Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
18.10.2005. In der New York Review of Books bewundert Timothy Garton Ash die Bikinis der Iranerinnen. Le Monde diplomatique stellt fest, dass auch strenggläubige Iraner amerikanisches Fernsehen lieben. In Plus-Minus hofft der Philosoph Wojciech Sadurski unverdrossen auf die Vereinigten Staaten von Europa. Der Spectator hasst Blairpop von Coldplay, Franz Ferdinand und anderen Wimps. Die Weltwoche dekonstruiert Giorgio Agamben. Die London Review of Books liest bei Andrew Bacevich, dass die Amerikaner ihr Militär lieben, ihm aber nicht dienen wollen. In Le Point wünscht Mario Vargas Llosa den Franzosen einen eigenen Tony Blair.

New York Review of Books (USA), 03.11.2005

Der britische Historiker und Autor Timothy Garton Ash berichtet von seiner Reise durch den Iran. "Auf der Dachterrasse eines Restaurants in der wundersamen Stadt Isfahan konnte ich die Kontinuität der persischen Kultur beobachten, als ein Sänger begann, Verse des Dichters Hafis aus dem dem 14. Jahrhundert zu deklamieren. (Sie werden nicht oft hören, dass jemand Gedichte von Chaucer in einem englischen Pub singt)... Ich bekam auch einen Geschmack vom Leben hinter den hohen Gartenmauern in den Häusern der Mittel- und Oberschicht, wo das Kopftuch sofort abgenommen wird und man nur beißende Verachtung übrig hat für den spätrevolutionären Eifer des neuen Präsidenten Machmud Achmadineschad. Innerhalb von Minuten nach meiner Ankunft in einem solchen Hause neckten mich nur mit einem Bikini bekleidete Frauen, ich solle doch in ihren Swimming Pool kommen, während die Männer mir aus einer Flasche anboten, auf deren Etikett stand: 'Ethanol, 49 Prozent'."

Der Pianist und Musiktheoretiker Charles Rosen schreibt über den Wandel musikalischer Aufführungen (Wer spielt heute noch Hausmusik!) und empfiehlt Robert Philips "brillante" Studie "Performing Music in the Age of Recording". "Seine Hauptthese ist, dass sich mit der Aufnahme die Aufführungen in eine Suche nach immer größerer Präzision und Perfektion verwandelt haben, mit einem daraus folgenden Verlust an Spontaneität und Wärme."

Helen Epstein rechnet vor, warum sich Entwicklungsländer nur bedingt über die stetig wachsenden Hilfszahlungen westlicher Länder freuen können: "Mindestens sechzig Prozent der amerikanischen Entwicklungshilfe verlassen niemals das Land, sie gehen für Büro- und Reisenkosten drauf, für die Beschaffung amerikanischer Autos, Computer und andere Ausrüstung, sowie für solch großzügige Gehälter, dass ein einziges reichen würde, um Hunderte von afrikanischen Kindern für mehrere Jahre zu ernähren, zu kleiden und auszubilden."

Abgedruckt wird eine gekürzte Version des Human-Rights-Watch-Berichts über Misshandlungen von Gefangenen im Irak durch die 82. Airborne Division (hier die vollständige Version). Besprochen werden schließlich noch mehrere Neuerscheinungen zur Qualität der amerikanischen Colleges und gleich mehrere Bücher über den "Entertainer" Buffalo Bill.

Espresso (Italien), 20.10.2005

Fabrizio Gatti, der in der vergangenen Ausgabe von seiner Woche als Undercover-Immigrant im italienischen Auffanglager Lampedusa berichtet hat, erzählt nun, wieder in der Titelgeschichte, was aus den wirklichen Flüchtlingen geworden ist, die er dort kennengelernt hat. Der allgemeinen Auflage, Italien am 5. Oktober wieder zu verlassen, ist nach der Entlassung auf dem Festland wohl keiner gefolgt, schreibt Gatti. "Ibrahim hat nach einer Woche Arbeit gefunden. Ein Anruf bei einem Cousin genügte, um ihn wiederzufinden und das Finale seiner Reise zu rekonstruieren. Niemand hat ihn gefragt, was er studiert hat. Ein Abschluss in Geschichte bringt einem illegalen Einwanderer in Italien überhaupt nichts. Worauf sein neuer Arbeitgeber geschaut hat, sind seine Arme und Hände, ob sie robust genug für einen Maurer sind." Der für drei Euro die Stunde arbeitet.

