Magazinrundschau

Da wurzelt nichts als Wahnsinn

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.12.2007. Im Merkur erklärt Rainer Paris, wie bescheuert es ist, immer recht zu haben. Il Foglio erzählt eine katholische Heldengeschichte aus Sibirien. Prospect beschreibt die Folgen des irischen Reichtums. Literaturen fragt Autoren, wie sie überleben. ADN cultura stellt bloggende Schriftsteller aus Brasilien vor. Elet es Irodalom leuchtet die dunkelsten Ecken der ungarischen Krise aus. Die London Review of Books macht uns die internationale Kreditkrise verständlich. Reset.doc debattiert über die westliche Linke und den Islam. Die New York Times hätte um ein Haar die Wahlen in Kenia gesprengt.

Merkur (Deutschland), 01.01.2008

Für den Soziologen Rainer Paris ist "Bescheuertheit" eine Methode, die es erlaubt, stets recht zu behalten, und wie sie funktioniert, legt er an einem Beispiel dar: "Ich erinnere mich an eine Talkshow aus Anlass eines Jahrestages von Tschernobyl. Darin erregte sich die Vertreterin einer Bürgerinitiative, die horrende Verantwortungslosigkeit der Politiker und Atomlobby zeige sich ja bereits daran, dass es für den Fall eines Super-GAU keinerlei Vorsorge oder Evakuierungspläne gebe. Als nun einer der Angesprochenen protestierte und darauf hinwies, dass man natürlich auch für einen solchen Fall Katastrophenpläne bereithalte, fuhr sie ihm erneut in die Parade und wertete dies als Eingeständnis der Unglaubwürdigkeit aller Versicherungen, eine Katastrophe wie die von Tschernobyl sei in Deutschland ausgeschlossen. Sowohl die Existenz als auch die Nichtexistenz von Katastrophenplänen - beides waren für sie klare Belege der Verantwortungslosigkeit."

Leider nicht online zu lesen ist Ivan Krastevs Artikel über Putins "Souveräne Demokratie": "Russland setzt auf den Zerfall der Europäischen Union."
Archiv: Merkur

Foglio (Italien), 22.12.2007

Piero Vietti erzählt eine katholische Heldengeschichte aus Sibirien. Dort hat der italienische Missionar Ubaldo Orlandelli seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder eine Gemeinde aufgebaut. "Es vergingen Jahre, in denen er im unendlichen Sibirien von hier nach dort reiste, per Flugzeug oder Schiff, auf Flughäfen mit Schotterpisten landete oder schäumende Flüsse hochfuhr. Er fing mit fünf Angestellten und fünf Freiwilligen an. In jedem Ort, in dem er ankam, suchte er die Katholiken. Er redete mit ihnen, las die Messe und ernannte einen Verantwortlichen. Er grub Jesus aus. Bald waren es zweihundert Angestellte und sechshundert Freiwillige. 1995 organisierte er die erste öffentliche Prozession in den Straßen Nowosibirsks. Es war Fronleichnam. Es nahmen insgesamt etwa zehn Leute teil, vielleicht weniger. Aber diese zehn waren außergewöhnlich in Russland."
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Prospect (UK), 01.01.2008

In der Titelgeschichte porträtiert John Murray Brown die Neureichen Irlands und beschreibt die Umwälzungen, die der beispiellose ökonomische Erfolg des Landes mit sich bringt: "Eine Konsequenz besteht darin, dass die Iren sich selbst heute anders sehen. Das Bild der bescheidenen, aber poetischen Katholiken im Schatten der steifen und versnobten englischen Protestanten gilt für beide Seiten nicht mehr, nicht einmal als Karikatur. Die Nation der 'Heiligen und Gelehrten' hat im letzten Jahrzehnt bewiesen, dass sie auch Geschäftssinn besitzt. Garret FitzGerald glaubt, dass die Geschwindigkeit und das Ausmaß der ökonomischen Veränderungen in ganz Europa ohne Beispiel ist. Manche Iren erleben angesichts des sozialen Wandels einen Orientierungsverlust - etwa, wenn es um die plötzliche Massen-Einwanderung geht (zehn Prozent der Bevölkerung sind inzwischen außerhalb Irlands geboren). Außerdem ist die eine Institution, die sich am entschiedensten der irischen Begeisterung für den Hyper-Kapitalismus widersetzt - die katholische Kirche - schwächer und marginalisierter denn je zuvor, nicht zuletzt wegen der Missbrauchsskandale."

