Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.09.2003. Die New York Review of Books starrt ins Auge des Tigers. Im Espresso fliegt Fidel Castro gen Ewigkeit. Prospect macht uns mit Spanglish und Indlish bekannt. In Radar definiert Roberto Bolano die Krankheit des Schriftstellers. Im TLS besteht Rosemary Righter auf der Abhängigkeit Europas von den USA. Im Nouvel Obs ärgert sich Stephen King über die unerträgliche New Yorkerische Arroganz Jonathan Franzens. Die London Review sucht Friedrich unter Elisabeth Nietzsche. Der New Yorker schildert einen Fall von literaturgeschichtlicher Gerechtigkeit.

New York Review of Books (USA), 09.10.2003

"Es gibt nur wenige Kreaturen, die einen erwachsenen Menschen töten können", erklärt der Zoologe Tim Flannery (mehr hier) leicht bedauernd, "Tiger und Löwen, Braun- und Eisbären, einige Haie und Krokodile, das sind sie schon". Doch "jeder, der schon mal an einer Safari teilgenommen oder einen Zoo besucht hat, wird etwas über die Beziehung zwischen uns und denen erfahren, die Futter aus uns machen wollen. Ihre Augen starren uns mit solcher Entschiedenheit, mit solcher Bereitschaft zum Handeln und so unverhohlen an, dass es fast unerträglich ist." Aber im Grunde unterscheide sich das gar nicht von den Verhältnissen in der Politik. "Wenn unsere Gegner uns nur lange genug kennen, und wir sie, kann sich eine unproblematische, sogar fruchtbare Zusammenarbeit ergeben." Es wird nur den Zoologen überrascht haben, dass alle seine Beispiele schlecht ausgehen.

Träume von Weltherrschaft kommen und gehen, stellt Brian Urquhart mit der Gelassenheit des Alters fest, das sich noch an Londons glorreiche Empire-Ausstellung von 1924 erinnert. So feiert er Niall Fergusons großartiges Buch "Empire" über Aufstieg und Fall des Britischen Empire und was man daraus lernen kann. Dabei frappiert ihn vor allem ein Unterschied zur derzeitigen US-Politik: Bei aller Überheblichkeit, mit der sich die Briten Teile der Welt unterwarfen, gab es in der britischen Regierung immer auch Kritiker: "So kommentierte Sir Edwin Montagu, der Indienminister, trocken die imperiale Politik, 'er würde doch gern einige Argumente gegen die Annexion der Welt durch Großbritannien hören'. Aus George Bushs Washington war bisher nichts dergleichen zu vernehmen."

Weiteres: Jonathan Mirsky hat das erhellendste Buch über den Vietnam-Krieg seit den Pentagon Papers gelesen: David Elliotts "The Vietnamese War", das mit der Legende aufräumt, der Vietcong sei so unglaublich clever, unerbittlich und an Entbehrungen gewohnt gewesen. Und: "Von den vielen Lektionen in Eliotts Buch ist vielleicht die wichtigste, dass der lange revolutionäre Kampf hausgemacht war und nicht Teil einer sowjetischen oder chinesischen Sratgie war."

Alexander Stille (mehr hierempfiehlt ein Buch über Silvio Berlusconi, in dem der britische Journalist Tobias Jones beschreibt, wie unter dem Medien-Tycoon das Umgehen, Biegen und Brechen von Gesetzen endemische Ausmaße angenommen hat. Avishai Margalit diskutiert Norman Podhoretz' These, nach der die biblischen Propheten ihren Ursprung in Mari haben, einem Königreich am Ufer des Eurphrats, nahe der syrischen Grenze zum Irak. Podhoretz' stärkstes Argument in Margalits Augen: "Der Begriff, mit dem die Mari ihre Propheten beschrieben, ähnelte dem Wort 'verrückt', das auch die Bibel benutzt: 'Der Prophet ist ein Narr, der Mann des Geistes ist verrückt (Hosea 9,7)'." David Hajdu erklärt, wer Elvis zu Elvis machte: sein Agent Tom Paker, genannt der Colonel.