Der Gegenwind, dem George Bush zunehmend ausgesetzt ist, kommt nicht so sehr aus dem Irak, sondern rührt eher von den öffentlichkeitswirksamen Fehltritten seiner Vertrauten her, meint Moses Naim. Silvia Bizio unterhält sich im Kulturteil mit der selbstredend "wunderschönen" Schauspielerin Charlize Theron, die demnächst in drei recht unterschiedlichen Rollen ins Kino kommt. Cesare Balbo kündigt eine Reihe von Filmen an, die sich mit realen Personen und Ereignissen beschäftigen.
Archiv: Espresso

London Review of Books (UK), 20.10.2005

Andrew Bacevichs Theorie des neuen amerikanischen Militarismus ("The New American Militarism: How Americans Are Seduced by War") kann Anatol Lieven nur zustimmen. Der euphorische Zuspruch, den die militärische Initiative im Irak unter Amerikanern genoss, "spiegelt einen - wirklichen oder angenommenen - Glauben in das wieder, was die Deutschen 'Soldatentum' zu nennen pflegten: die Vorrangstellung der militärischen Werte Mut, Disziplin und Selbstaufopferung, und die - ausdrückliche oder stillschweigende - Überzeugung der Überlegenheit dieser Tugenden gegenüber denen einer hedonistischen, verachtenswerten und unzuverlässigen Zivilgesellschaft und ihrer politischen Klasse. (?) Der wichtigste Widerspruch besteht jedoch zwischen der Quasi-Verehrung der Armee in weiten Teilen der amerikanischen Kultur und dem genauso verbreiteten Unwillen der meisten Amerikaner - gleich ob sie den Eliten oder den Massen angehören - in den Streitkräften zu dienen."

Weitere Artikel: Enttäuscht zeigt sich James Wood von John Bayleys Essay-Sammlung "The Power of Delight: A Lifetime in Literature: Essays 1962-2002", in der sich der eigentlich brillante Literaturkritiker bemühe, den Schein der Mühelosigkeit zu erwecken, und dadurch belanglos werde. Eric Hobsbawm entwirft eine kleine Geschichte der jüdischen Emanzipation und rühmt die Vorzüge der Diaspora. Für Ian Gilmour steht fest: Entweder die Tories machen Kenneth Clarke zu ihrem Parteichef oder sie haben endgültig das verloren, was zu einer "richtigen Partei" gehört - der Wille zur Macht. In den Short Cuts erklärt Thomas Jones anhand der These von Bat Ye'or zur Islamisierung Europas ("Eurabia: The Euro-Arab Axis"), wie man eine Verschwörungstheorie wirkungsvoll zusammenbraut. Und Peter Cambell begegnet Edward Munch von Angesicht zu Angesicht in dessen Selbstbildnissen, die zurzeit in der Royal Academy zu sehen sind und in denen "es scheint, als erkläre er sich sich selbst".

Nouvel Observateur (Frankreich), 17.10.2005

Der Debattenteil des Obs ist in dieser Woche zwei Publikationen aus der Sprachwissenschaft gewidmet. Jean-Marie Hombert, Linguist und Leiter eines interdisziplinären Projekts am CNRS, gewährt Einblicke in einige Themen und Ergebnisse des von ihm betreuten Sammelbands "Aux origines des langues et du langage" (Fayard). Darin werden Fragen untersucht wie: Wann hat der erste Mensch gesprochen? Gibt es eine Muttersprache? Ausgehend von der "Explosion des Wortschatzes" beim kindlichen Spracherwerb versuchen Wissenschaftler derzeit etwa, diese als Analogie für die Sprachentstehung zu deuten. Ebenso wie die Fähigkeit einiger Primaten, die - je nach drohender Gefahr durch Adler, Leoparden oder Schlangen - über unterschiedlich Alarmschreie verfügen. "Stellen wir uns vor, dass dieser Wortschatz schrittweise zunimmt und in einer noch feineren Kategorisierung der Gefahr mündet: Genau das ist dem Homo Sapiens gelungen. (...) Wortschatz und Syntax - die beiden Dinge, die die Primaten nicht kennen."