In einer langen Liste erklären Prospect-Autoren, welche sie für die über- und welche für die unterschätztesten Kulturereignisse des Jahres 2007 halten. Nur der Autor Julian Gough weigert sich, etwas beizutragen - und zwar aus gutem Grund: "Eine der Annehmlichkeiten, die das Leben in einem perfekten freien Markt mit einer perfekten freien Presse bietet, in der vorurteilslose Kritiker informierte und gebildete Verbraucher auf genau die Dinge hinweisen, derer sie bedürfen, ist es, dass kein einziger kultureller Gegenstand je unter- oder überschätzt wird."

Weitere Artikel: Raymond Tallis schildert die Revolution des Denkens, die der Gedanke des antiken Philosophen Parmenides, dass es das, was nicht ist, gar nicht gibt, ausgelöst hat - und fordert mit Blick nicht nur auf die Quantenphysik eine radikale Abwendung von Parmenides. Der Historiker Bernard Wasserstein blickt zurück aufs Jahr 1968, in dem er als Student den sowjetischen Dichter Jewgeni Jewtuschenko als Poetik-Professor in Oxford vorschlug - Jewtuschenko wurde bei der Wahl dann nur - oder immerhin - Dritter.
Archiv: Prospect

Literaturen (Deutschland), 01.01.2008

Der Schwerpunkt des Januar-Hefts ist dem Thema Leben vom Schreiben gewidmet, der Frage also, wie man als vom Bestseller-Status um einiges entfernte/r Schriftsteller/in heute durchkommen kann. Im großen Gespräch geben sich Ulrike Draesner, Dietmar Dath und John von Düffel erstaunlich optimistisch, jedenfalls kämpferisch. Dath zum Beispiel meint: "Man kann natürlich die Konzentrationsprozesse und all das beschreiben, und das ist in der Tat durchschlagend, schlimm und verheerend. Aber es sind, wie Ulrike Draesner vorhin gesagt hat, zunächst mal einfach Veränderungen. Und die Perspektive 'Die Welt geht unter' ist nie produktiv. Das alles sind typische Vorgänge - Entschuldigung, das Wort heißt Kapitalismus.Wenn ein abstraktes Kriterium, nämlich Profit, wichtiger ist als alles andere, dann kommt man an den Punkt: Jeder ist sich selbst ein Würstchen. Jeder verweist auf eine andere Abteilung, jeder sagt: Ich musste ja, weil ... Da wurzelt nichts als Wahnsinn. An irgendeiner Stelle muss das durchbrochen werden, von irgendjemandem."

Weitere Artikel: Besprochen werden unter anderem Annette Pehnts Roman "Mobbing", die deutsche Erstübersetzung von Edgar Bernays' PR-Klassiker "Propaganda". Aus den festen Rubriken und Kolumnen: Bundestagspräsident Norbert Lammert liest Urs Widmers Buch "Shakespeares Königsdramen", Sibylle Berg fragt sich, was man über die Welt von heute wirklich wissen muss, Jan Koneffke berichtet aus der dem Westen vielfach fernen rumänischen Parallelwelt, Aram Lintzel geht es um Websites des Scheiterns, Franz Schuh hat Flavio Sorigas hochliterarischen Kriminalroman "Der schwarze Regen" gelesen und Daniel Kothenschulte die erneute Western-Verfilmung "Todeszug nach Yuma" gesehen.

Im Editorial wird ein neues, einmal im Jahr erscheinendes Literaturen-Format angekündigt: Literaturen-Special mit Originaltexten von Autoren. Das erste Heft, eine von Daniel Kehlmann zusammengestellte Kurzgeschichten-Sammlung, wird im Sommer 2008 erscheinen.
Archiv: Literaturen

Gazeta Wyborcza (Polen), 24.12.2007

Ganz unweihnachtlich spricht der polnische Historiker Janusz Tazbir über polnische Komplexe und die Angst, in Europa aufzugehen: "Je rationaler wir an unsere Vergangenheit herantreten, desto besser werden wir unseren zivilisatorischen Beitrag zur europäischen Kultur begreifen, und desto besser wird sich unsere Identität erhalten. Das ist viel besser, als großen Gestalten der Geschichte - etwa Nietzsche - polnische Wurzeln anzudichten. Wir geraten immer wieder zwischen die Skylla der Megalomanie und die Charibdis von Minderwertigkeitskomplexen."

