn nicht ausstehen. Manchmal aus denselben Gründen."
Archiv: Figaro
Stichwörter: Houellebecq, Michel, Hypes

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.08.2010

Die Befürchtung des Verfassungsrechtlers Gabor Halmai, Ungarn werde sich unter der Leitung der neuen Regierung von der Rechtsstaatlichkeit verabschieden (mehr hier), haben im Land eine rege Debatte ausgelöst. Der Philosoph Attila Ara-Kovacs und der Rechtsanwalt Matyas Eörsi (bis 2010 Parlamentsabgeordneter der liberalen Partei SZDSZ) sind optimistischer und meinen, in Ungarn stehe keine Diktatur bevor. Daher warnen sie davor, umstrittene und durchaus kritikwürdige Schritte der neuen Regierung vorschnell als "undemokratisch" zu brandmarken. "Die Kritiker scheinen die Demokratie als einen Zustand zu betrachten, den man - einmal erreicht - nie wieder verliert. [...] Demokratie ist aber kein Zustand, sondern ein lebenslanger Lernprozess, sowohl für die Politiker, als auch für die Gemeinschaft der Bürger. Und wenn das Lernen und die Möglichkeit des Veränderns zum Wesen der Demokratie gehören, so stellen Krisen in der Demokratie gleichzeitig die größten Chancen dar."
Stichwörter: Attila, Rechtsstaatlichkeit

La vie des idees (Frankreich), 23.07.2010

Muss man sich zwischen Gandhi und Lenin entscheiden, wenn man die Befreiung eines unterdrückten Volkes oder einer Bevölkerungsgruppe erreichen will? Mit dieser Fragestellung, der eine Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt zugrunde liegt, eröffnet Sylvie Laurent ihren ausführlichen Essay über die Frage, ob Gewaltlosigkeit überhaupt möglich ist, und entwickelt ihre Untersuchung entlang der Vorstellungen von Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela. Am Ende lässt sie resümierend die Anthropologin Francoise Heritier zu Wort kommen: "Ohne Ideale gibt es weder Befreiung noch Widerstand gegen die schlimmsten Formen von Gewalt, vor allem aber keinen kollektiven Widerstand; und dennoch kann es keine Garantie bezüglich eines 'guten' oder 'schlechten Gebrauchs' von Idealen geben. Besser gesagt gibt es sicherlich Abstufungen in der Gewalt, mit der Ideale formuliert und umgesetzt werden, aber keinen Grad null. Deshalb gibt es keine Gewaltlosigkeit."

The Atlantic (USA), 01.09.2010

Christopher Hitchens liest zwei neue Bücher über Antisemitimus - eine Geschichte des Antisemitismus in Großbritannien von Anthony Julius und Robert S. Wistrichs monumentale Weltgeschichte dieser düsteren Passion, "A Lethal Obsession". Aber beide haben ihn relativ kalt gelassen. Für Hitchens bleibt "der Hauptimpetismus des Antisemitismus theokratisch: Neuerdings ist er vom Christentum zum Islam gewandert. Eine tiefere Untersuchung über seine Ursprünge und Merkmale würde vielleicht mit der Frage beginnen, ob nicht der Glaube das eigentliche Problem ist. In diesem Zusammenghang würde sich auch die wesentliche Frage stellen, ob das Gift des Antisemitismus nur die Juden bedroht."

Auf die Titelgeschichte des Atlantic - Jeffrey Goldbergs große Recherche über die Gefahr eines Kriges zwischen Israel und den Iran haben wir bereits am Freitag hingewiesen.
Archiv: The Atlantic