Und der Linguist, Sprachphilosoph und Erfinder des "Petit Robert" Alain Rey bekennt, dass sein vierbändiger "Dictionnaire culturel en langue francaise" (Le Robert), der den "Begriffen auf den Grund" gehe, eigentlich als ein "Anti-Dictionnaire" und eine "Gegen-Enzyklopädie" gedacht war. "Mein Projekt besteht darin, den Lesern die Wörter als Visionen der Welt vorzuführen, die sich in verschiedenen Kulturen entlang der Sprache ausgeprägt haben."
Stichwörter: Muttersprache

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 14.10.2005

Die Wahl des konservativen Kandiaten Mahmud Ahmadinedschad bei der Präsidentschaftswahl hat gezeigt, dass die iranische Opposition weitaus schwächer ist als angenommen, schreibt Martin Ebbing. "Eine weit größere Bedeutung kommt dagegen den vielen kleinen Initiativen vor allem im Kulturbereich zu, außerdem den täglichen, oberflächlich unpolitischen Widerstandshandlungen. Die Polizei hat längst vor den Satellitenschüsseln kapituliert, die nicht selten auf Häusern zu finden sind, an deren Eingängen schwarze oder grüne Fähnchen darauf hinweisen, dass hier besonders strenggläubige Muslime wohnen. Teheran erlebt derzeit einen Boom von neuen Galerien, in denen vor allem Frauen ihre Kunst ausstellen. Im Kino und in Fernsehserien werden lange tabuisierte Themen wie Scheidung, Mehrehen, Arbeitslosigkeit oder Drogenmissbrauch angesprochen."

Weiteres: Eric Klinenberg stellt die Sinclair Broadcast Group vor (Website), die mittlerweile 22 Prozent des amerikanischen Fernsehmarktes beherrscht und mit ihren 60 TV-Sendern vor allem die mittelgroßen Städte auf republikanische Linie bringt. Vicken Cheterian untersucht die farbigen Revolutionen in Osteuropa und Zentralasien und kommt zu dem Schluss, dass das politische System dort nicht gestürzt, sondern nur umgewälzt wurde. Außerdem plädiert Hicham Ben Abdallah El Alaoui für eine autochthone Demokratie in der arabischen Welt, Armand Mattelart fürchtet um eine Aufweichung der von der Unesco geplanten "Konvention über kulturelle Vielfalt" und Mike Davis wittert beim Wiederaufbau von New Orleans politische Ranküne.

Plus - Minus (Polen), 15.10.2005

Der Philosoph Wojciech Sadurski ist Lech Walesa dankbar, dass dieser letztens die Vereinigten Staaten von Europa als Idee wieder ins Gespräch brachte. "Es gehört Mut dazu, vor allem weil es in unserem politischen Kontext eher als Schreckensvision zitiert wird. Für die Euroskeptiker wurde die Verfassungsdebatte zum Anlass, um die ganze Integrationsidee in Frage zu stellen. Ihrer Meinung nach, sollte die EU auf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zurückgefahren werden - nichts mehr. Das würde aber die Grundidee - die der Solidarität, an die nicht zufällig Walesa erinnerte - negieren". Sadurski zitiert auch einen amerikanischen Publizisten: "Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Welt eine zweite Supermacht heranwachsen sieht, deren Einfluss noch steigen wird. Der historischen Dimension des europäischen Integrationsprozesses sind wir uns oft nicht bewusst."

Tomasz Jagodzinski freut sich über den Nobelpreis für Harold Pinter, und stellt fest: endlich eine weniger kontroverse und weniger politische Entscheidung, auch wenn Pinter seine pazifistischen Überzeugungen immer offen bekannte. "Er versichert jedoch stets, dass er auch bei seinen als antiamerikanisch geltenden Äußerungen stets die US-Regierung meinte. Pinter erinnerte vor einiger Zeit daran, wie er in den Achtzigern aus Nicaragua nach Amerika kam und sich schon auf Unannehmlichkeiten bei der Einreise vorbereitete. Er hatte sich schon 'Was geht Sie das an?' als Antwort zurecht gelegt, doch die Beamtin der Einwanderungsbehöre sagte: 'Sie sind Harold Pinter? Willkommen in den Vereinigten Staaten?'."
Archiv: Plus - Minus