Weitere Artikel: "Was vor allem auffällt, sind Bücher. Überall Bücher. Zeitungsausschnitte, Hefte, Notizblöcke." So sieht das Arbeitszimmer des vor knapp einem Jahr verstorbenen Ryszard Kapuscinski, das Artur Domoslawski aufgesucht hat. "Alles so, wie er es hinterlassen hat, als er ins Krankenhaus ging", beteuert die Witwe. Außerdem: ein Gespräch mit dem Dichter Marian Pankowski, der kontroverse Themen wie Religionskritik nicht scheut, weil er seit 1945 in Brüssel lebt und sich nicht nach dem polnischen Zeitgeist richtet; und dem Schriftsteller Jacek Dukaj, dessen letzter Science-Fiction-Roman "Lod" ("Das Eis"), in dem es keinen Ersten Weltkrieg gibt und Polen als Staat nicht wiedererrichtet wird, begeistert aufgenommen wurde.
Archiv: Gazeta Wyborcza

ADN cultura (Argentinien), 22.12.2007

Blogs, oder "die Kunst, das Leben zu erzählen": Susana Reinoso stellt in ihrer Kolumne mehrere argentinische Blogschriftsteller bzw. -journalisten vor, deren Internetproduktionen ein zweites Leben in Buchform begonnen haben. In publizistischer Hinsicht besonders effektiv zu sein scheint Hernan Zin, der nach erfolgreichen Blogs bzw. Büchern über Kindesmissbrauch und Sextourismus in Kambodscha und über die katastrophalen Lebensbedingungen der Bewohner des Gaza-Streifens nun ein Projekt über neue Mauern weltweit in Angriff genommen hat. "Das Besondere an diesem Buch ist, dass es ganz offen die Beiträge der Blog-Leser integriert. Die Art, wie auf diese Weise Daten über die Schandmauern des 21. Jahrhunderts - zwischen Mexiko und den USA, Indien und Pakistan, Saudiarabien und dem Jemen - zusammengetragen werden, hat etwas völlig Neuartiges. Kommunikation heute ist eine beeindruckende Bewegung aus zwei Richtungen, die genau in dem Moment aufeinandertreffen, in dem es zwingend notwendig wird, das Leben zu erzählen."

Währenddessen beschreibt der Schriftsteller Javier Marias, durchaus selbstkritisch, wie unangenehm es sein kann, wenn sich auf einmal "alle Welt" für die gleichen Autoren begeistert wie man selbst: "Am schlimmsten ist es, wenn Leute, die wir für Vollidioten halten, auf einmal ausgerechnet einen unserer Lieblingsschriftsteller entdecken und anfangen, ihn ständig zu zitieren und vor sich herzutragen: Es ist, als würde man enteignet. Anderen geht es umgekehrt zweifellos genauso."
Archiv: ADN cultura

Elet es Irodalom (Ungarn), 21.12.2007

Mehrere Beiträge analysieren den Kampf der beiden großen Parteien "auf Leben und Tod". Der nicht-ungarische Leser kratzt sich am Kopf und fragt entgeistert, wie ein Land mit solcher Fähigkeit zur Selbstkritik in einer Krise gefangen sein kann.

In Ungarn gibt es keinen Konsens über die Regeln der Demokratie, meint der Philosoph Janos Kis. Er sieht den Grund im zu schnellen Übergang von einem System zum anderen: "Die ungarische Gesellschaft war auf eine Wende nicht vorbereitet, und beide Seiten, rechts und links, starteten in die frische Demokratie als Gefangene ihrer widersprüchlichen Geschichte, ihrer anachronistischen Weltbilder und ihrer Vorstellungen vom jeweils anderen - und haben seither viel zu viel Zeit verschwendet. Diese anachronistischen Ideologien könnten nicht aufrechterhalten werden, würden sie sich nicht ständig gegenseitig rechtfertigen." Doch liege die Verantwortung nicht allein bei den Politikern, weshalb Kis vorschlägt, mit dem Nachdenken noch einmal von vorne anzufangen: "Auch die Intellektuellen sind verantwortlich."

