Magazinrundschau

Schuld ist immer das Schwein

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
02.06.2009. Explodierende Tunesier erlebte Al Ahram beim arabischen Theaterfestival in Kairo. Im Observer erklärt der ägyptische Schriftsteller Alaa Al Aswani: Die Demokratie kommt nach Ägypten, bald. Polityka ärgert sich über die Nörgler, die den Polen den 4. Juni vermiesen. Der Statesman, Prospect und The Nation widmen sich China. Im Nouvel Obs erklärt Michel Pastoureau unsere biologische Verwandschaft mit dem Schwein. Zygmunt Bauman widerspricht in Salon.eu.sk Slavoj Zizek. Das Bookforum untersucht den Boom afrikanischer Literatur.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 28.05.2009

Wenig interessantes Theater, aber hochinteressante Konflikte erlebte Nehad Selaiha beim Arabischen Theaterfestival in Kairo. Gegründet wurde das Festival von Seiner Hoheit Scheich Dr. Sultan Bin Mohammed Al-Qasimi, Herrscher von Sharjah und selbst Dramatiker. 12 Inszenierungen aus 11 arabischen Staaten wurden gezeigt. Anschließend hatten Kritiker das Wort. Da jedoch "Araber notorisch übersensibel auf Kritik von anderen Arabern reagieren", wie Selaiha schreibt, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Zum Beispiel bei der Diskussion über das tunesische Stück "Cinema": "Araber und besonders Tunesier, ärgern sich generell darüber, dass das ägyptische Alltagsarabisch dank der Popularität ägyptischer Filme und Fernsehdramen in der ganzen arabischen Welt verstanden wird, während nur wenige Ägypter die lokalen Versionen des Arabischen verstehen, die woanders gesprochen werden. Unbedacht berührten die ägyptischen Kritiker diesen wunden Punkt, als sie dem Regisseur erklärten, sie hätten kein Wort des in tunesischem Dialekt gespielten Stücks verstanden, und er möge ihnen deshalb erklären, worum es ging. Natürlich war der tunesische Regisseur zutiefst beleidigt und sagte das auch unverblümt. Er beschuldigte die ägyptischen Kritiker, selbstgefällig und faul zu sein, und sich als Überlegene aufzuspielen, weil sie sich nicht die Mühe machen zu lernen, wie andere Araber sprechen. ... Als einer der Kritiker vorschlug, künftig alle Stücke beim Festival nur noch in klassischem Arabisch aufzuführen, so dass alle Araber sie verstehen, war dies offenbar der zündende Funke und die Tunesier explodierten."

Rania Khallaf begrüßt das zweifelhafte Projekt eines "Palestinian Holocaust Memorial Museums" (PHMM), das mit Hilfe palästinensischer Exilorganisationen aufgebaut werden soll und zur Zeit vor allem eine virtuelle Präsenz im Netz hat. Vor kurzem fand auch eine Fotoausstellung zum Thema im Al-Sawy Cultural Wheel (mehr hier) statt. Die Initiative ist eine Reaktion auf eine Äußerung des israelischen Politikers Matan Vilnai, der den Palästinensern in Gaza eine "Shoah" angedroht hatte. "Als Reaktion auf dieses provokative Statement wurde die Idee eines Palestinian Holocaust Memorial Museum nach dem Modell des Holocaust-Museums in Washington im März 2008 ins Leben gerufen. Die junge Journalistin Dalia Youssef möchte damit auf die israelischen Verbrechen gegen die Palästinenser aufmerksam machen. 'Da wir nicht die Mittel haben, ein solches Museum in der Realität aufzubauen, habe ich mich entschlossen, es zuerst ins Internet zu stellen, sagt Youssef. 'Wir haben unendlich viele Dokumente und Bilder, und ich fragte mich, wie wir sie am besten verwenden können. (Als nächstes wird sicherlich ein Flügel für die Opfer der Selbstmordattentäter in Israel eingerichtet!)
Archiv: Al Ahram Weekly