Spectator (UK), 15.10.2005

Sie sehen aus wie Blair, hören sich an wie Blair und glauben, Blair sei "BRILLANT". Brendan O'Neill zeigt verächtlich auf die neue weichgespülte Generation von Britpoppern: "Von Coldplay zu Keane, von James Blunt zu Franz Ferdinand: die unabhängige Musikszene wird beherrscht von einigen der unerträglichsten, mittelklassigsten, nichtrauchendsten, drogenabstinentesten und Safer-Sex praktizierendsten Blair-Langweiler und Arschkriecher, die man je zu Gesicht bekommen hat." Die Musik spielt links, wie es scheint.

Tony Leon erklärt, warum Südafrika das einzige Land ist, das Mugabes Zimbabwe noch die Stange hält. "Mugabes wirkliche Unterstützer sind nicht die afrikanischen Massen, die er zu repräsentieren behauptet, sondern die verkrusteten postkolonialen Eliten Südafrikas. Mugabes antiwestliches Getrommel spricht ihre untergründige Unsicherheit, ihre Vorurteile und die Nostalgie nach Sowjetzeiten an." In der gleichen Manier teilt Leon auch an Mugabe aus. "Wenn es nicht genug Mais gibt, sagte er in einem Monty-Python-meets-Marie-Antoinette Moment, 'dann haben wir haufenweise Kartoffeln'. Berge von Schutt ebenso, hätte er ergänzen können, nachdem seine Bulldozer im vergangenen Winter mehrere Hunderttausend Hütten dem Erdboden gleichgemacht haben, im Rahmen der Operation Murambatsvina - 'Raus mit dem Müll'."
Archiv: Spectator

Gazeta Wyborcza (Polen), 15.10.2005

Bartosz T. Wilenski analysiert das "Phänomen Merkel" und versucht, ihre Chancen als erste Kanzlerin einzuschätzen: "Ob sie es schafft, hängt davon ab, ob sie die sozialdemokratischen Minister für sich gewinnen kann. Wenn die großen Parteien keine gemeinsame Sprache finden und ihre Debatten öffentlich austragen, sind Merkels Chancen gleich Null. Das Scheitern einer Großen Koalition und neue Bundestagswahlen würden die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands noch verstärken. Und sie wären Angela Merkels politisches Ende."

Außerdem: Lodz wird trendy! Immer mehr Künstler pilgern in die einstige Textilmetropole, wo ganze Viertel im Stile des Industrialismus des 19. Jahrhunderts erhalten sind. "Die alten Fabrikgebäude erwachen zu neuem Leben. Noch kann man das Phänomen nicht mit der Revitalisierung alter Hafenviertel in London oder Rotterdam vergleichen. Man darf aber hoffen, dass diese neue Mode eine nachhaltige Tendenz aufweist", schreibt Malgorzata Ludwisiak.
Archiv: Gazeta Wyborcza

Weltwoche (Schweiz), 14.10.2005

"Radikal, pauschal, scheißegal." Daniel Binswanger nutzt die Besprechung von Giorgio Agambens neuem Band "Profanierungen" um den italienischen Starphilosophen, der eine "neue Benchmark der Kathederprophetie" setzt, einmal mit schweizerischer Gründlichkeit zu dekonstruieren. "Worüber lohnt es sich noch nachzudenken, wenn man einmal bewiesen zu haben glaubt, dass die moderne Welt ein Konzentrationslager ist? Das Problem wird für Giorgio Agamben immer drängender. Schon in seinem 'Ausnahmezustand' war ein Kapitel der Frage gewidmet, wie dem biopolitischen Totalitarismus zu entkommen sei. Die Vorschläge wirkten jedoch zaghaft: Es müsse, meint er, ein positives Verhältnis zur 'Anomie', das heißt zu atomisierten, gesetzlosen Gemeinschaftsformen gefunden werden. Das existierende Recht müsse 'de-aktiviert' werden, damit ein neuer Gebrauch von Gemeinschaftsformen sich entwickeln könne. Als Beispiel nennt Agamben das subversive Potenzial des Karnevals. Kann man eine neue Welt herbeifeiern?"

