Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.10.2004. In der Kommune dekonstruiert Gerd Koenen den Antisemitismus von Globalisierungskritikern und Islamisten als Totalitarismus neuer Art. In L'Espresso spricht Pedro Almodovar über die spanische Kirche. Der New Yorker setzt seine Hoffnungen auf John Kerrys Rhetorik. Plus Minus feiert den Maler Nikifor Krynicki. In Clarin erklärt Carlos Fuentes, warum er wie Balzac sein will. Le Point enthüllt Jean Genets pronazistische Ursprünge. Im Nouvel Obs gibt Jonathan Franzen Auskunft über den Mittleren Westen. In Elet es Irodalom analysiert György Dalos die Erfolge ungarischer Literatur in Deutschland. Das New York Times Magazine findet ein Herzmittel problematisch, weil es bei Schwarzen besser wirkt.

Kommune (Deutschland), 01.10.2004

In einem ausgesprochen lesenswerten Essay greift der Historiker Gerd Koenen die Debatte um den wiederaufflammenden Antisemitismus auf, der oft als altes Unwesen in neuen Gewändern dargestellt werde. "Was aber", fragt Koenen, "wenn es sich - viel schlimmer womöglich - um genuine Neuschöpfungen totalitärer Ideologien und Doktrinen handelt, die von unterschiedlichen nationalen und kulturellen Voraussetzungen her auf die radikale Veränderung der Weltsituation seit 1989 reagieren, und die den Rahmen dessen, was sinnvollerweise unter 'Antisemitismus' gefasst werden kann, längst sprengen?" Ausführlich widmet er sich dann dem Antisemitismus der deutschen Linken und dem heute vorherrschenden antiglobalistischen Antisemitismus, den er als Abwehr der "immer engeren Interdependenz der Weltwirtschaft, der Weltpolitik, der Weltmedien und der Weltkulturen" auffasst: "Von dem 'Ernst und Schrecken', der sich mit dieser Vorstellung und Realität der 'einen Welt' verbindet, lässt sich meines Erachtens eine weit plausiblere Verbindung zu den apokalyptischen Weltbildern eines Osama bin Laden und seiner Zeloten herstellen als von den historischen Einflüssen und Zitaten des überkommenen europäischen Antisemitismus."

Interessant auch ein Text von Günter Franzen, der fragt, ob es 1968 wirklich wie behauptet um die Entmachtung der Väter ging oder eher um die weniger heroische Flucht vor den Müttern: "Der Vater, den es zu stürzen galt, war längst gefallen." Herbert Hönigsberger nimmt die politische Kaste vor ihren Kritikern in den Schutz: Sie sei nicht unwillig, sondern - in Zeiten verringerter Handlungsspielräume - überfordert. Günter Warsewa stellt das Projekt "Bremen 2030" vor, das versucht, Stadtpolitik nicht nur räumlich und sozial, sondern auch zeitlich zu gestalten. Und Hartmut Fähndrich reitet im Schweinsgalopp durch die Geschichte der arabischen Literatur.
Archiv: Kommune

Espresso (Italien), 14.10.2004

Der spanische Regisseur Pedro Almodovar (hier eine nett präsentierte Werkschau) gibt nicht nur ein Interview zu seinem neuen Film "La Mala Educacion" (das sagen die Schweizer), sondern nutzt auch die Gelegenheit, seinen Lieblingsfeind zu attackieren. "Die spanische Kirche ist heute politischer denn je. Sie verlieren Macht: in der Schule, im Glauben, in der Gesellschaft. Sie sehen, wie sich Spanien in ein immer laizistischeres Land verwandelt, und das macht ihnen Angst. Sie sind extrem argwöhnisch gegenüber delikaten Themen, die ihnen schaden könnten. Die Kirchenführer haben eine waschechte politische Kampagne gegen die neue Regierung gestartet."

Hier hat Bush mit 537 Stimmen gewonnen, und auch dieses Jahr wird die Präsidentschaftswahl in Florida entschieden, glauben nicht nur die Wahlstrategen, sondern prophezeit auch Enrico Pedemonte in der Titelgeschichte. Denn "Florida ist eine Miniaturausgabe der amerikanischen Gesellschaft. Im Norden dominieren die Militärs rund um den Stützpunkt Jacksonville, und das erklärt, warum laut einer Umfrage jede fünfte Stimme im ganzen Staat von Veteranen kontrolliert wird. Die Mitte ist ein Fortsatz des Bibelgürtels: hier haben ein Jahr zuvor fundamentalistische Christen Bomben vor Abtreibungskliniken hochgehen lassen. Weiter im Süden begünstigt der hohe Anteil an Schwarzen und Haitianern die demokratische Partei, auch wenn die Kubaner mehrheitlich konservativ wählen."