Observer (UK), 31.05.2009

Rachel Cooke trifft in London den ägyptischen Zahnarzt und Schriftsteller Alaa Al Aswani, der mit seinen Romanen "Der Jakubijan-Bau" und "Chicago" so viel Erfolg hatte, dass sein Verleger jetzt sogar seine frühen, von der Zensur verbotenen Werke veröffentlichen möchte. Al Aswany ist aktiv in der Oppositionsbewegung. "Schützt ihn der Ruhm? 'Ich kann das, was mir passiert ist - ich durfte bei der Filmpremiere von 'Der Jakubijan-Bau' nicht dabei sein - nicht mit dem vergleichen, was einigen meiner Freunden und Kameraden passiert ist, die gefoltert und verprügelt wurden. In jedem Fall aber sind Schreiben und Angst absolut kontradiktorisch. Schreiben ist ein Ausdruck gegen Angst.' Er ist überzeugt davon, dass die Demokratie nach Ägypten kommt und dass der Rest der arabischen Welt es dann als Modell benutzen wird. 'Ich sage Ihnen, es dauert nicht mehr lange. Ich kann kein bestimmtes Datum sagen, aber wir sind bereit."
Archiv: Observer
Stichwörter: Chicago, Aswani, Alaa al

Polityka (Polen), 29.05.2009

Zwanzig Jahre nach den Wahlen am 4. Juni will sich niemand mehr über diesen Feiertag freuen, stellen Mariusz Janicki und Wieslaw Wladyka fest (hier auf Deutsch). Das Land ist gespalten in zwei "extrem verschiedene Sichtweisen" auf die Ereignisse, die zur friedlichen Revolution in Polen führten. Und so verblasst der 4. Juni als nationales Ereignis. "Wir wissen, dass sich das System verändert hat, dass die Polen etwas Großes vollbracht haben: Die friedliche Revolution. Und dass ganze Generationen vom RGW in die Europäische Union eingetreten sind. Von der Epoche der Polonez-Autos und der fehlenden Lebensmittelauswahl sind wir zum freien Markt und zu einem Kontinent ohne Grenzen übergegangen. Doch die Skeptiker, Kritiker, Nörgler, lokalen Rächer und Abrechner, die sich auf das Unrecht am Volk berufen sorgen dafür, dass der 4. Juni 1989 wie gebeugt geht, dass er verblasst, dass er aufhört, die Menschen zu berühren. Und dabei bedeutet dieser Tag keinen abgeschlossenen Zeitraum, setzt nicht die würdevolle Patina eines nicht anfechtbaren Feiertages an. Als würden wir unsere eigenen Siege nicht mögen, als fänden wir sie verdächtig. Viel besser gelingen uns Märtyrer-Spektakel, Jahrestage von Aufständen, blutig zerschlagenen Demonstrationen und Kriegen."
Archiv: Polityka

New Statesman (UK), 28.05.2009

Die Journalistin Isabel Hilton skizziert die Proteste gegen die offizielle Politik in China seit 1919. Heute herrscht relative Ruhe, denn die Partei hat laut dem Wissenschaftler Minxin Pei einige Lehren aus dem Aufstand 1989 gezogen, schreibt Hilton. "Autoritarismus war grundlegend, damit die Partei die Kontrolle behielt. Die Partei erkannte auch, so Minxin, dass ihre Herrschaft verletzlich war, wenn sie nicht von einem großen Teil der Elite unterstützt wurde - den Professionellen und der Intelligentsia. Daher entwickelte sie eine Strategie der Kooption. Die Anzahl von Parteimitgliedern unter den Studenten ist gestiegen; Intellektuelle erhalten gut dotierte Regierungsposten. Die Intellektuellen und Studenten, die im 20. Jahrhundert an vorderster Stelle politische Reformen gefordert hatten, sind heute sehr viel weniger bekannt als 1989. Zur Zeit sind die, die politische Reformen fordern - oder verlangen, dass China wenigstens die eigene Verfassung respektiert, wie es die Gruppe Charta 08 letztes Jahr getan hat - eine kleine Minderheit."