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Martin Amis erklärt Sandro Benini, warum er mit 56 Jahren schon seine Autobiografie geschrieben hat. "Ich hoffte zumindest, das Image des 'bad boy' mit jenem des 'bad man' einzutauschen." Urs Gehriger und Marwan Shehadeh beschreiben im zweiten Teil der Serie über den Aufstieg Abu Mussab al-Sarkawis das Netzwerk im Irak und treffen einige Mitstreiter des Terroristen in Jordanien. Markus Schneider diskutiert die Forderung des Präsidenten der Nationalbank, Jean-Pierre Roth, die Schweizer sollten länger arbeiten. Nina Streeck unterhält sich mit dem Gründer von Transparency International, Peter Eigen, über Korruption und geht gleich in medias res. "Ich habe Ihnen ein kleines Geschenk mitgebracht, Truffes von Sprüngli (hier)." - "Das ist lieb." - "Natürlich hoffe ich im Gegenzug darauf, dass Sie sich länger als die vereinbarte Stunde Zeit nehmen. Fühlen Sie sich schon bestochen?"
Archiv: Weltwoche

Nepszabadsag (Ungarn), 15.10.2005

Der in der Vojvodina (heute Serbien) lebende ungarische Schriftsteller György Szerbhorvath analysiert die Literaturszene im ehemaligen Jugoslawien: "Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte die 'Trümmerliteratur' eine Schlüsselrolle in der geistigen Erneuerung Deutschlands. In Japan begann die yakeoto seidai, die verbrannte Generation mit einer neuen, rohen Stimme von den Erfahrungen des Krieges in ihren Werken zu erzählen. In dieser Ecke des Balkans ist nichts dergleichen zu beobachten. Das liegt offensichtlich unter anderem daran, dass der Diskurs über Opfer und Täter stecken geblieben ist. Die Kroaten betrachten sich als Opfer, die letztendlich siegten. Die Bosnier sehen sich als Opfer. Die Serben schweigen - sowohl über die Niederlage als auch über die Verantwortung. Die jüngere Schriftstellergeneration winkt bei den auf Verschwörungstheorien basierenden Geschichten der älteren Schriftsteller ab und wendet sich der Jugonostalgie zu."

Die Zeitung druckt den Nachruf von György Konrad auf Istvan Eörsi.
Archiv: Nepszabadsag

Economist (UK), 14.10.2005

Nicht nur gegen den guten Geschmack, auch gegen die Verfassung hat George Bush mit der Nominierung Harriet Miers zu Vorsitzenden des Obersten Gerichts verstoßen, schreibt ein erboster Economist. "Im Grundsatzpapier 'Federalist 76' rechtfertigte Alexander Hamilton die beratende Funktion des Senats mit der Begründung, dass diese einen Präsidenten davon abhalten würde, dieses Amt an Menschen zu verleihen, die 'ihm persönlich verbunden' oder so unbedeutend und fügsam sind, dass sie nur 'ergebene Werkzeuge seines Wohlgefallens' wären ... Werden die Mitglieder des Senats-Justizkommittees ihr Augenmerk darauf richten, wo es zu sein hat, nämlich auf Miers' Eignung und ihre Beziehung zum Präsidenten oder werden sie lediglich Zeit verplempern und sie darüber ausfragen, wie sie in Sachen Abtreibung stimmen wird? Sollte es je einen Zeitpunkt gegeben haben, an dem der Senat aufgefordert wäre, sich über die kulturellen Fehden zu erheben, dann jetzt."

Weitere Artikel: Der Aufmacher ist der Nachfolge des scheidenden Präsidenten der amerikanischen Notenbank Alan Greenspan gewidmet. Doch wer, fragt der Economist besorgt, ist imstande, dieses entscheidende Amt zu übernehmen? Der Economist kann dem geflügelten Wort Gerhard Schröders nur Recht geben - Deutsche Koalitionsverhandlungen ähneln den Paarungsversuchen von Stachelschweinen: Beide gehen seeehr langsam vonstatten. Ob gut oder schlecht, diese Ladies retten jeden Film, schreibt ein schmachtender Economist über die weiblichen Stars des Kinoherbstes. Und im Nachruf würdigt der Economist Leo Sternbach, den leidenschaftlichen Chemiker und Erfinder des Valiums, der die Versuchsratten dazu brachte, "froh und munter auf dem Boden des Käfigs umherzulaufen, als gäbe es das Laufrad nicht".