Und die Journalisten, ruft der Journalist Janos Szeky. "Vor 25 Jahren gab es in Ungarn manch gute Journalisten, einige lesbare Zeitungen, den Rest kauften die Menschen aus Gewohnheit. Die Partei dachte, der Journalist diene der Politik der Partei und ist er dazu nicht in der Lage, so soll er sein Maul halten. Den Großteil der Presse durchdrang eine grinsende Gemütlichkeit. Heute gibt es manch gute Journalisten, einige lesbare Zeitungen, den Rest kaufen die Menschen aus Gewohnheit. Die Parteien denken, der Journalist diene der Politik der Partei und ist er dazu nicht in der Lage, so soll er sein Maul halten. Den Großteil der Presse durchdringt ein grinsender Zynismus. In der Zeit dazwischen hätte die politische Presse in Ungarn für einen historischen Augenblick lang die Chance gehabt, erwachsen zu werden. Aber der Augenblick verging, das arme Würmlein konnte nicht wachsen. ... Die überwiegende Mehrheit unserer Politiker konnte sich von Anfang an nicht vorstellen, dass es in den Medien souveräne Individuen geben kann, die ohne zentrale Anweisung schreiben oder reden - und sorgte nach Möglichkeiten dafür, dass es sie auch nicht gibt. Daraus wird bei uns aber keine demokratische Kontrolle mehr entstehen können, keine vierte Gewalt, kein Wachhund.?

Für ein tieferes Problem als die politische Krise hält der Medienwissenschaftler Peter György die Unfähigkeit, sich in zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Räumen zurechtzufinden: "Die schwere und komplizierte Existenz in der intensiven kulturellen Dichte - die Toleranz fordert und schafft - ist unsere gemeinsame Zukunft. Ungarn bewegt sich aber heute in die entgegengesetzte Richtung. Seine absurden, veralteten und agressiven monokulturellen Manien gehören zum dunkelsten und letzten Erbe des Kadar-Regimes, an dem sich Rechte und Linke gleichermaßen beteiligen. Erstere träumen den hoffnungslosen Traum der Gemeinschaft, des Nationalstaates weiter: Manche zeitgenössische rechte Kulturbeschreibungen scheinen die Xenophobie der ehemaligen Staatspartei zu beschwören. Die Linke hingegen hat ihre Kompetenz bezüglich der Modernität verloren und glaubt im Gegensatz zum nostalgiegläubigen rechten Lager an nichts mehr, demzufolge sie auch nichts mehr von jener Kultur versteht, die uns durch die Krisen der zeitgenössischen Gesellschaften vermittelt wird. Hier befinden wir uns jetzt. Der Ort, an dem wir leben, treibt in der Tat weg vom Gleichzeitigkeitserlebnis zeitgenössischer Gesellschaften, weg von einer grundsätzlichen Bedingung des Dialogs, der Erfahrung einer gemeinsamen Gegenwart."

London Review of Books (UK), 27.12.2007

John Lanchester unterzieht sich der heroischen Aufgabe, die Hintergründe der internationalen Kreditkrise und damit auch den aktuellen Stand des Geldsystems mit seinen Futures, Optionen und Derivaten zu erklären. Und zwar vollkommen verständlich, sogar spannend - nur nicht in Ausschnitten. Daher ein Zitat aus dem Text-Einstieg, in dem Lanchester seinen Banker-Freund Tony vorstellt: "Eher zufällig erwähnte er einmal, was er (als Abteilungsleiter) seinen neuen Angestellten, die frisch von der Uni kommen, bezahlt: '45.000 Pfund im Jahr, mit einem garantierten Bonus zwischen zehn- und zwölftausend.' Ich wies darauf hin, dass diese 22-Jährigen damit in manchen Fällen mehr verdienten als die Institutsleiter der Universitäten, an denen sie gerade ihren Abschluss gemacht hatten. Er zuckte mit den Schultern und lachte. 'So ist das nun mal', sagte er. Außerdem werden die zehn Prozent in jeder Abteilung seiner Firma mit den schlechtesten Leistungen am Ende jeden Jahres gefeuert. Er war überrascht, dass mich das überraschte. 'Das ist der Standard', meinte er. 'Ich dachte, das macht man überall so.'"

Weitere Artikel: Im British Museum hat, wie Craig Clunas berichtet, die Ausstellung "The First Emperor" zu bieten, was es so nicht überall gibt: siebzehn echte Krieger der chinesischen Terracotta-Armee. Abgedruckt wird ein Tagebuch des BBC-Reporters Ben Anderson von seinem Aufenthalt in Afghanistan, wo er eine Dokumentation drehte. Adam Shatz porträtiert die US-Außenministerin Condoleezza Rice. Julian Bell bespricht den dritten Band von John Richardsons Picasso-Biografie.