Außerdem: Keith Gessen empfiehlt die Lektüre von Orwells Essays aus den vierziger Jahren: "Denn auch wir leben in einer Zeit, in der die Wahrheit aus der Welt verschwindet, genau auf die Art, die Orwell befürchtet hatte: durch Sprache."
Archiv: New Statesman

Weltwoche (Schweiz), 28.05.2009

Mindestens zwei Fälschungen werden in der van-Gogh-Ausstellung im Basler Kunstmuseum präsentiert, "Jardin a Auvers" und "Le jardin de Daubigny", behauptet der Kunsthistoriker Matthias Arnold und legt im Detail dar, warum er das glaubt. Es ist nicht das erste Mal, dass van-Gogh-Fälschungen in einem großen Museum hängen. Und immer hat ein Kunsthändler dabei die Hand im Spiel. Diesmal ist es der Zürcher Kunsthändler Walter Feilchenfeldt, "der eigentliche Anreger und Organisator der gegenwärtigen Basler Van-Gogh-Ausstellung. Der Katalog enthält unzählige Verweise auf seinen Namen. Ein Schweizer Verlag ist sich bewusst, in seinem Miteigentümer 'Feilchenfeldt einen wegweisenden Van-Gogh-Experten zur Seite' zu haben. In jüngster Zeit wird Walter Feilchenfeldt immer wieder nicht nur von sich selbst und seinen Mitarbeitern, sondern auch in Verlautbarungen des Van-Gogh-Museums sowie momentan gerade vor allem in Schweizer Publikationen als 'Van-Gogh-Experte' bezeichnet. Die Frage stellt sich, wie unabhängig er ist."
Archiv: Weltwoche
Stichwörter: Weltwoche, Van-Gogh-Museum

The Nation (USA), 29.06.2009

Die chinesische Regierung erlaubt nach wie vor keine offene Diskussion über die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz vor 20 Jahren, schreibt der Historiker Jeffrey Wasserstrom. "Chinas Herrscher haben statt dessen die in Tiananmen bewiesene Rigidität mit einer verblüffenden Flexibilität an anderen Fronten kombiniert. Um eine Wiederholung von 1989 zu vermeiden und dem zu erliegen, was einige chinesische Führer die 'polnische Krankheit' nennen (eine Bewegung wie die Solidarnosc), hat die Partei den Konsum belebt, sich aus dem Mikromanagement des Campus-Lebens zurückgezogen (heutige Studenten haben viel mehr Freiheiten als ihre Vorgänger) und versucht, neue Ausbrüche von Nationalismus anzuführen und zu lenken. Sie hat auch verschiedene Arten von Protesten unterschiedlich behandelt, indem sie drakonische Maßnahmen benutzt hat, um jeglichen Widerstand zu brechen, der organisiert ist oder unterschiedliche Klassen verbindet, während sie gleichzeitig nachsichtig ist bei Aktionen, die lokal von einer Klasse ausgehen. Und während Dissidenten die aufregenden neuen Technologien wie Internet und SMS benutzen, hat das Regime seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, diese Medien ebenfalls benutzen zu können, um Proteste zu abzuschrecken und seine eigene Interpretation der Ereignisse zu verbreiten und Unterstützer dafür auf die Straße zu schicken."
Archiv: The Nation

Odra (Polen), 01.05.2009

Den diesjährigen Preis der Kulturzeitschrift Odra erhält die polnisch-jüdisch-dänische Schriftstellerin Janina Katz. Die Autorin und Übersetzerin polnischer Literatur ins Dänische verließ Polen in den Wirren von 1968 (hier ein Hintergrundartikel zu den Protesten von damals und den anschließenden antisemitischen Säuberungen). "Janina Katzs Roman 'Pucka' gehört zu den wenigen Büchern, die die komplizierte und weiterhin unverdaute Ära der Volksrepublik thematisieren. Wie kaum ein anderes Buch berührt 'Pucka' auf eine sehr gezielte und direkte Art, man kann sagen: ohne Selbstzensur, kontroverse Aspekte unserer Nachkriegsgeschichte", schreibt Mieczyslaw Orski.