Außerdem: Wie es das Modell der "Grippebörse" erlaubt, Grippewellen zuverlässig vorherzusagen, dass neue Studien den ökonomischen Nutzen von Impfungen belegen und damit Impfungen als regelrechte Zukunftsinvestition ausweisen, und schließlich ob mit Fortschritten in der Erdbeben-Prognose zu rechnen ist.
Archiv: Economist

Point (Frankreich), 14.10.2005

Anlässlich des Erscheinens des "Dictionnaire amoureux de l'Amerique latine" (Plon) traf Le Point in Madrid seinen Herausgeber, den peruanischen Schriftsteller Maria Vargas Llosa. Llosa spricht über Israels Rückzug aus dem Gazastreifen, linke Intellektuelle und zeigt erneut seine bekanntermaßen kritische Haltung gegenüber dem französischen Antiamerikanismus und dem Nein zur europäischen Verfassung. Die französische Haltung gegenüber dem Irakkrieg etwa sei ihm gleich "viel weniger ,sauber?" erschienen, als ihre Vertreter vorgegeben hätten. "Mal ehrlich, haben Sie nicht den Eindruck, dass dieser durch einen wilden Antiliberalismus verdoppelte Antiamerikanismus für die Franzosen heute die einzige Konsensebene darstellt? Sogar in Lateinamerika ist man weniger antiamerikanisch als früher!" Über das Nein zum Referendum sei er "konsterniert" gewesen: "Wie lange noch will Frankreich, dieses historisch beispielhafte Land, damit fortfahren, sich über die Globalisierung und den Liberalismus aufzuregen, sogar über die Gesetze der Schwerkraft? Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen einen Tony Blair, der endlich den Universalismus wiederbelebt, der, gegen den Nationalismus, stets die Größe ihrer Nation ausgemacht hat."
Archiv: Point

Times Literary Supplement (UK), 14.10.2005

"Thalberg ist der erste unter den Pianisten, Liszt ist der einzige", soll die Prinzessin Cristina Belgiojoso-Trivulzio erklärt haben, nachdem sie die beiden in ihrem Salon zu einem Duell hatte antreten lassen. Andere Frauen verloren dagegen über Liszt ihren Verstand: In Wien, Berlin und Paris empfingen sie ihn in Triumphzügen und trugen seine abgebrannten Zigarrenstummel als Broschen. Dass die Lisztomanie kaum der Virtuosität des Pianisten geschuldet war (auch wenn er sehr extravagant mit den Füßen stampfen konnte), hat Leon Platinga in Dana Gooleys Buch "The Virtuoso Liszt" gelernt: "Es war etwas anderes an Liszts Konzerten, an seiner reinen Präsenz, das diesen Wirbel verursachte; er hatte ein Charisma und Drama, das so gut wie jeden Nerv berührte. Jeder Versuch, diesen Effekt zu beschreiben, endete bei Metaphern vom Krieg, bei Andeutungen von etwas Dämonischem oder irritierenden Gedanken über psychosexueller Kräfte."

Besprochen werden außerdem Andrew Parkers Untersuchung "Seven Deadly Colours" über das von Darwin sträflich vernachlässigte Wunder der Tierfarben und A. N. Wilsons Studie über den Niedergang von Imperialismus und elitärer Herrschaft "After the Victorians".

Elet es Irodalom (Ungarn), 17.10.2005

Es ist nicht länger hinnehmbar, dass nur Historiker den Inhalt der Stasiunterlagen kennen dürfen, meint der Historiker Laszlo Varga. Er kritisiert das ungarische Verfassungsgericht, das den Gesetzesentwurf der Sozialisten über einen wesentlich freieren Zugang zu den Stasiunterlagen als verfassungswidrig einstufte: "Jeder Staatsbürger der Republik hat das Recht, seine Geschichte kennen zu dürfen. Sowohl seine individuelle Lebensgeschichte als auch die Geschichte des Kollektivs, der Nation. ... Es hat einen gewissen Charme, dass ich gerade heute zufällig dem Genossen K. begegnete, der mich damals im Auftrag der Partei bespitzelte. Ich habe ihm (instinktiv) die Hand gegeben, denn nicht er, sondern sein (anonymer) Auftraggeber schrieb jene Fußnote zum Bericht, die mich als 'Kleinbürger' einstufte, wegen der ich meinen Job verloren hätte. Aber wenn Genosse K. mich damals bespitzelte, warum darf ich hier seinen Namen nicht nennen?"