Espresso (Italien), 21.12.2007

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk erzählt von seinem Onkel, der in einem Dorf am Westufer des Bug lebte und kurz vor Weihnachten gestorben ist. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verlief dort die Grenze zwischen sowjetischer und deutscher Besatzungszone. "Mein Onkel betätigte sich als Schmuggler. In der Nacht schafften sie mit ihren Barken industriell gefertigte Konsumwaren rüber in die sowjetische Zone und kamen mit reinem Alkohol wieder zurück. Auf dem Hof meines Onkels waren Deutsche stationiert. Sie versteckten ihre Waffen hinter großen Tarnschirmen. Die Familienlegende will es, dass sie sich sehr korrekt verhielten. Sie tauschten ihre militärischen Rationen gegen frische Milch und Eier. In der Morgendämmerung des 22. Juni 1941 verschwanden sie. Auf dem Land gab es einige, die ihnen nachtrauerten."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Alkohol, Stasiuk, Andrzej

Point (Frankreich), 20.12.2007

Bernard-Henri Levy hält in seiner Kolumne beharrlich an einem Thema fest, das - wie noch jede völkermordähnliche Aktion in den letzten hundert Jahren - Schwierigkeiten hat, in die öffentliche Wahrnehmung zu gelangen: Darfur. Die Meldung der Woche ist für ihn, dass Abdul Wahid al-Nour aus Frankreich ausgewiesen werden soll, falls er sich weiterhin weigert, an Friedensgesprächen in Libyen teilzunehmen. Al-Nour vertritt die Sudanesische Befreiungsarmee. Zur Frage, ob er die Verhandlungen zu Recht verweigert, will BHL nicht Stellung nehmen: "Das Wichtige ist vielmehr, dass wir hier einen Menschen vor uns haben, der den in Khartum herrschenden Anhängern des Dschihad und der Scharia, einen gemäßigten, aufgeklärten und laizistischen Islam entgegenhält. Und das Paradox, der Skandal, wäre, dass ausgerechnet dieser Liberale und Anhänger der mageren Internationale eines antiislamistischen Islams als der Verantwortliche der Krise behandelt und vom 'Vaterland der Menschenrechte' wie ein Pestkranker behandelt und verjagt wird."
Archiv: Point

ResetDoc (Italien), 19.12.2007

Resetdoc.org organisiert eine große Debatte über die westliche Linke und den Islam. Die italienische Philosophin Nadia Urbinati wendet sich gegen einen westlichen Manichäismus und plädiert für Multikulturalismus und Dialog. Ihr Modell bezieht sie unter anderem aus der Entspannungspolitik gegenüber dem Kommunismus, eine Politik, die auch italienische Innenpolitik gegenüber dem partito comunista war: "Toleranz und Dialog waren die einzigen Strategien, die einen Wandel in der kommunstischen Ideologie herbeiführen konnten und gleichzeitig bewahrten sie die 'korrekt Denkenden' (also die Liberalen und Demokraten) davor, selbst zu Fanatikern zu werden. Die Politik des Dialogs war keineswegs nur vorsichtig. Sie war normativ und prinzipiengeleitet. Dialog und Toleranz waren nicht nur deshalb wesentlich, weil sie die Kommunisten innerhalb des Verfassungssystems hielten, sondern weil sie auch halfen, die italienische Demokratie selbst zu festigen."

Michael Walzer von der Zeitschrift Dissent erwidert dagegen: "Linke Intellektuelle sollten sich bei ihren Gesprächspartnern Grenzen setzen. Ich bin sicher, dass mir Nadia in Bezug auf die Nazis hier recht geben würde, es trifft auch auf Stalinisten und heute auf islamische Eiferer zu. Wie sollen sich westliche Linke heute gegenüber dem Islam verhalten? Wir sollen linke Prinzipen der Demokratie bei jeder sich bietenden Gelegenheit verteidigen. Ich sehe in dieser politischen Position keine Intoleranz und keinen Manichäismus." Die ganze Debatte kann man hier nachlesen.