Einen weiteren Schwerpunkt, zeitlich passend, bilden die sechziger und siebziger Jahre in Musik, Kunst und Lebensstil. Anlass ist wohl Kamil Sipowiczs Dokumentation über die Hippies im sozialistischen Polen. Der Künstler und Musiker beschreibt auf breiter Quellenbasis - u.a. Interviews mit den Zeitgenossen - die Entwicklung und den Niedergang der Bewegung in einer etwas surrealen Umgebung. "Diese zwei Welten trennte ein riesiger Graben: hier die rebellierende Jugend, dort eine Gesellschaft von Sklaven, gesteuert von einem degenerierten Establishment", schreibt Jacek Dobrowolski. In diesem angespannten, von Neurosen beherrschten Land war schon das Lächeln der Hippies eine Provokation, auf die viele agressiv reagierten. Ein sehr verdienstvolles Buch, findet der Rezensent (ebenfalls Hippie-Veteran), nur leider schlampig recherchiert und redigiert.
Archiv: Odra

Prospect (UK), 01.06.2009

Das Juni-Heft hat einen Schwerpunkt zum zwanzigsten Jahrestag des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens. Parag Khanna ist viele tausend Kilometer in die ärmsten Regionen im Westen, gereist: Tibet und Xinjiang. Zu Wort kommt auch der Publizist Ian Buruma, der das Land nach zehn Jahren wieder bereiste und kaum wiedererkennt: Widerstandsgeist in der Masse findet er nicht, setzt seine Hoffnungen aber auf die Dissidenten, die im letzten Jahr die Charta 08 unterschrieben, in der Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte gefordert werden.

Ein ähnliches Bild zeichnet Diane Wei Lang, die unter den protestierenden Studenten des Jahrs 1989 war, jetzt aber als Romanautorin in den USA lebt. Sie beschreibt in ihrem Artikel den Wandel der letzten zwanzig Jahre: "Im Ausland ist die politische Bedeutung des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens eher gewachsen. Fast einhellig ist man der Meinung, dass China erst wirklich ein modernes Land sein kann, wenn es sich der Wahrheit der Geschehnisse von damals stellt. Ich selbst habe das auch lange geglaubt... Aber ich habe China seit damals in jedem Jahr besucht. Mit steigendem Lebensstandard seiner Bürger ist die Erinnerung an Tiananmen immer stärker verblasst. Die Generation, die seit den Protesten geboren wurde, weiß nicht nur nicht, was 1989 wirklich passiert ist - es interessiert sie auch nicht. Sie leben in einem neuen China. Sie haben die Freiheit, zu sagen, was sie denken, wenn nicht im Druck, dann doch sicher privat... Wir im Westen sollten Tiananmen nicht als Stock nutzen, mit dem wir auf China einschlagen. Wir sollten dem Land lieber helfen, voranzukommen, die Menschenrechtssituation zu verbessern, seine Umwelt zu schützen, Armut zu mindern, und Reichtümer zu schaffen für seine Bürger und, später, für die Welt."

Außerdem: Damian Tambini warnt vor den Versuchen der britischen Regierung, die Netzneutralität zu untergraben.
Archiv: Prospect

