Magazinrundschau

Fürchtet den Wandel nicht. Umarmt ihn!

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.11.2009. Open Democracy erzählt von russischen Störsignalen, die iranische Spatzen vertreiben. Die London Review liest neue Bücher über Ehrenmorde. Walrus weint auf das gedruckte Buch. The Nation sucht nach Dusan Makavejev. Der Guardian deutet Michael Hanekes Oeuvre. Polityka erklärt den Polen, dass Ethik auch ohne Katholizismus und sogar ohne Gott zu haben ist. In Dawn verteidigt Arundhati Roy die maoistische Guerilla in Indien. In Frontline plaudert der maoistische Guerillero Koteswar Rao über den Nutzen von Hinrichtungen für eine Revolution. In Le Monde wundert sich Vaclav Havel immer noch über seine Kritiker. HVG erklärt, warum der Kapitalismus für die Ungarn eine kommunistische Angelegenheit ist.

Open Democracy (UK), 01.11.2009

Die antiamerikanische Stimmung im Iran kippt gerade in eine antirussische um, erzählt der iranische Autor R Tousi. "'Die Russen verstrahlen unsere Hirne.' Der Kommentar meines Ladenbesitzers in Teheran reflektiert eine weitverbreitete Ansicht über die staatliche Installation von Störsignalen, mit denen ausländische Medien unterdrückt werden. Diese Unterdrückung wichtiger Kommunikationsverbindungen hat einen große Rolle gespielt in der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen nach den iranischen Wahlen am 12. Juni 2009. Die möglichen Gesundheitsrisiken der neu installierten Sender wurden sogar im iranischen Parlament diskutiert. Zohreh Elahian, ein Mitglied des Nationalen Sicherheitskomitees, versicherte einem Reporter, der nach einem möglichen Anstieg von Fehlgeburten fragte, die Zahlen würden überprüft. Die Tatsache, dass die Störsender in Russland hergestellt werden, gibt der Verdächtigung eine nationalistische Tönung und erklärt die markige Bemerkung meines Ladenbesitzers. Unsere gut siebzigjährige Nachbarin geht noch weiter: sie glaubt, dass die 'russischen Wellen' sie bald töten werden. Sie gibt ihnen auch die Schuld daran, dass die Spatzen aus der Hauptstadt verschwinden (obwohl daran wohl eher der Teheraner Smog schuld ist). Es ist schwer zu sagen, wann und wie die Geschichte diese 'russische' Wendung genommen hat." Angefangen hat es gewissermaßen schon 1906 ...

Außerdem: David Hayes erinnert an den iranischen Blogger Hossein "Hoder" Derakhshan, der im Dezember 2008 verhaftet wurde.
Archiv: Open Democracy
Stichwörter: Spatzen

HVG (Ungarn), 31.10.2009

Nach über zehn Jahren Diskussion hat das ungarische Parlament ein neues Bürgerliches Gesetzbuch abgesegnet. Der Rechtsanwalt Andras Hanak findet seine Struktur zwar unübersichtlich, er begrüßt aber die damit einhergehende Erweiterung der Pressefreiheit in Ungarn: "Zum einen hebt das Gesetz jene absurde Auffassung auf, wonach der Berichterstatter und die Zeitung, sofern etwas texttreu zitiert oder über eine öffentliche Veranstaltung genau berichtet wird, zur Rechenschaft gezogen werden können. Zum anderen wird durch das neue BGB die 'Toleranzgrenze' der Kritik an Personen der Öffentlichkeit angehoben. Wird über eine solche Person eine Unwahrheit veröffentlicht, kann der Autor dieser Information nur dann zur Richtigstellung und zu einer Entschädigung verpflichtet werden, wenn er diese Unwahrheit absichtlich oder grob fahrlässig veröffentlicht hat. Damit erhält die Presse das Recht des gutmütigen Irrtums. Mit dieser Lösung nähert sich die ungarische Regelung der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Und ist das neue Gesetzbuch noch so umstritten – diese beiden Änderungen (sofern sie mit dem Gesetz in Kraft treten) werden den Lesern und den Bürgern zugute kommen."
Archiv: HVG