Espresso (Italien), 02.10.2003

Als Aufmacher druckt der Espresso das Interview ab, das Regisseur Oliver Stone für seinen Film "Comandante" mit Fidel Castro geführt hat. Der Maximo Lider erweist sich in dem langen Gespräch über den 11. September, die USA und die Menschenrechte als erstaunlich realitätsresistent. Von den kubanischen Exilanten hält er nicht viel: "Sie träumen davon, ein Auto zu haben und viele materielle Güter. An Gesundheit und Erziehung denken sie nicht." Und auf die Frage, ob er sich nicht wie ein Dinosaurier fühle, antwortet er: "Im Gegenteil. Wie ein Vogel frisch aus dem Nest. Ich fliege gen Ewigkeit. Und von Zeit zu Zeit denke ich mir, wie zufrieden ich wäre, wenn ich im Jahr 3000 immer noch hier wäre."

Gibt es eine europäische Identität?, fragt Umberto Eco, um gleich zu erzählen, wie er die seine gefunden hat. "In Amerika, Asien oder Australien, bei irgendeiner Tagung oder einem anderen universitären Treffen, am Ende eines Tages voll herzlichster Zusammenarbeit mit den einheimischen Kollegen, gegen Abend, nach dem Essen, vor einem letzten Whiskey, finde ich mich schließlich immer im Gespräch mit einem europäischen Kollegen."

In einem Interview spricht David Bowie hauptsächlich über seine neue Platte "Reality". Und verrät, warum Andy Warhol ihn zuerst hasste: wegen seiner Schuhe. Und worüber sie sich dann gut unterhielten: über seine Schuhe. Cesare Balbo weiß hingegen, woran der Cento Passi-Regisseur Marco Tullio Giordana gerade arbeitet: an einem Film über die "Banda della Magliana", eine brutale Mafiatruppe aus dem gleichnamigen römischen Vorort. Arianna Dagnino klärt Museumsbesucher auf, welche technischen Finessen den Kulturgenuss in Zukunft unterstützen werden. Den Serviceteil decken Monica Maggi und Sabina Minardi ab: sie geben Tipps, wo und wie man auch extremen erotischen Ansprüchen gerecht werden kann.
Archiv: Espresso

Prospect (UK), 01.10.2003

Viele Sprachen sterben aus. Doch es entstehen auch Neue. Jonathon Keats und Pico Iyer (mehr hiermachen uns mit Spanglish und Indlish bekannt. Letzteres klinge, als wäre es "von einem Gottesmann und einem schelmischen Schuljungen erfunden worden, die mit Lewis Carroll an ihrer Seite gelobt hätten, V.S. Naipaul auf den Kopf zu stellen." Das liest sich dann folgendermaßen auf Indiens Straßen: "An einem Häuserblock wurde den Vorbeigehenden empfohlen: 'Kein Parken für Außenseiter. Wenn für schuldig befunden, werden mit extremer Voreingenommenheit alle Reifen der Luft entleert.' Ein an einem verfallenden Dickensschen Pfarrhaus angebrachtes Schild kündigte an: 'Jogisches Gelächter ist multi-dimensional.' Daneben prangte zwischen zwei Postern mit Kinostars ein Plakat: 'Dunkle Gläser machen dich für die Polizei anziehend.' Vielleicht stammten all diese Spruchbände ja von einem stolzen Absolventen eines Kurses, der in einer Zeitung beworben wurde: 'Wir machen dich zum Big Boss in englischer Konversation. Hypnotisiere alle mit deinen höchst beeindruckenden Gesprächen. Exklusive Kurse für Exporthändler und Business-Tycoons.' " Es sei eben genau so, wie es eine Figur aus Hanif Kureishis "Schwarzem Album" sage: "Sie haben uns die Sprache gegeben. Aber nur wir wissen, wie man sie gebraucht." Liest man ein Schild an der Sicherheitskontrolle des Flughafens von Neu Delhi, wird man dem wohl gerne zustimmen: "Be Like Venus: Unarmed."