Auf der ersten Seite seiner Onlineausgabe bringt das ES-Magazin die Links zu den zahlreichen Beiträgen, die der verstorbene Istvan Eörsi auf seinem Sterbebett schrieb. Das Magazin druckt Peter Esterhazys Rede zur Eröffnung des neuen Literaturhauses in Frankfurt am Main.

New York Times (USA), 17.10.2005

Der Büroarbeiter des 21. Jahrhunderts verbringt im Durchschnitt nur etwa 11 Minuten mit einer Aufgabe, dann unterbricht ihn ein Anruf oder eine E-Mail und er fängt mit etwas Neuem an. Für das New York Times Magazine hat Clive Thompson Wissenschaftler besucht, die mit großem Aufwand Einfachheit und Ordnung in das Leben der Computerarbeiter bringen wollen. Etwa mit einem E-Mail-Programm, dass die Dringlichkeit einer Nachricht einschätzt. "Als Mary Czerwinksi das Programm zum ersten Mal ausprobierte, verschaffte es ihr drei Stunden ununterbrochenes Arbeiten, bevor es sie mit einer Nachricht belästigte. Die Software bestimmte auch, zur Überraschung zumindest eines Microsoft-Angestellten, dass E-Mail-Botschaften von Bill Gates nicht unbedingt dringend waren. Gates schreibt gerne lange, diskursive Texte, über die seine Angestellten dann meditieren sollen." Hier eine Seite mit Ordnungstipps für Leute, die nicht auf die Wissenschaft warten wollen.

Weitere Artikel: Sean Wilentz verlegt die Anfänge der aktuellen republikanischen Politik zurück auf die Etablierung der Whig Party im Jahr 1830. Jon Gertner beschreibt, wie riesige Baufirmen wie die Toll Brothers mit am Reißbrett entworfenen Luxussiedlungen das Hinterland Amerikas verändern. Und auf den Funny Pages wartet der fünfte Teil von Elmore Leonards gar nicht so lustiger Erzählung "Comfort to the Enemy".

Vorsicht! "Dies ist kein Coffeetable-Kunstband", warnt John Updike in der Book Review. In Jed Perls "New Art City" (erstes Kapitel) über die Hochphase der New Yorker Kunst in der Mitte des 20. Jahrhunderts (Bilder) und ihre Nachwirkungen gibt es auf 550 Seiten zwar viele Abbildungen, aber sie sind klein und schwarz-weiß. Dafür entschädigt Perl, Kritiker bei New Republic, seine Leser mit einer "überwältigenden Kenntnis" der Szene von Willem de Kooning 1948 bis Donald Judd 1982. Und er teilt gerne aus, etwa gegen Jackson Pollock: "'ein Künstler mit einer fein abgestimmten, ziemlich kleinen lyrischen Begabung', der von seinen vielen Unterstützern und Massen an Publicity profitierte. Gegen Ende der 40er 'wurde die Technik des Tröpfelns und Schleuderns der Farbe, die Pollock von den Surrealisten geborgt hatte, repetitiv, ein Gewirr von Linien ("Lavender Mist"), das die Leinwand ein bisschen zu effektiv auffüllt'."

Weiteres: Jonathan Teppermann wagt eine Synopse der aktuellen Werke zur amerikanischen Außenpolitik, die sich in zwei Klassen aufteilen: auf der einen Seite die Bücher mit der einen, großen, sexy Idee, die Bush und Cheney gefallen, sich für die wirkliche Politik aber nicht eignen, auf der anderen Seite die komplizierten, abwägenden Argumentationen, die zwar trocken, aber realitätsnäher sind. Anthony Gottlieb erfreut sich an Tony Judts Arbeit "Postwar", in der der Historiker in ungeheurer Detailtiefe die erstaunliche Entwicklung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg schildert. Gottlieb staunt: "Was einst wie die zuckenden Glieder eines Sterbenden aussah, war in Wirklichkeit der Beginn neuen Lebens."
Archiv: New York Times