London Review of Books (UK), 05.11.2009

Die London Review of Books feiert ihren dreißigsten Geburtstag - und stellt zu diesem Anlass die komplette aktuelle Ausgabe ins Netz. Das ist natürlich das, was man im Englischen eine "embarrassment of riches" nennt. Die komplette Übersicht hier - und hier eine Auswahl:

Mehrere in Großbritannien erschienene Bücher zum Thema "Ehrenmord" stellt Jaqueline Rose vor. Besonders eindrücklich findet sie den Fall der ermordeten Fadime Sahindal, den Unni Wikan detailliert schildert. Fadime nämlich hatte explizit den Schutz der breiten, massenmedialen Öffentlichkeit gegen die Familie gesucht - vergeblich: Ihr Vater ermordete sie, als sie in ihre Heimatstadt Uppsala zurückkehrte: "Dieser Fall ist so ungewöhnlich, und lohnt Wikans genaue Analyse, weil Fadime von einer besonderen Vision einer gesellschaftlichen Verpflichtung angetrieben war. Sie spricht für die unsichtbare Frau ihrer Gemeinschaft. Da lag sie auf einer Linie mit Rana Husseini, die eben deshalb Fall für Fall für Fall - unter hohem persönlichen Risiko - an die Öffentlichkeit bringt, weil sie darauf insistiert, dass jedes Beispiel eines Ehrenmords in die Nachrichten gehört. Jedes dieser drei Bücher kann als eine Form der Hingabe gelesen werden: Sie sind zugleich Tribut und Kampagne. Über Ehrenmorde zu schreiben, heißt in erster Linie: Fordern, dass diese Verbrechen wahrgenommen werden, dass man über sie spricht."

Julian Barnes bespricht zwei neu erschienene Übersetzungen von Maupassant-Büchern und zitiert gleich einmal aus einem etwas lebensmüden Brief des 28-jährigen Autors an Gustave Flaubert: "Frauen zu vögeln ist nicht weniger öde, als männlichem Witz zu lauschen. Ich finde, dass die Nachrichten in den Zeitungen sich unaufhörlich wiederholen, dass die Laster trivial sind und dass es zu wenige unterschiedliche Varianten gibt, Sätze zu bilden."

Weitere Artikel: Jenny Diski nähert sich in ihrer Tagebuch-Kolumne dem Fall Polanski aus einer außergewöhnlichen, nämlich sehr persönlichen Perspektive: "Im Jahr 1961 wurde ich von einem Amerikaner in London vergewaltigt. Ich war 14, also ein Jahr älter als das Mädchen, dem Polanski eine halbe Quaalude-Tablette mit Champagner verabreichte, bevor er oralen, vaginalen und analen Sext mit ihr hatte." Hilary Mantel liest Brian Dillons Buch "Zerquälte Hoffnung" (Verlagswebsite) über das Leben von Hypochondern. Peter Campbell besucht im British Museum die Ausstellung über den Azteken-Herrscher "Moctezuma" und Michael Wood hat im Kino Agnes Vardas autobiografischen Film "Die Strände von Agnes" gesehen.

Walrus Magazine (Kanada), 02.11.2009

Himmel, man wünschte sich, ein Milliliter des Herzbluts, das in die Schwanengesänge auf das gedruckte Buch fließen, würden in Interesse für die neuen Möglichkeiten des Publizierens umgeleitet. Noah Richler schaudert es gut sieben Seiten lang vor den Gefahren, die dem Buch durch das Internet drohen, bis er endlich einen Mann trifft, der ihm Mut macht: Es ist ausgerechnet ein Vertreter der gebeutelten Musikindustrie, Jeffrey Remedios, der als Gründer seiner eigenen kleinen Plattenfirma "Arts&Crafts Records" die Vorzüge von iTunes schätzen gelernt hat. "Als ich ihn frage, welchen Rat er Buchverlagen geben würde, die mit der neuen digitalen Realität konfrontiert sind, sagt er: 'Fürchtet den Wandel nicht. Umarmt ihn. Erlaubt der Technologie, eure Rolle umzuformen.' Remedios glaubt, dass die Musikindustrie bald Abonnements für eine Bibliothek verkaufen wird, aus der der Konsument sich herunterladen kann, was immer er will, wann er will - ein Konsumentenhimmel."
Archiv: Walrus Magazine