Weitere Artikel: Natürlich ist es für Außenstehende leicht, der UNO mit Zynismus zu begegnen, meint David Rieff und warnt die UNO davor, ihr moralisches Selbstverständnis mit unentschlossener Neutralität zu verwechseln. Charles Grant hat zwei Bücher gelesen, die zu verstehen versuchen, warum Tony Blair in den Irak-Krieg eingewilligt hat - und die dabei zu gegensätzlichen Schlüssen kommen. Was genau war noch mal der Unterschied zwischen Tony Blair und Gordon Brown?, fragt Steve Richards und räumt mit dem Klischee auf, in diesem kuriosen Regierungs-Gespann treffe Old Labour auf New Labour. Sie haben vier Beine, einen langen Schwanz, scharfe Zähne, und wie Vanora Bennett zu berichten weiß, es gibt davon 60 Millionen, so viele wie Großbritannien Einwohner hat: Ratten. Schließlich porträtiert Boyd Tonkin zwei große Theoretiker: den lauten Terry Eagleton (der deshalb nicht gleich subversiv ist) und den stillen Frank Kermode (der deshalb nicht gleich konservativ ist).

Nur im Print zu lesen: ein Porträt von Bernard-Henri Levy und ein Interview mit Karl Marx.
Archiv: Prospect

Nouvel Observateur (Frankreich), 25.09.2003

Stephen King polemisiert gründlich gegen Jonathan Franzens Essaysammlung "Anleitung zum Einsamsein" (mehr hier). Die einzig gute Nachricht sei, dass diese "unerträgliche New Yorkerische Arroganz, die mindestens einmal pro Seite flüstert: Ich bin schlauer als du, gebildeter, kultivierter, habe mehr Leser als du, kurz, ich bin einfach besser als du, verschwunden ist". Aber Franzens These, wonach "ernsthafte Literatur in Amerika keine Rolle mehr spielt und die Schriftsteller ihr Publikum verloren haben", werde in diesen Essays "mit der Besessenheit eines Kindes, das gerade seinen ersten Zahn verloren hat", durchbuchstabiert. Dabei sei sie pure "Augenwischerei". King jedenfalls kommt zu dem Fazit: "Der amerikanischen Literatur geht's gut." (Kings Originaltext erschien in der Juli/Augustausgabe des Book Magazine, ein Teil davon ist kostenlos hier zu lesen).

In einem als "Manifest" apostrophierten Text beschwört Alain Delon das "Kino von gestern" und beklagt seinen Niedergang. "Geld, Kommerz und Fernsehen haben die Traummaschine kaputt gemacht. (...) Bald wird es nur noch das Fernsehen geben, amerikanisches Kino und ein paar Autorenfilme, die geistig Zurückgebliebene in unmöglichen Kinosälen auf Leinwänden in Briefmarkengröße werden ertragen müssen. (...) Nein, mein Kino ist tot. Und ich auch." Jap.

Zu lesen sind des weiteren ein Interview mit dem amerikanischen "Hipsterliteraten" Dave Eggers (mehr hier) und eine Sammlung kleiner Anmerkungen des französischen Essayisten George Steiner (mehr hier), darunter zum 11. September, Amerika und Europa sowie Shakespeare und Maradonna. Der französische Außenminister Hubert Vedrine rezensiert eine neue Biografie über Talleyrand, besprochen werden ein "Dictionnaire amoureux de l?Amerique", ein Essay über Paris als "literarisches Zentrum der Welt" in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und der Film "Alila" von Amos Gitai.

London Review of Books (UK), 25.09.2003

"Ich bin's nicht, Elisabeth ist es gewesen", könnte Nietzsche berechtigterweise von einigen seiner Schriften behaupten. Jenny Diski hat über Nietzsches böse Schwester recherchiert, unter anderem in Carol Diethes eher lakonischer Biografie ("Nietzsche's Sister and the Will to Power: A Biography of Elisabeth Förster-Nietzsche"): "Ihr Leben ist die Geschichte, in der Mittelmaß über Inspiration, Armseligkeit über Exzess und Ressentiment über den Übermenschen triumphiert." Ihr Tod allerdings setzte ihrem Leben noch die Krone auf: "Hitler war bei Elisabeths Beerdigung anwesend - sie starb 1935 - und zu dieser Gelegenheit wurde sie als die 'Priesterin des ewigen Deutschlands' gepriesen. Um genau im Mittelpunkt des Familiengrabes beerdigt zu werden, hatte sie Friedrichs gut verrotteten Leichnam ein Stück zur Seite verlegen lassen. Eine andere Version der Geschichte lautet allerdings, dass nur der Grabstein ihres Bruders versetzt wurde. In diesem Fall wäre sein Körper mit Elisabeths Namen versehen und ihren würde man jetzt für die sterblichen Überreste Friedrich Nietzsches halten. Als klares und endgültiges Zeichen einer kaum zu überbietenden Bezwingung."