Im Kommentar listet Al Gore noch einmal die "katastrophalen Ergebnisse" von Bushs Politik auf und hofft ansonsten, dass sich alte Sünden rächen und die Wähler nicht eingehaltene Versprechen entprechend quittieren. Ansonsten erklärt Monica Maggi die Unterwäsche zum Kunstobjekt, während Carlotta Mismetti Capua untersucht, warum Italien die Kinder ausgehen.
Archiv: Espresso

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 08.10.2004

Am 2. November wählen die Amerikaner ihren Präsidenten. Nur die Amerikaner? Wir wollen mitwählen, fordert Tahar Ben Jelloun. "Die Frage, ob der derzeitige Präsident Amerikas wiedergewählt wird oder nicht, entscheidet auch über die Zukunft hunderttausender Familien - im Irak, in Palästina, Israel, ja im gesamten Nahen und Mittleren Osten, im Maghreb, in Afrika, Lateinamerika und anderen Gegenden der Welt. Keine andere Präsidentschaftswahl ist für so viele Länder, in denen sie nicht stattfindet, derart folgenschwer, besonders und besonders einschneidend in ökonomischer Hinsicht. Insofern gehen diese Wahlen nicht nur die amerikanische Bevölkerung etwas an."

Angeblich ist Chinas Teekultur so alt wie das Land selbst ist, nämlich fünftausend Jahre. Das stimmt zwar nicht, meint Nicolas Zufferey, Sinologe an der Universität Genf, doch werden die Chinesen dies niemals zugeben. Denn hier geht es um Fragen der nationalen Identität! "Derartige Töne hört man sonst nur in patriotischen Reden über weitaus wichtigere Fragen wie etwa die Unabhängigkeit Tibets oder den Status von Taiwan. Verwunderlich ist diese Empfindlichkeit auch insofern, als niemand den Chinesen ihre Rolle bei der 'Entdeckung' des Tees als Getränk oder ihren Beitrag zur Teekultur (cha wenhua) streitig macht. Denn welches andere Volk hätte den Tee zu einem seiner 'sieben Schätze' erkoren - zusammen mit der Zither (quin), dem Schachspiel, der Kalligrafie, der Malerei, der Dichtung und ? dem Alkohol?"

Außerdem gibt es einen Essay von Edward Said über den Stil des Spätwerks am Beispiel der späten Kompositionen Beethovens, dem späten Roman von Tomaso di Lampedusa und den späten Gedichten des Griechen Konstantinos Kavafis. sowie Texte über den Kaukasus von Jean Radvanyi und die Ukraine von Vicken Cheterian.

New Yorker (USA), 18.10.2004

Nase voll vom amerikanischen Wahlkampf? Lesen Sie Philip Gourevitchs wirklich spannende Darstellung einer noch spannenderen Entwicklung - inzwischen behaupten ja alle, Bush werde die Wahlen gewinnen. Doch mit drei großen Reden ist es John Kerry im September gelungen, das große Thema von Bush - den Irakkrieg - quasi zu kapern. "In diesen Reden gelang es Kerry, als Kriegsgegner und Falke gegen Terroristen rüberzukommen - ein bemerkenswerter Balanceakt ... Sein 'Plan' für Irak war so skizzenhaft wie ehrgeizig - Alliierte einbeziehen, Training erhöhen, Wiederaufbau intensivieren, Aufstellung und Anwerben einer Schutztruppe der Vereinten Nationen, um Wahlen zu ermöglichen, und, wenn alles klappt, die amerikanischen Truppen innerhalb eines Jahres abziehen. Kerry behauptete nicht, es sei einfach, andere Länder zur Mithilfe zu bewegen. 'Aber ich habe Neuigkeiten für Präsident Bush', sagte er. 'Nur weil Sie es nicht konnten, bedeutet das nicht, überhaupt niemand könne es tun.'"

Weitere Artikel: Nicholas Lehmann blickt zurück auf Bushs Regierungszeit unter Berücksichtigung der Frage, warum er so radikal wurde. Anthony Lane denkt über Ronald Reagan als Schauspieler nach. Daniel Radosh berichtet über eine Universitätsklasse, deren Lehrstoff im Schreiben von Leserbriefen an die New York Times besteht. Lesen dürfen wir außerdem die Erzählung "The Alpine Slide" von Rebecca Curtis.