El Pais Semanal (Spanien), 01.11.2009

Javier Cercas erteilt seinen Landsleuten Nachhilfe in Sachen Streitkultur: "Diesen Satz von Alejandro Rossi habe ich schon eine Million mal zitiert und ich werde ihn wohl auch noch ebenso oft wieder zitieren: Rossi sagt, Toleranz bestehe darin, einen intellektuellen Fehler nicht mit einem moralischen Fehler zu verwechseln; in anderen Worten, Sie und ich können in allem unterschiedlicher Meinung sein, deswegen sind jedoch weder Sie noch ich Arschlöcher - es ist nur so, dass sich einer von uns beiden irrt oder der eine der Wahrheit näher ist als der andere. Fernando Savater hat seinerseits darauf hingewiesen, dass es Unfug ist, zu glauben, Toleranz bestehe darin, alle Ideen zu respektieren: Schließlich gibt es offensichtlich Ideen, die man respektieren kann, wie auch welche, die man nicht akzeptieren kann - respektieren muss man immer bloß die Leute, die die eine oder andere Idee vertreten."
Archiv: El Pais Semanal

The Nation (USA), 26.11.2009

Richard Byrne nutzt das Erscheinen einer Biografie über den jugoslawischen Filmemacher Dusan Makavejev - sein bekanntester Film ist "WR: Mysteries of the Organism" - um eines der großen ungelösten Rätsel des Weltkinos zu lösen: Warum hat Makavejev seit 15 Jahren keinen Film mehr gedreht? Makavejevs vorletzter Film 'Gorilla Bathes at noon' (1993) nahm seinen Ausgang in Erich Honeckers Erklärung, die Mauer würde in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen; doch sie fiel, bevor das Drehbuch fertig war. "Dank seiner improvisatorischen Fähigkeit schuf Makavejev einen Film, der im Laufe der Zeit noch an Tiefe gewonnen hat... Er erzählt von einem russischen Soldaten namens Vikto Borisovich (Svetozar Cvetkovic), der unbeabsichtigt im Berlin der Wendezeit zurückbleibt, als seine Einheit zurück in die Sowjetunion zurückbeordert wird... In seiner letzten Szene sieht man Cvetkovic am Brandenburger Tor, klar als ein Schauspieler zu identifizieren, der, einen Apfel mampfend, versucht, seine Uniform als Souvenir an Touristen zu verhökern, wie es so viele andere in Berlin gestrandete Russen getan haben. Der Erzähler aus dem Off legt den Finger noch einmal auf die Wunde: Wo ist Viktor Borisovich? Ich stelle mir selbst die gleiche Frage. Und ich bekomme keine Antwort. Man spürt, dass Makavejev mit dem Ende des Kalten Kriegs auch sein großes Thema verloren hat. Und selbst wenn er zu seinen Wurzeln zurückkehren und die chaotischen Widersprüche des Landes, das ihn geformt hatte, erkunden wollte - das Jugoslawien seiner frühen Filme war untergegangen, wie einst Atlantis, in einem Meer aus Blut."

Außerdem: ein Interview mit Gorbatschow über 1989 und Ronald Gregor Sunys Rezension einiger Bücher zu 1989 - von Victor Sebestyen, Constantine Pleshakov und Stephen Kotkin.

Archiv: The Nation

Literaturen (Deutschland), 01.11.2009

Die Literaturen-Website ist nun im neuen Friedrich-Verlag-Kulturmagazin kultiversum.de aufgegangen. Was einerseits gut ist - alles ist übersichtlicher und man kann die Texte jetzt vernünftig lesen. Andererseits kam so etwas, wie bei der Titelgeschichte früher nicht vor. Der derzeit wirklich omnipräsente Alleserklärer Richard David Precht gibt darin eine geistesgeschichtliche Einführung ins große Titelthema "Glück" - als Online-Leser wird man dabei jedoch nach rund einem Drittel des Artikels rüde aus der Lektüre gerissen und in Richtung Print verwiesen.