Stuart Kerr hat für die Internationale Juristenkommission den türkischen Prozess gegen vier kurdische Parlamentarier und Freiheits-Aktivisten verfolgt, unter denen sich auch die "unverwüstliche" Leyla Zana befindet. Sehr schnell wurde Kerr jedoch klar, dass dieser Prozess von vornherein auf einen Schuldspruch hinauslief: "Über dem Podium, auf dem die drei Richter und der Staatsanwalt sitzen, ist eine Büste von Atatürk, den Hüter des Nationalstaates angebracht. Seine altmodisch ottomanischen Worte sind in die Wand gemeißelt. Die Botschaft lautet, dass Pluralismus nicht geduldet wird."

Weitere Artikel: Colin Kidd lobt in höchsten Tönen James Morones fast schon vaudevilleskes Buch "Hellfire Nation. The Politics of Sin in American History", in dem der Autor nicht nur die "Substanz, sondern auch den Ton der amerikanischen liberalen Mythologie" auseinander nimmt, und den Puritanismus als den größten Verderber des Liberalismus outet. In Short Cuts hat Thomas Jones mit Erschrecken festgestellt, dass der Parlamentarier Frank Fields in seinem neuem Buch "Neighbours from Hell: The Politics of Behaviour" nicht die Armut für unsoziales Verhalten verantwortlich macht, sondern die Armen. Und schließlich schwärmt Peter Campbell von der Ausstellung "London 1753" im British Museum, in der ersichtlich wird, was sich in London mit der Zeit verändert hat, und was nicht.

Außerdem gewährt die London Review Zugang zu Artikeln des kürzlich verstorbenen Edward Said (siehe auch unseren Link des Tages). Nur im Print zu lesen ist Susan Sontags Besprechung von Anna Bantis "Artemisia".

Outlook India (Indien), 06.10.2003

Das Brennpunkt-Thema Kaschmir zieht sich durch die Ausgabe: Vor fünf Wochen, schreibt Prem Shankar Jha, sah dort alles nach Frieden aus, dann kehrte die Gewalt zurück. Alles wir gehabt - Terror im Auftrag Pakistans? Nicht ganz, meint er - seiner Meinung nach soll Indien anders als früher nicht ausgeblutet, sondern an den Verhandlungstisch gezwungen werden, während die indische Regierung den Beginn eines Dialogs vom Ende der Übergriffe abhängig macht.

Die Auseinandersetzung wurde vergangene Woche auch vor der UNO fortgeführt: Der pakistanische Präsident Musharraf griff die indische Regierung in seiner Rede vor den Delegierten scharf an; Atal Behari Vajpayee konterte einen Tag später im Wettbewerb um internationale Glaubwürdigkeit. V. Sudarshan war dabei, als der indische Premier am Rande der UN-Vollversammlung mit George W. Bush beim Mittagessen saß, und hat ihnen auf Teller und Mund geschaut. Viel Hoffnung auf einen baldigen pakistanisch-indischen Dialog hat auch er nicht.

Im Bundesstaat Maharashtra, berichtet Saumya Roy, herrscht bereits seit vier Jahren Dürre - und in diesem Jahr ist es am schlimmsten. Die Leute haben ihre Farmen verlassen und spalten Steine, um etwas zu essen zu haben. Und sie hoffen auf das Flugzeug, das die Wolken zum Regnen bringen soll.

Außerdem: Ashis K. Biswas sieht mit Rituparno Ghoshs Film "Choker Bali", der derzeit die internationalen Festivals tourt, Hoffnung für indisches Kino jenseits von Bollywood keimen. Madhu Jain porträtiert eine einzigartige Film-Dynastie: Die vier Generationen umfassende Schauspielerinnen-Familie Samarth-Mukherjee. Schließlich weist Sam Miller auf eine wundersame Geschichte hin: die eines exzentrischen Engländers von zwergenhaftem Wuchs, der 1608 zu Fuß nach Indien lief. Doch es kommt noch besser. Das Buch nämlich, das Dom Moraes and Sarayu Srivatsa über ihn geschrieben haben, steht Miller zufolge seinem eigenartigen Helden in nichts nach. Nur online gibt es außerdem einen Nachruf von Omar Barthoutie auf Edward Said.
Archiv: Outlook India