Anthony Lane sah im Kino "P.S.", den neuen, nach seinem "lebhaften" Debüt "Roger Dodger" sehr ruhigen Film von Dylan Kidd, und das von Gus Van Sant mitproduzierte Dokudrama "Tarnation", in dem Jonathan Caouette sein eigenes Leben erzählt. Die Kurzbesprechungen beschäftigen sich unter anderem mit einem Band zum Verhältnis der amerikanischen Neokonservativen und dem deutschstämmigen Philosophen Leo Strauss und einem Buch über lügende Präsidenten.

Nur in der Printausgabe: ein Artikel über die Mittel, die George Soros einsetzt, um Bush zu schlagen, Überlegungen zur Voraussagbarkeit des Ausgangs der Präsidentenwahl, ein Bericht über die Entscheidung zur Stammzellenforschung, die den Wählern zufällt, eine Bericht über die Bedeutung von Großstädten für die Umwelt, sowie Lyrik von Edward Hirsch, Elizabeth Alexander, Clive James und Glyn Maxwell.
Archiv: New Yorker

Plus - Minus (Polen), 09.10.2004

Polen im Nikifor-Fieber! Die Gestalt des halbstummen, illiteraten, für verrückt und genial gehaltenen Künstlers "Nikifor Krynicki" (kurze Info), der Zeit seines Lebens im Kurort Krynica für Touristen für naiv gehaltene Bilder malte, kehrt in diesem Jahr als Filmfigur zurück (offizielle Seite), mit zwei Ausstellungen in Gdingen und Warschau sowie mehreren Buchveröffentlichungen. Und in einem Interview mit seinem letzten Freund und Betreuer, dem Maler Marian Wlosinski. Er erzählt, wie der obdachlose, ewig tuberkulöse Nikifor 1960 sein Haus betrat, sich umschaute und feststellte: "Hier wird sie malen" (er hatte Sprachprobleme wegen einer mit dem Mund zusammengewachsenen Zunge und der Grammatik war er ebenfalls nicht mächtig). "Nikifor suchte sich einen bequemen Platz am Fenster aus, setzte sich an den Tisch, breitete seine Behälter aus, seine Farben, Pinsel, und ohne etwas zu sagen, fing er an zu malen." Obwohl ihm einer Pariser Ausstellung großen Ruhm brachte, wurden viele seiner Bilder verbrannt, nachdem bekannt wurde, dass er beim Malen statt Wasser Speichel benutze (Tuberkulosegefahr!). Die Wahrheit ist noch interessanter: "Als er mit einer Farbe fertig war, steckte er den Pinsel in seinen Mund und schluckte den Rest der Farbe. Die Farben auf seinen Bildern sind wirklich sehr intensiv, weil er den Pinsel selten ins Wasser tauchte".

Außerdem in der Wochenendausgabe der Rzeczpospolita: Jerzy Jastrzebski macht sich über stereotype Ansichten zur Fremdwahrnehmung der Polen lustig. Wir erfahren, dass schon Marx und Engels nach anfänglicher Polen-Euphorie zu den größten Polen-Hassern gehörten, bis sie von Himmler und Hitler abgelöst wurden. Stalin selbst soll festgestellt haben: "Der Kommunismus passt zu Polen wie ein Sattel zu einer Kuh". Die andere Seite ging aber auch nicht besser mit der armen Nation um: "Innerhalb eines Monats - seit dem Überfall des (Dritten) Reichs auf Frankreich bis zum Fall Paris im Juni 1940 - sank der Dow Jones Index katastrophal um 23 Prozent. Interpretation: Die bisherige Ordnung in Europa bricht zusammen, diese verrückten Europäer werden jetzt versuchen, die USA in ihren Krieg mit einzuziehen. Nach dem Angriff auf Polen bis zu dem Fall Warschaus kletterte der DJ Index munter um 13,9 Prozent. Interpretation: endlich kehrt Ruhe ein in diesem verrückten Europa, das große Deutschland wird wie üblich die Beute und die Einflusssphären mit dem großen Russland aufteilen, und man kann endlich mit beiden Seiten Geschäfte treiben".
Archiv: Plus - Minus

Gazeta Wyborcza (Polen), 09.10.2004

Die Magazinausgabe der Gazeta Wyborcza blickt in die Welt hinaus und erklärt uns die Wahlen in Afghanistan und in der Ukraine. Der Afghanistan-Experte Wojciech Jagielski kehrte in das ihm vertraute Land kurz vor den Präsidentschaftswahlen zurück: "Obwohl ich viele Male nach Afghanistan gereist bin, konnte ich nie zuvor einen vorher buchbaren Linienflug nehmen. Bisher gelangte ich dorthin über Schleichwege, ich reiste mit Militärhubschraubern, zu Pferd, von Bergführern und Partisanen begleitet. Ich überschritt die Grenze zu Fuß und einmal sogar auf einem Boot von Drogenschmugglern. Ich reiste nach Afghanistan um über Kriege zu schreiben, die das Land über ein Vierteljahrhundert erschütterten. Jetzt bestieg ich prosaisch ein Flugzeug, das dem Flugplan entsprechend abflog. 'Willkommen in Afghanistan' - sagte ein lächelnder Beamter, als er meinen Pass stempelte".