Vollständig einzusehen dagegen Rene Aguigahs Besprechung zweier neuer Bücher von Michael Hampe und Kwame Anthony Appiah, die sich gleichfalls ums Lebensglück drehen und darum, wie man's erlangt. Und auch Aguigah beginnt mit Precht: "Die Beobachtung des Philosophen und Bestsellerautors Richard David Precht ist eindeutig: Die Frage nach dem Lebensglück markiert die Geburt der abendländischen Philosophie, doch die real existierende Hochschulphilosophie der Gegenwart hat sie aus dem Blick verloren und den Ratgeber-Büchern überlassen. Aristoteles wusste, dass alle Menschen nach Glück streben - nicht nach dem Glück im Spiel oder anderen Zufällen, sondern nach eudaimonia, Glückseligkeit. Diese hielt er für das höchste aller Güter und richtete seine 'Nikomachische Ethik' darauf aus. Heute dagegen wird man Philosoph, indem man andere Philosophen kommentiert. Nicht, wie ein Leben gelingen könne, ist die Frage der modernen Fachdisziplin, sondern, wie man zum Beispiel Neoaristoteliker wird."

Weitere Artikel: Die von Neo Rauch gestalteten Cover der Frankfurter-Verlagsanstalt-Herbstbücher hat sich der Autor Thomas Kapielski angesehen. Jochen Schmidt sitzt für seine Kolumne in der leeren Badewanne und liest. Abgedruckt werden Fotografien von der Bagdadbahn: Frederic Lezmi hat sie gemacht und von Ronald Düker werden sie kommentiert. Aram Lintzel beobachtet, wie man mit Twitter Lyrisches macht und Daniel Kothenschulte hat die Donna-Cross-Verfilmung "Die Päpstin" gesehen.
Archiv: Literaturen

Guardian (UK), 31.10.2009

Sehr lesenswerter Artikel über die Filme von Michael Haneke. Autor Hari Kunzru gibt nebenbei noch einen Abriss über die österreichische Nazi-Vergangenheit bis hin zum Erfolg Jörg Haiders und macht den Furor von Autoren wie Haneke, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, der leicht verstörend wirken kann, besser verständlich. Interessant auch sein Vergleich von Hanekes "Code unconnu" mit den "rührseligen und fundamental unehrlichen" mehrsträngigen Filmerzählungen mexikanischer und amerikanischer Regisseure wie Inarritu, Anderson und Haggis: "In diesen Filmen sind Zufall, Fügung und kleine persönliche Epiphanien verwebt in quasi-religiöse Parabeln über Vorsehung und Schicksal. Dieser billige Transzendentalismus bietet eine Art künstlichen Trost an, einen apolitischen Quietismus, den 'Code Unknown' schroff zurückweist. Manchmal schlägt Kommunikation eben fehl, Taten sind bedeutungslos und Erlösung ist beim Supermarkt gerade nicht im Angebot. Fragen über die ethischen Pflichten, die wir anderen gegenüber haben, können für Haneke nicht durch Beigabe von ein bisschen ästhetischem Glitzer gelöst werden. Statt dessen muss man mit ihnen ringen, darum kämpfen und der Zuschauer muss sich aktiv beteiligen statt passiv das ehrfurchtgebietende Spektakel vernetzter Existenzen zu konsumieren. An diesem Punkt scheint Hanekes Technik mit Roberto Bolanos gewaltigem (und ähnlich düsterem) Roman '2666' vergleichbar, der den Leser auffordert, selbst die bruchstückhaften Erzählungen zu verbinden, weil die Bedeutung im Ungesagten zwischen den Kapiteln liegt."

Besprochen werden u.a. die Trotzki-Biografien von Robert Service und Bertrand M. Patenaude und Eugene Rogans Geschichte der Araber.
Archiv: Guardian

Polityka (Polen), 30.10.2009

In Polen hat man oft den Eindruck, es gebe "nur eine richtige Ethik: die römisch-katholische", schreibt Adam Szostkiewicz, der das für absolut undemokratisch hält (hier auf Deutsch). "Wenn ein Bischof einen Abgeordneten anruft und ihm sagt, wie er in der In-vitro-Angelegenheit abstimmen soll, und man von 30.000 polnischen Schulen gerade mal in 300 statt des Religionsunterrichts den Ethikunterricht besuchen kann, haben wir ein grundsätzliches Problem auch mit den demokratischen Standards und mit der Idee einer offenen Gesellschaft, um die wir uns schließlich bemühen. In diesem Klima gedeiht nicht der Pluralismus, sondern das Monopol. Und die Kirche verwirklicht dieses Monopol auf die Ethik in den Schulen, Medien und der Politik, indem sie den Konformismus eines Großteils der politischen Klasse und der Gesellschaft ausnutzt."
Archiv: Polityka