Nepszabadsag (Ungarn), 30.05.2009

An der Universität Pecs wird seit 1998 jedes Jahr eine Philosophiekonferenz veranstaltet, die dem Lebenswerk eines zeitgenössischen Philosophen gewidmet ist. In diesem Mai war - nach Jacques Derrida, Hilary Putnam und Richard Rorty in den vergangenen Jahren - der deutsche Philosoph Jürgen Habermas eingeladen. Janos Boros, Philosophieprofessor in Pecs, und der Journalist Tamas Ungar sprachen mit Habermas am Rande der Veranstaltung über die Zukunft Europas und über seine Forderung nach einer europäischen Öffentlichkeit. Auf die Frage, wie man sich diese Öffentlichkeit vorzustellen habe, antwortete Habermas: "Wir dürfen uns die europäische Öffentlichkeit nicht wie einen Baumkuchen, hierarchisch, als eine neue Schicht über den nationalen Öffentlichkeiten vorstellen. Es geht um eine Vernetzung dieser Öffentlichkeiten selbst. Die nationalen Zeitungen und Medien müssen sich füreinander öffnen, damit zum Beispiel die Deutschen wissen, welche Diskussionen zur gleichen Zeit über dieselben Themen in Budapest, in Paris, Warschau oder London geführt werden - und umgekehrt. Dieselben Zeitungen und Kanäle, die heute die lokalen Vorurteile und Perspektiven ausdrücken, müssen ihre Membrane weiter öffnen, breitere Informationsströme herein- und hinausfließen lassen. Sie müssen ihre Leser, Hörer und Zuschauer ermutigen, sich in die Vorurteile und Perspektiven der anderen Länder, mit denen das eigene längst eine politische Gemeinschaft bildet, hineinzuversetzen."
Archiv: Nepszabadsag

Nouvel Observateur (Frankreich), 28.05.2009

Unter der hübschen Überschrift "Schuld ist immer das Schwein" stellt der französische Historiker Michel Pastoureau, der sich auf die Geschichte der Farben, Symbole und Tiere spezialisiert hat, in einem Gespräch seine Kulturgeschichte des Schweins vor: "Le Cochon. Histoire d'un cousin mal aime" (Gallimard). Pastoureau, der zuletzt eine Geschichte der Farbe Blau veröffentlichte, erklärt darin unter anderem die besondere Mischung aus Anziehung und Ablehnung des Menschen gegenüber dem Schwein: "Es liegt an seiner zu großen biologischen Verwandtschaft zum Menschen. Nicht nur in seiner Morphologie ähnelt das Schwein dem Menschen sehr. Deshalb gewinnt man allerlei medizinische Produkte aus ihm (viel mehr als aus Affen): Insulin, auch seine Nebennieren werden benutzt, man entnimmt ihm ein Stück Haut ... Bereits die antiken Mediziner und später das arabische Mittelalter wussten es, was die heutige Medizin voll und ganz bestätigt: Sein Inneres ist uns völlig gleich! Insofern lassen sich auch Organe des Schweins in Menschen transplantieren. In Zeiten der Chirurgie kann eine Sau sogar ein menschliches Embryo tragen! Ich weiß nicht, welche psychologischen Probleme man damit bekommt, im Bauch eines Schweins gewesen zu sein, aber in Kanada hat man das gemacht."

Salon.eu.sk (Slowakei), 26.05.2009

Der Soziologe Zygmunt Bauman macht sich in einem (aus der Gazeta Wyborcza übernommenen) Text Gedanken über das fortwirkende Gift der Totalitarismen und wendet sich gegen Slavoj Zizek, der das Wesen der Totalitarismen nur im Gulag und in Auschwitz lokalisieren wollte, statt "über den Stacheldraht hinaus" zu blicken. "Es ist offensichtlich, dass der Täter, indem er Leid zufügt, sich moralisch befleckt ist. Aber auch die Opfer kommen durch die Zerstörung moralischer Impulse und Hemmungen nicht sicher und unbefleckt davon. Warten sie auf ihre Chance, es den Tätern in ihrer eigenen Münze heimzuzahlen? Ja, aber zuerst werden sie in die Geheimnisse eines Lebens eingeweiht, in dem diese Münze die Währung ist."
Archiv: Salon.eu.sk