Zu den Wahlen in der Ukraine schreibt Roman Podebski: "Von den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen hängt nicht nur die Zukunft der Ukraine ab - der Sieg Viktor Juschtschenkos kann als Beweis dafür dienen, dass die postsowjetischen Staaten nicht nur von 'Zaren' und 'Baschas', heute Präsidenten genannt, regiert werden können. Mit Viktor Juschtschenko verbindet die Gesellschaft die Hoffnung auf eine Verbesserung des Lebensniveaus, eine Begrenzung der Macht der Oligarchenclans und der Korruption, die Garantie der Meinungsfreiheit und der Unabhängigkeit des Polizeiapparats und der Gerichte. Für viele Wähler kann die Präsidentur Juschtschenkos die Chance auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union bedeuten."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Point (Frankreich), 08.10.2004

Nur kurz, aber für deutsche Liebhaber des Dramatikers vielleicht interessant: ein Hinweis auf ein Buch, das die politischen Ursprünge Jean Genets ortet. Francois Dufay formuliert es als Preisfrage: "Wer sang eine Hymne auf 'jene Bataillone blonder Krieger, die uns am 14. Juni 1940 seelenruhig in den Arsch fickten'" und die "Stukapiloten, die lachend den Tod säten"? Weder Celine noch Lucien Rebatet, sondern der Schriftsteller Jean Genet, die Ikone der intellektuellen Linken". Jean-Paul Sartre hatte ihn in seinem Buch "Saint Genet" von 1952 zu dieser Ikone gemacht und über Genets fortwährenden Antisemitismus mild hinweggesehen. Ivan Jablonka hat Genets Vergangenheit jetzt in dem Buch "Les verites inavouables de Jean Genet" ("Die uneingestehbaren Wahrheiten des Jean Genet") bei Seuil unter die Lupe genommen. Einen ausführlichen Artikel über das Buch brachte vor einigen Tagen auch schon der Figaro.
Archiv: Point

Clarin (Argentinien), 10.10.2004

Carlos Fuentes will wie Honore Balzac sein. Er hat das schon mehrfach gesagt und sagt es auch hier wieder: "So wie Balzac die menschliche Komödie seiner Zeit darstellen wollte, möchte ich die Gesellschaft meiner Zeit wiedergeben, ihre Schattierungen erforschen und die verschiedenen Wesensarten, in denen diese Welt zum Ausdruck kommt". So also spricht ein wahrer Dichter, hier im Interview mit der N genannten Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Clarin. Natürlich bedeutet Balzac zu sein für den mexikanischen Schriftsteller auch politisch Stellung zu beziehen. Er hat das gerade in einem neuen Buch getan, dessen Titel eigentlich keiner Übersetzung bedarf: "Contra Bush". Wird dieses Werk einen Einfluss auf das Wahlverhalten der Latinos in den USA haben, fragen die Interviewer. "Man kann nie wissen, welche Wirkung die eigenen Worte haben", antwortet Fuentes. "Ich vertraue aber darauf, dass die Latinos gegen Bush wählen. Nicht nur wegen meines Buches, sondern auch weil die von ihm hervorgerufene Abscheu universal ist".

Wesentlich sympathischer kommt der ebenfalls interviewte Cesar Aira daher, ein argentinischer Tausendsassa, der nach erstem Ruhm in Spanien nun auch in Deutschland veröffentlicht und hoffentlich auch gelesen wird. Es ist ein höchst interessantes Gespräch mit einem 56-jährigen Autor, der mehr als 30 Bücher veröffentlicht hat, von denen keines wie das andere ist. "All meine Bücher sind Experimente. Sie sind so angelegt, aber es handelt sich nicht um Experimente, die mit der Seriosität des Wissenschaftlers betrieben werden, sondern mit der amethodischen Seriosität eines verrückten Erfinders oder eines Kindes, das Chemiker spielt und zwei Substanzen mischt: mal gucken, was passiert", erzählt Aira. Julio Cortazar hält er übrigens für überbewert und so zitiert er denn auch den schönen Ausspruch, dass der beste Cortazar ein schlechter Borges sei. Und was hält er von Carlos Fuentes? Vielleicht fragt ihn ja mal jemand bei seinen bevorstehenden Lesungen in Deutschland.