Auch Charles Taylor, die Koryphäe des Mutikulturalismus, äußert sich. Er wendet sich gegen Paul Bermans kritischen Essay über Tariq Ramadan (hier unser Resümee), den er als Gesprächspartner des Westens Willkommen heißt.
Archiv: ResetDoc

Moskowskije Novosti (Russland), 21.12.2007

"Die russische Kultur sollte einen neuen Weg der Entwicklung finden", meint Michail Schvydkoy, Leiter des russischen Kulturministeriums in einem umfangreichen Interview. "Die Leute in Russland geben unheimlich viel Geld für einen Urlaub im Ausland, für schöne Kleidung oder Essen aus. Als ob sie vergessen hätten, dass der Mensch sich nicht nur physisch, sondern auch geistig nähren muss. Früher hat man uns gelehrt einander zu respektieren, weil wir eine Einheit bildeten. Das 20. Jahrhundert hat ein neues Verständnis mit sich gebracht: Wir müssen einander respektieren, weil wir verschieden sind. Darin besteht ein grundlegender Unterschied unserer Zeit zu der damaligen. Deshalb ist die Erhaltung der ethnischen Gemeinschaften heutzutage viel wichtiger als die der Ölreserven."

"In 50 Jahren wird Russland mit der Tatsache konfrontiert sein, dass ein Drittel seiner Bevölkerung Muslime sind ", schreibt Vassilina Orlova in "Position und Prozess". In ihrem Hintergrundbericht betrachtet die Journalistin die Rolle der wachsenden islamischen Gemeinschaft in Russland. "Im Unterschied zu Europa, wo die islamische Bevölkerung aus Immigranten besteht, gehören die russischen Muslime zu den Ureinwohnern. In vielen ex-sowjetischen Republiken ist der Islam längst zur offiziellen Staatsreligion aufgestiegen. Allerdings gibt es in den russischen Islam-Kreisen keinen gemeinsamen Führer. Diese Situation ist nichts Neues, denn was Hierarchie angeht, gehört der Islam zu den demokratischsten aller monotheistischen Religionen. Aber trotz dieser Freiheit, zeigen die Muslime einen erstaunlichen Zusammenhalt, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interesse geht."

Al Ahram Weekly (Ägypten), 27.12.2007

In Ägypten wird es im nächsten Jahr ähnlich kontrovers zugehen wie in diesem, schätzt Assem El-Kersh. "Die Regierung und die Opposition, die Regierung und die Presse, die Presse und die Presse, der neue Justizminister und die ihn verachtenden Richter, der Luxus von Kairo und die Armut von Oberägypten, der Konflikt zwischen Überfluss und Bedürftigkeit, der die Gesellschaft immer mehr durchdringt und sich in leeren Nordküsten-Resorts und übervollen Elendsvierteln manifestiert. Der Gegensatz wurde in verschiedensten Zusammenhängen deutlich, direkt und metaphorisch: Proteste in Fabriken, Universitäten und den Straßen der Innenstädte auf der einen Seite, auf der anderen die immer rigoroser werdenden Zentralen Sicherheitskräfte; die Neun-Uhr-Nachrichten im Staatsfernsehen und die Überschriften der unabhängigen Tageszeitungen, offizielle Verlautbarungen und Talkshow-Gäste, knappe Outfits und der Hijab, Blogger und Zensoren..."
Archiv: Al Ahram Weekly

New York Times (USA), 23.12.2007

Joshua Hammer, lange Zeit Afrikakorrespondent von Newsweek, hat für eine interessante Reportage im Sunday Magazine der Times den Norden Kenias besucht, wo ein Großteil der muslimischen Minderheit des Landes lebt. Hier bewarben sich für die gestrigen kenianischen Wahlen der Politiker Joseph Lekuton, dem man seine Nähe zu den USA vorwirft, und Abubakar Godana Harugura, dem man eine Nähe zum Islamismus nachsagt - und die Politik gerät in ein Raster, das dieser Region bislang fremd war: "Und bald geriet ich selbst hinein, denn es kamen Gerüchte auf, dass ich von der CIA bin und dass Harugura festgenommen und außer Landes gebracht worden war. Nichts von alledem war wahr, aber es zeigt, dass schon die Anwesenheit eines amerikanischen Reporters in einem unberechenbaren Wahlkampf unvorhersehbare Effekte haben kann."

Im Aufmacher des Sunday Magazines beobachtet Matt Bai die Clintons beim Wahlkampf. In der Book Review erinnert die Literaturprofessorin aus Harvard Leah Price daran, das vor Internet und Fernsehen das Buch als böses Medium galt - im 18. Jahrhundert war's. Mädchen durften nicht alleine lesen.
Archiv: New York Times
Stichwörter: Islamismus, Wahlkampf, Kenia, Bait