Dawn (Pakistan), 30.10.2009

Arundhati Roy stellt sich hinter Indiens maoistische Guerilla, gegen die Indiens Regierung eine Großoffensive plant. Ihrer Darstellung nach kämpfen vor allem die bitterarmen Ureinwohner der Dongria Kondh gegen die geplante Plünderung ihrer Heiligen Berge. Dort will der Bergbaukonzern Vedanta die reichen Bauxit-Vorkommen abbauen. "Es sind Menschen, die, sechzig Jahre nach Indiens Unabhängigkeit, keinen Zugang zu Bildung, Medizin oder rechtlicher Hilfe haben. Es sind Menschen, die jahrzehntelang gnadenlos ausgebeutet wurden, immer wieder von Geschäftsleuten und Kreditgebern betrogen wurden; deren Frauen immer wieder von Polizisten und Förstern vergewaltigt wurden. Ihr Weg zurück zu einem Anflug von Würde ist in großen Teilen den maoistischen Kadern zu verdanken, die für mehrere Dekaden an ihrer Seite gelebt, gearbeitet und gekämpft haben. Wenn die Stämme jetzt zu den Waffen gegriffen haben, dann weil die Regierung, die ihnen nichts als Gewalt und Vernachlässigung beschert hat, ihnen nun das einzige wegnehmen will, was sie haben: ihr Land."
Archiv: Dawn

Frontline (Indien), 24.10.2009

Auch Frontline beschäftigt sich in einem ganzen Dossier mit der geplanten Großoffensive gegen die maoistische Guerilla in Zentralindien. Venkitesh Ramakrishnan beschreibt sehr detailliert, welche Attentate die Guerilla in den vergangenen Monaten verübt hat, darunter auch einige taliban-artige Hinrichtungen von Polizeioffizieren. Im Interview antwortet Koteswar Rao, einer der Führer der Maoisten, auf die Frage, warum sie nicht, wie vor zwei Jahren beschlossen, mit der Ermordung Einzelner aufgehört haben: "Zu der Zeit war die Vernichtung des Klassenfeinds die einzige anerkannte Form, die Revolution voranzubringen. Wir haben das geändert. Wir sagen jetzt, dass die Vernichtung eine von mehreren Formen ist. Das haben nicht die Maoisten erfunden; wir sehen in der Geschichte, dass die Massen Hinrichtungen immer gutgeheißen haben."

Prakash Karat, Führer der marxistischen Gegenfraktion, lehnt im Interview die maoistische Strategie ab: "Sie spielen immer noch das Lied von Indien als halbkolonialem Land; ihre Politik basiert auf Gewehren und Gewalt, was die Bewegung der Arbeiterklasse existenziell auseinanderreißt. So wie sie sich in sinnloser Gewalt gegen ihre politischen Gegner ergehen, helfen die Maoisten dem Staat, die eigene Bevölkerung zu unterdrücken, die zu schützen er vorgibt."
Archiv: Frontline
Stichwörter: Arbeiterklasse, Hinrichtungen

Le Monde (Frankreich), 02.11.2009

Jahrelang, schreibt Vaclav Havel in einem Essay zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in Le Monde, sei er in seiner Dissidentenzeit von westlichen Journalisten besucht worden, die ihn mit großen Augen angestaunt haben und sich wunderten, dass man gegen ein derart stabiles und übermächtiges System aufbegehre. Dann kam der Mauerfall, mit dem er selbst auch nicht gerechnet hatte: "Wir haben versucht, uns wie freie Menschen zu verhalten, die Wahrheit auszusprechen, Zeugen der Situation in unserem Land zu sein. Wir haben nicht nach Macht gestrebt. Mangels Alternative, haben wir diese Macht übernommen, aus Verlegenheit. Und im gleichen Moment ist etwas Interessantes entstanden: Viele, die all die Jahre stumm funktioniert haben, selbst viele, die unsere Bemühungen für vergeblich hielten, fingen an uns vorzuwerfen, wir seien schlecht darauf vorbereitet, unsere Rolle in der Geschichte zu spielen."
Archiv: Le Monde
Stichwörter: Havel, Vaclav, Mauerfall