Und N kann noch mit zwei weiteren großen Interviews aufwarten - schließlich handelt es sich um eine Jubiläumsausgabe: Da wäre einmal Richard Rorty. Wie der us-amerikanische Philosoph in genau zwei Sätzen Samuel Huntington abfertigt, warum er sich lieber nicht zum französischen Kopftuchstreit äußern will, und wie er eingesteht, dass er Foucaults Begriff der Archäologie nie verstanden hat, all dies und einiges mehr ist hier nachzulesen. Als Dreingabe dann noch ein viertes Gespräch, nämlich mit dem argentinischen Maler Carlos Alonso. Der 75-Jährige kann aus eigener Erfahrung erklären, warum es gerade für kreative Menschen so schwierig ist, mit dem Rauchen aufzuhören.
Archiv: Clarin

Economist (UK), 08.10.2004

Wer wird US-Präsident? Der Economist, der sich ein wenig wundert, wie polarisiert sich der Wahlkampf trotz der grundsätzlichen Ähnlichkeit der Wahlprogramme gibt, widmet den verschiedenen Aspekten dieser Frage ein ganzes (leider nur teilweise online zugängliches) Dossier. Das Fazit: George Bush hat sowieso schon halb gewonnen - denn "eins fällt auf. Diese Wahl wird auf dem Terrain ausgefochten, das die Maßnahmen der Bush-Präsidentschaft vorgeben. Es geht um George Bushs Krieg gegen den Terror, seine Steuersenkungen und - in der Tat - seinen polarisierenden Stil. Was nicht heißen soll, dass der Präsident den anstehenden Wettstreit für sich entscheiden wird - aber über die zur Diskussion stehenden Themen kann er sich wohl kaum beschweren."

Passend dazu hat der Economist eine Umfrage unter führenden amerikanischen Ökonomen durchgeführt und diese um eine Beurteilung der Wirtschaftspolitik, für die George Bush und sein Herausforderer John Kerry stehen, gebeten - eindeutig zu Bushs Ungunsten (die ausführlichen Ergebnisse gibt es hier als pdf-Datei).

Schön zu lesen ist auch der Nachruf auf den Fotografen Richard Avedon, der sich zeitlebens gegen die Vorstellung wehrte, Fotografie habe etwas mit Wahrheit zu tun. Oder vielleicht doch - aber auf ganz andere Art. "Es war auch, wie er zugab, ein Weg, sich selbst zu entdecken. Ein Porträt war keine Einbahnstraße, bei der der Fotograf mit seiner Linse in den Geist des Modells eindringt und sich darin eingräbt. Jedes neue Sujet - ein bei der Nationalflagge stehender Kongressabgeordneter, die Gestik eines Tänzers, ein Bienenzüchter mit seinen auf der nackten Haut kriechenden Mündeln - brachte in Avedon neue Facetten seines eigenen Charakters zum Vorschein. Die Porträts, waren sie erst einmal angefertigt - stellen weniger das Modell dar als seine eigenen Ansichten: Das 'menschliche Dilemma', an dem ihm lag und das er zeigen wollte, war eigentlich sein eigenes. Und tatsächlich setzte sich seine 1993 veröffentlichte Autobiografie aus 300 Porträts anderer Menschen zusammen."

Außerdem geht's um: Bücher über Erdöl und - was sonst - Geopolitik, und - leider nur im Print zu lesen - das christliche Erbe der Türkei.
Archiv: Economist

Al Ahram Weekly (Ägypten), 07.10.2004

Diesen Text sollte man lesen: Er handelt vom Irak, und er unterscheidet sich von all den Reportagen der vergangenen Monate,weil er zugleich viel hoffnungsloser und hoffnungsvoller ist. Zaid Al-Ali ist kein Journalist, sondern ein Iraker, der sein bisheriges Leben in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa verbrachte und jetzt zum zweiten Mal ins Land seiner Eltern reiste. "Nie in meinem Leben", schreibt er, "habe ich mich so fehl am Platz gefühlt, so fremd, so unwillkommen, so unwohl, so schuldig." Die meisten Menschen, die er traf, waren krank, nicht einer war lebensfroh, nicht einer glaubte an Besserung, alle hassten die Amerikaner, doch die meisten hassten auch ihr eigenes Land. Niemand, den Al-Ali traf, war politisch tätig oder glaubte an die Idee politischer Betätigung. Oder kannte jemanden, der daran glaubte. Fast alle Iraker, die während Saddams Zeit heranwuchsen, sind ungebildet - eine verlorene Generation ohne Werte. Und die Älteren haben die Hoffnung längst verloren. Kommen Sie nicht wieder, riet ihm einer - "bleiben Sie im Ausland und leben Sie Ihr Leben." Die Iraker sind tot, schreibt Al-Ali. "Ihre Verzweiflung ist permanent und überdeckt alles. Sie sind verzweifelt, wenn sie lachen und wenn sie streiten. Der einzige Ort, wo ich nicht dieses Gefühl hatte, war das Ufer des Tigris, nahe Tikrit - ein Ort, der sich seit der Zeit Babylons nicht verändert zu haben scheint, einer Zeit, in der die Menschen dieses Landes aller Wahrscheinlichkeit nach glücklicher waren als jetzt." Doch Al-Alis Text ist nicht nur als Zustandsbericht erschütternd - er zeigt auch, was es für den Einzelnen heißt, dennoch auf dem Wert von Humanismus zu bestehen.