Merkur (Deutschland), 01.06.2009

Unsere Auffassung von Literatur, wie sie "diskutiert, rezensiert, analysiert, urheberrechtlich geschützt, raubgedruckt und parodiert" wird, ist gänzlich von der Technik des Buchdrucks bestimmt, erklärt der Komparatist Michel Caouli. Was aber, wenn Texte elektronisch gelesen werden? Vielleicht lassen sich künftige Lesegeräte so programmieren, dass sie überflüssige Adverbien herausfiltern, oder ellenlange Landschaftsbeschreibungen? "Den Text für meine eigenen Zwecke benutzen heißt, dass ich nicht mehr tue, was Gelehrte, Kritiker und viele Normalleser tun: Ich interpretiere den Text nicht mehr, lese ihn nicht mehr mit dem Ziel, die Intentionen des Autors zu verstehen. Wenn ich mir Martin Scorseses 'GoodFellas' ohne Ton anschaue und mir eine Händel-Arie anhöre (vom Singen ganz zu schweigen), ohne Rücksicht auf den ursprünglichen Kontext dieser Werke, wenn ich Adverbien aus Rohinton Mistrys Prosa verschwinden lasse - dann ist all das nur möglich, wenn ich mich von der Pflicht befreie, dem Werk treu zu bleiben. Unter bestimmten Bedingungen (im Klassenzimmer zum Beispiel oder bei einem wissenschaftlichen Aufsatz) kann es interessant sein, die komplexen Intentionen eines Autors zu ergründen, aber es gibt keinen Grund, warum mein Gebrauch des Textes sich darauf beschränken sollte."

Weiteres: Hennric Jokeit und Ewa Hess fragen, welche Rolle die Neurowissenschaften im 21. Jahrhundert spielen werden, da sich der Kapitalismus von einem repressiven in einen liberalen gewandelt und auch unsere seelische Störungen verändert hat: "Die Neurose, ein aus Schuld, Ohnmacht und versagender Disziplin geborenes Leiden, verlor an Bedeutung. Das an der Selbstverwirklichung scheiternde Selbst schob sich in den Vordergrund: Es begann der Siegeszug der Depression."

Weiteres: Paul Cantor entdeckt intelligentes Leben im Fernsehen. Karl Heinz Bohrer liest noch einmal Jürgen Habermas' große Schrift "Der philosophische Diskurs der Moderne". Und John Derbyshire stellt Dennis Duttons "Art Instinct" vor.
Archiv: Merkur

Magyar Narancs (Ungarn), 28.05.2009

In den Kampagnen für die Europawahl geht es vordergründig um innenpolitische Themen. Vielen ist auch nicht ganz klar, was die EU macht und ob das überhaupt wichtig ist. Trotzdem sollte man zu den Wahlen zum Europäischen Parlament gehen, meint Balint Szlanko: "Eines unserer Grunderlebnisse hinsichtlich der EU ist, dass sie fern, unerreichbar und nicht zu beeinflussen ist. Das beste Mittel zur Überbrückung der Kluft zwischen Regierenden und Regierten ist aber die Stimmabgabe. Tatsache ist, dass es dem Europäischen Parlament bislang nicht gelang, diese Kluft zu überbrücken. Dennoch sollten wir wählen gehen, weil die streckenweise ziemlich realitätsferne EU mit der Wirklichkeit am ehesten noch durch das Parlament verbunden ist - trotz der vielen Possen, die in seinen Sälen gerissen werden. Der schwerfällige, sich im Labyrinth der Diplomatie regelmäßig verirrende Europarat und die seit einem Jahrzehnt mit einer Identitätskrise kämpfende EU-Kommission allein sind nicht regierungsfähig. Das Parlament nimmt die Ideale der EU ernster als die Beamtenriege der EU-Kommission oder die Mitgliedsländer, die sich über ihre provinziellen Interessen oft nicht hinwegsetzen können. [...] Seine Selbstsicherheit, seinen Schwung verdankt es gerade dem Umstand, dass es gewählt wird. Es ist ein wirklicheres und nützlicheres Parlament als das im sinnlosen Widerstand von Regierungspartei und Opposition erstarrte Abgeordnetenhaus in Ungarn, aus dem die wirkliche Politik längst ausgezogen ist. Die EU wird eine immer größere Rolle in der Regierung von Europa spielen. Daher ist es wichtig, dass ihre demokratische Kontrolle stabil ist. Das Europa-Parlament leistet gute Arbeit. Seien Sie so nett, und unterstützen Sie es mit guten Parlamentariern!"
Archiv: Magyar Narancs