Elet es Irodalom (Ungarn), 22.10.2009

Der Journalist Janos Szeky kritisiert den Begriff des Systemwechsels der in Ungarn für die Wende und die Folgen gebraucht wird. Er beschreibe nur den Übergang zur Demokratie, aber nicht zum Kapitalismus. Die Risiken des Kapitalismus hätten die Politiker beim Wechsel verschwiegen, mit der Folge eines irrationalen Antikapitalismus: "Dabei handelt es sich nicht um einen normal linksgerichteten Antikapitalismus, sondern um eine ungarische Spielart: Viele Ungarn sind überzeugt, dass der Kapitalismus eine kommunistische und darum unungarische Erfindung sei. Dies ist insofern nicht verwunderlich, da der Übergang zum Kapitalismus (im Gegensatz zu den anderen Staaten der Region) maßgeblich unter der Beteiligung der Staatspartei stattgefunden hat. (...) Der Mangel an Reflexion über diesen Übergang führte dazu, dass die Ungarn, inklusve der Intellektuellen, ihn nur erlitten haben, statt ihn mitzugestalten. Der Kapitalismus, das sind für sie die 'Anderen' (Ausländer, Juden, Kommunisten). Nicht Geschäftsinteresse, sondern Verschwörung sehen sie als seine Triebkraft. Er bringt nicht Freiheit, sondern Sklaverei. Nicht Wohlstand, sondern Verarmung der Massen. Nicht Anschluss an die Welt durch Globalisierung, sondern Betrug durch die 'Anderen'."

New Yorker (USA), 09.11.2009

James Surowiecki berichtet über den jüngsten Preiskrieg zwischen Amazon und Wal-Mart, der jetzt auch um Bücher tobt, seiner Analyse nach aber eigentlich keiner ist: So sei es keineswegs das Ziel von Wal-Mart, Amazon Leser abzuluchsen, sondern die Leute weg von den Buchläden und auf die eigene Website zu kriegen, um ihnen dort andere Waren zu verkaufen. Auch wenn die Klagen von Verlagen und Buchhändlern, die Billigpreise der Discounter würden die Branche zugrunde richten, gelegentlich etwas übertrieben seien, hätten sie doch in einem recht: "Der wirkliche Wettbewerb in diesem Preiskrieg findet nicht zwischen Wal-Mart und Amazon statt, sondern zwischen diesen Giganten und allen anderen – und der Schaden, den alle anderen erleiden ist beabsichtigt, und nicht etwa kollateral. Wal-Mart und Amazon haben herausgefunden, wie man einen Preiskrieg führt und ihn gewinnt: Sorg dafür, dass andere die Schläge abkriegen."

Weiteres: In einem Brief aus Gaza geht Lawrence Wright der Frage nach, was sich während der israelischen Angriffe Anfang des Jahres tatsächlich ereignete. Elizabeth Kolbert bespricht das erste Sachbuch des jungen Schriftstellers Jonathan Safran Foer, der sich in "Eating Animals" (Little, Brown) mit den Widersprüchlichkeiten des Themas Vegetarismus auseinandersetzt. Jill Lepore stellt zwei Studien vor, die sich mit Mord und Totschlag beschäftigen: Randolph Roth versucht in "American homicide" (Harvard) zu erhellen, warum die amerikanische Geschichte so "mörderisch" ist, der Niederländer Pieter Spierenburg widmet sich in "A History of Murder: Personal Violence in Europe from the Middle Ages to the Present" (Polity) der europäischen Gewaltgeschichte.

Anthony Lane sah im Kino Grant Haslovs Komödie "The Men Who Stare at Goats" mit Ewan McGregor, Jeff Bridges und George Clooney und ein Teenagerdrama von Lee Daniels mit dem etwas seltsam-länglichen Titel "Precious: Based on the Novel 'Push' by Sapphire". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Premium Harmony" von Stephen King und Lyrik von Katie Ford und Glyn Maxwell.
Archiv: New Yorker