Weitere Artikel: Die Theaterkritikerin und Vorsitzende des International Theatre Institute Martha W. Coigney spricht mit Yasmine El-Rashidi über Theater als Möglichkeitsfeld globaler Kommunikation. Rania Gaafar berichtet von der Frankfurter Buchmesse. Und Amina Elbendary zieht nach zwei Jahren neuer Bibliotheca Alexandrina betrübliche Bilanz: Kein Ort der Wissensproduktion sei der wunderbare Bau bislang, sondern vor allem ein beliebter Ort für Konferenzen und eine Attraktion für Touristen, die ehrfurchtsvoll durch die weiten Räume laufen.
Archiv: Al Ahram Weekly

Nouvel Observateur (Frankreich), 07.10.2004

In dieser Woche eine Ausgabe voller Gespräche. Im Debattenteil gleich zwei: Jonathan Franzen (mehr) gibt Auskunft über seine Heimat, den mittleren Westen, den amerikanischen Traum und sich selbst. Auf die Frage, warum er nicht wie Don DeLillo, Salman Rushdie oder Russell Banks eine Petition gegen Bush unterschrieben habe, antwortet er: "Ich finde auch, dass Bush nichts taugt. Aber es scheint mir ein bisschen illusorisch, dass sich in Amerika irgendwer für die politischen Ansichten eines Schriftstellers interessieren könnte. Wir sind hier nicht in Frankreich. Wenn ich schätzen sollte, wie viele Amerikaner meiner Unterschrift wegen wohl ihre Wahlabsichten geändert hätten, würde ich umstandslos sagen: Null."

Anlässlich der Veröffentlichung eines Bands mit Gesprächen ("Culture et resistance", Fayard), die der amerikanische Intellektuelle David Barsamian mit dem im vergangenen Jahr gestorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said geführt hat, bringt der Obs Auszüge aus einer Unterhaltung über den 11. September und die gefährliche Verkettung von Terror und Krieg.

Weiteres: Im Bücherteil ist ein Interview mit Sempe zu lesen. Dieser hatte ab Anfang der fünfziger Jahre mit Rene Goscinny zusammengearbeitet, als beide noch unbekannt waren. Gemeinsam erfanden sie die außerordentlich erfolgreichen, in 30 Sprachen übersetzten Abenteuer des Petit Nicolas. Anlässlich der Publikation von achtzig bisher unveröffentlichten Geschichten (Imav Editions) erinnert sich Sempe an den Beginn der Zusammenarbeit und erzählt, wie die Figur Petit Nicolas entstand. Und in der Abteilung Arts et Spectacles erklärt der Regisseur Claude Lelouch seine ungewöhnliche Maßnahme, das Kinopublikum mit freiem Eintritt in seinen jüngsten, leider ziemlich erfolglosen Film "Le Genre humain. Les Parisiens" zu locken.

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.10.2004

Der Professor für Judaistik der Budapester Eötvös-Universität Geza Komoroczy analysiert die Religionen in Ungarn und empfiehlt schließlich eine Art Religionsmix: "Die von den Religionen vertretenen Wertesysteme sind zwar verschieden, sie schließen aber einander nicht aus.Was würde dagegen sprechen, wenn wir vom Buddhismus lernen oder übernehmen würden, dass das Leben eines jeden Lebewesens gleich wertvoll ist? Warum könnten wir in Hinsicht auf die volle Verantwortung persönlicher Entscheidungen nicht alle jüdisch sein und in unserer Arbeitsethik christlich-reformiert? Oder wenn es darum geht, dass eine jede Tat des Menschen und sein ganzes Leben zählt, altägyptisch und - in einem ganz anderen mythologischen Rahmen - christlich? Und wenn wir das alles nicht sind und werden können: Nehmen wir doch die Wertesysteme der anderen wenigstens zur Kenntnis!"