New Republic (USA), 17.06.2009

Es ist kein guter Artikel, aber mit so frenetischem Abscheu geschrieben, dass man ihn doch zu Ende liest. Isaac Chotiner zeichnet - unter der Überschrift "The Puffington Host" - den Weg Ariana Huffingtons nach, die ihre ersten Bücher noch unter dem Namen Stassinopoulos schrieb und zuerst durch reaktionäre Statements gegen den Feminismus auffiel. "Es braucht halt eine bestimmte Art der Intelligenz um zu wissen, wann man gegen den Strom schwimmt und wann man auf der Welle surft." Eines aber habe sie immer getrieben: der Hass auf die Presse. Dann kommt die übliche Kulturkampfprosa zu ihrem Blog Huffington Post: "Einige harte Fragen müssen doch gestellt werden über die machtvollen digitalen Usurpatoren. Denn die Blogosphäre und die Nachrichtenaggregatoren, die den Cyberspace dominieren, sind völlig abhängig - wie Parasiten - von jenen Institutionen, deren Bankrott sie bewirken."

Außerdem: Michael Kinsley ist nicht zufrieden mit dem neuen Konzept für Newsweek. Anne Applebaum bespricht das Buch "Spies - The Rise and Fall of the KGB in America" (Auszug) von einem Kollektiv von drei Autoren. Und Peter Green liest eine Neuübersetzung (Auszug) von Gedichten C.P. Cavafys durch Daniel Mendelsohn.
Archiv: New Republic

Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.06.2009

Die Blätter bringen zum achtzigsten Geburtstag Jürgen Habermas' am 18. Juni eine inhaltsreiche Nummer. Es schreiben zum Beispiel Seyla Benhabib (hier), Oskar Negt (hier) und Albrecht Wellmer. Axel Honneth empört sich bis heute über einen Brief, in dem Max Horkheimer Theordor W. Adorno vor Habermas' angeblich blinder Liebe zum jungen Marx warnt - Folge war, dass Habermas nicht am Frankfurter Institut für Sozialforschung weiterarbeiten konnte. Der Marxismus bleibt aber tatsächlich wichtig für Habermas, meint Honneth: "Von der marxistischen These einer Verselbstständigung ökonomischer Handlungsorientierungen wird er nicht mehr lassen; sie bestimmt, wenn auch unauffällig, so doch in steter Wiederkehr, seine Gesellschaftstheorie bis heute. Deren Produktionsweise ist zwar über die Jahre hinweg die einer ständigen Einarbeitung neuer Theorieansätze, einer ruhelosen Ausdifferenzierung von ursprünglichen Intuitionen und dementsprechend einer stetig wachsenden Komplexität des Gesamtprogramms gewesen. Aber was wäre dieses geradezu systemhafte Theorieganze heute ohne die moralische Antriebskraft, die aus den ersten Jahren einer Aneignung des Marxschen Werkes stammt?"

Bookforum (USA), 01.06.2009

Anhand einiger Neuerscheinungen fragt sich James Gibbons, ob es einen Boom afrikanischer Literatur gebe, der dem der lateinamerikanischen Autoren in den sechziger Jahren vergleichbar wäre - aber er macht einige Unterschiede aus: "Der lateinamerikanische Boom war bereits in den Institutionen und Milieus der eigenen Region verwurzelt, bevor die Bücher übersetzt und exportiert wurden. Die neue afrikanische Literatur ist alles andere als hausgemacht. Sie ist im Schmelztiegel der Globalisierung geboren und in weiten Strecken eine Literatur des Flucht und des Exils... Die Autoren sind meist vielsprachig, einem ganzen Strauß an kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Was sie zusammen mit Autoren aus Asien und Lateinamerika schaffen, ist eine dynamische und vielfältige Literatur der Globalisierung."
Archiv: Bookforum