Fünf Jahre sind vergangen, seit Ungarn das Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Der Schriftsteller und damaliger Direktor des Berliner Ungarischen Kulturinstitutes György Dalos zieht eine Bilanz: Die großen Namen der ungarischen Gegenwartsliteratur - Eörsi, Esterhazy, Kertesz, Konrad, Krasznahorkai, Nadas - waren auch vor Frankfurt längst bekannt. Die Marai-Renaissance hängt laut Dalos auch nicht mit dem Ungarn-Schwerpunkt zusammen, dies zeige der Erfolg von anderen Autoren der Vorkriegszeit wie Antal Szerb und Dezsö Kosztolanyi. Die eigentliche Entdeckung seit Frankfurt, so Dalos, sind die Frauen: Schriftstellerinnen wie Agota Bozai (mehr hier), Agnes Gergely (mehr hier) und Zsuzsa Rakovszky. Auch unter den zweisprachigen Autoren sind auffallend viele Frauen vertreten: Zsuzsa Bank (mehr hier), Terezia Mora (mehr hier), Agota Kristof, Zsuzsanna Gahse (mehr hier) und die auch als Kertesz- und Marai-Übersetzerin bekannte Christina Viragh (mehr hier). Die ungarische Kulturpolitik sollte sich laut Dalos vor allem auf kleine Verlage konzentrieren, die sich leidenschaftlich für die ungarische Literatur einsetzen, sich jedoch die nötigen PR-Maßnahmen nicht leisten können (z.B. der Arsenal Verlag in Berlin oder der Tibor Schäfer Verlag). Neben dem Beitrag druckt das ES-Magazin eine von Christine Schlosser hervorragend recherchierte Auswahlbibliografie der auf Deutsch erschienenen ungarischer Literatur ab.

Times Literary Supplement (UK), 08.10.2004

"The Plot Against America" zählt für Michael Gorra nicht zu Philip Roths fünf besten Büchern. Niemand anderes hätte es allerdings überhaupt gewagt, einen Roman über ein faschistisches Amerika zu schreiben, gibt Gorra zu bedenken. Das Buch sei "lebendig, Seite für Seite. Aber es lässt einen nicht mit offenem Mund zurück wie Roths jüngste Romane, und dies könnte paradoxerweise am Thema liegen. Roth arbeitet oft damit, dass wir unsere Köpfe ungläubig schütteln, aber dieses Buch verlangt das Gegenteil. Es muss alles so glaubwürdig sein, sowohl der politische Schwenk des Landes als auch unser Verständnis der vom Erzähler geschilderten Welt vor Lindbergh als amerikanische Norm."

Nach Achilles kommt nun Alexander der Große in Kino. Victor Davis Hanson liest vier Neuerscheinungen über den Soldatenkönig, und merkt, wie Alexander nicht mehr als Held, sondern als "cleverer, aber gestörter Betrüger" dargestellt wird. Elizabeth Archibald nimmt aus Helen Coopers Untersuchung der romantischen Motive in der englischen Literatur des Mittelalters "erhellende Einsichten" mit. Zwei einander widerstrebende Absichten entdeckt Kathryn Hughes in Elisabeth Kehoes Geschichte der drei amerikanischen Jerome Schwestern, die auf der Suche nach Geld und Adel das London der 1870er Jahre unsicher machten. Leider viel zu selten konzentriert sich die Autorin auf die interessante Geschichte des untergehenden englischen Adels, seufzt Hughes, zu oft erzähle sie nur die etwas platte Story von drei guten, jungen, schönen Mädchen, die nur ein wenig Liebe suchen.

Zenith (Deutschland), 05.10.2004

Hier finden wir ein Interview mit der neuen Friedensnobelpreisträgerin und Umweltministerin Kenias Wangari Maathai über das von ihr gegründete Green Belt Movement, die Bedeutung des Umweltschutzes für Kenia und Frauen in höchsten Staatsämtern: "Frauen hatten bislang noch nie wirklich die Chance, Führungsstärke zu beweisen. Wenn Frauen Machtpositionen innehaben, sind sie immer von einer Horde Männer umgeben. Oft genau von jenen Männern, die schon jahrelang die Staatsgeschäfte geführt haben. Einige Frauen, die Staaten regierten, waren nicht besser als ihre männlichen Vorgänger. Ich will deshalb nicht verallgemeinern. Aber ich kann über mich selbst reden. Ich würde es auf jeden Fall besser machen als die Männer."
Archiv: Zenith

New York Times (USA), 10.10.2004

"War Trash", Ha Jins Erinnerungen eines chinesischen Kriegsgefangenen der USA während des Koreakriegs lassen einen vergessen, dass man einen Roman und keine Autobiografie vor sich hat, jubelt Russell Banks. Der bereits hochdekorierte Schriftsteller mischt in seinem neuen Buch "zwei alte und ehrwürdige westliche Literaturtraditionen - den Roman als wirklichkeitsgetreue Memoiren und die authentischen Memoiren als Gefängnisgeschichte. Es ist ein brillanter und origineller Zeilenspung, und Ha Jin meistert ihn bravourös; mit dem Ergebnis, dass der Erzähler, Yu Yuan, einer der am besten ausgearbeiteten Charaktere ist, die in den vergangenen Jahren aus der Welt der Prosa aufgetaucht sind." Dazu gibt es ein Interview mit Ha Jin, zum Lesen oder Anhören.

Andrew Delbanco bewundert Harold Bloom, der zwar manchmal "irritierend extravagant" schreibt, an guten Tagen aber eine Literaturkritik zur Literatur emporheben kann. In "Where Shall Wisdom Be Found?", einer Ode an seine Lieblingsschriftsteller, vollbringt Bloom dieses Kunststück nicht nur einmal. Zu "mathematisch" austariert findet John Banville "The Double", den neuen Roman von Jose Samarago. Er kann nicht glauben, dass die beiden Protagonisten sich gleich wie Roboter verhalten müssen, Identität hin oder her. Die jetzt erschienene Auswahl der Tagebucheinträge Jack Kerouacs beweist ein für alle Mal, dass er kein "halbfertiger primitiver Kiffkopf war, der den Sinneseindruck dem Sinn vorzog", jubelt Walter Kirn. Ted Widmer interessieren an Kitty Kellyes "The Family" (erstes Kapitel), dem heiß erwartetem Enthüllungsbuch über den Bush-Clan, weniger die Marijuanageschichten als vielmehr die Chronik des Aufstiegs einer Familie in den innersten Machtzirkel Amerikas.

In einem kundigen Hintergrundessay erläutert Franklin Foer den Konflikt zwischen den mittlerweile in die Defensive geratenen Neocons und den erstarkenden Isolationisten innerhalb der Republikanischen Partei. Der von Bush 2000 ausgerufene Waffenstillstand ist durch den Irakkrieg hinfällig geworden. In der neu eingerichteten Bestseller-Kolumne beschäftigt sich Dwight Garner mit der diesjährigen Rekordnachfrage nach politischen Büchern.

Im New York Times Magazine  berichtet Robin Marantz Henig von einem neuen Medikament, das auf den ersten Blick nur ein weiteres Herzmittel ist, bei näherem Hinsehen aber gesellschaftlichen Sprengstoff in sich birgt. BiDil funktioniert bei Schwarzen besser. Es scheint der Beweis dafür zu sein, dass sich die menschlichen Rassen genetisch unterscheiden. Das eröffnet ganz neue Forschungsmöglichkeiten. Und Probleme. "Für rassenbasiertes Nischenmarketing müssten Medikamentenhersteller zunächst die biologischen Unterschiede zwischen Schwarzen, Weißen, Asiaten und Indianern herausfinden. Und je mehr sie diese Unterschiede beschreiben und erklären, desto mehr spielen sie den Rassisten in die Hände."

Aus den Entwicklungslaboren des Schokoriegelherstellers Mars liefert Jon Gertner eine Reportage, die sich wie ein Wissenschaftskrimi liest. Hinter dreifachen Sicherheitsschleusen arbeiten dort Chemiker seit fünfzehn Jahren mit einem beachtlichen Budget an der Entwicklung der gesunden Schokolade. Flavanole, Bestandteile der Kakaonuss, können die Blutzirkulation begünstigen, haben die Forscher herausgefunden. Und der Schokoladenriegel CocoaVia, ein Prototyp mit künstlich erhöhten Flavanolwerten, wird schon über das Internet vertrieben.

Außerdem trommelt Matt Bai für den Präsidentschaftskandidaten John Kerry und fragt sich, ob dessen überdachte, aber auch komplexe Terrorismusbekämpfungsstrategie den immer noch vom 11. September traumatisierten Amerikanern zu vermitteln ist. Deborah Solomon unterhält sich mit dem Schriftsteller Edward P. Jones, der nicht so recht weiß, was er mit der halben Million Dollar Preisgeld als MacArthur Fellow anfangen soll. Lynn Hirschberg erfährt von Claire Danes, dass sie mit neun eine selbstbewusstere Schauspielerin war als mit 25 (jetzt posiert sie dafür für die New York Times). Und für die Design-Aficionados gibt es diese Woche eine Beilage, in der stilvolle, aber unerschwingliche Möbel zu sehen sind, als Ausstattung für Wohnungen, die man sich nie wird leisten können.
Archiv: New York Times