Radar (Argentinien), 29.09.2003

Roberto Bolano allerorten: Nach dem furiosen Rundumschlag des (exil-)chilenischen Autors gegen die zeitgenössische spanisch-lateinamerikanische Literaturszene in der Zeitschrift Reportajes, bringt Radar, die Kulturbeilage der argentinischen Tageszeitung Pagina 12, in ihrer aktuellen Ausgabe einen, ebenfalls postum veröffentlichten, überaus lesenswerten Text Bolanos über "Die Krankheit des Schriftstellers". Gewohnt sarkastisch stellt Bolano, der im Sommer einem schweren Nierenleiden erlag, zu Beginn die Gleichung auf: "Literatur + Krankheit = Krankheit", um sich sodann in einen delirierenden Exkurs über "Krankheit + Dionysos + Apollo + Baudelaire + Mallarme + Kafka ..." zu stürzen, bis ihm eine Ärztin die Überlebenschancen nach einer Nierentransplantation mit sechzig Prozent beziffert und, als er das ziemlich wenig findet, entgegenhält: "In der Politik wäre es die absolute Mehrheit."

Ebenfalls in Radar: Ein begeistertes Porträt des US-amerikanischen Autors Chuk Palahniuk. "Wird er der neue Stephen King?", fragt sich der argentinische Schriftsteller Rodrigo Fresan - der seinerseits den Auftrag erhalten haben soll, Roberto Bolanos unvollendet hinterlassenes opus magnum "2666" zu Ende zu schreiben.
Archiv: Radar

Reportajes (Chile), 29.09.2003

In der neuesten Ausgabe von Reportajes (Zugang nach kostenloser Registrierung) spricht der spanische Schriftsteller Javier Cerca in einem langen Interview über seine Freundschaft mit Roberto Bolano: In Cercas' erfolgreichem Roman "Soldaten von Salamis" tritt Bolano als eine der Hauptfiguren auf, die dem Gang der Handlung die entscheidende Wendung gibt. Cercas erzählt von der intensiven Anteilnahme seines Freundes am Entstehungsprozess des Romans - und von der ihm so rätselhaften wie schmerzlichen Aufkündigung der Freundschaft durch Bolano angesichts des überwältigenden Erfolgs des Buches, von dem mittlerweile weltweit über 500.000 Exemplare verkauft wurden.
Archiv: Reportajes

Literaturen (Deutschland), 01.10.2003

Hurra! Nach langer Durststrecke ändert Literaturen seine Online-Politik: Es gibt mehr im Netz zu lesen.

Wenn auch leider nichts aus dem Schwerpunkt. "Das Schöne an den USA ist, dass keiner sie besser zu kritisieren versteht als die Amerikaner selbst." Allen voran die Schriftsteller: Bernd Greiner spürt die paranoide Grundstruktur der amerikanischen Gesellschaft anhand von Don DeLillos "Sieben Sekunden" auf, Sigrid Löffler porträtiert Susan Sontag, Paul Nolte sieht sich in der aktuellen US-Literatur um, und Moritz Schuller liest DeLillos neuesten Roman "Cosmopolis" als eine "Parabel auf die (Selbst-) Zerstörungslust der amerikanischen Gesellschaft".

Franz Schuh hat aus den überschwänglichen Kritiken zu Jan Costin Wagners Krimi "Eismond" eine merkwürdige Botschaft herausgelesen, nämlich dass ein schlechter Roman ein guter Krimi sein kann. Sein belustigendes Fazit scheint doch eher gegen den Roman zu sprechen - sowohl literarisch als auch kriminalistisch. So zum Beispiel wenn Wagner die psychische Nähe von Polizist und Mörder thematisiert: "Diese Nähe ereignet sich nicht bloß, sie muss literarisch extra betont werden, damit der blöde Leser nicht auf andere Ideen kommt: 'Manchmal bilde ich mir ein, dass ich ihm irgendwie nahe bin.' - 'Wem?' - 'Dem Mörder.' Der Mörder selbst ist eine dialektische Konstruktion. Einerseits identifiziert er sich mit der Macht über Leben und Tod: 'Er war unsterblich. Er war der Tod.' Andererseits dürstet er nach dem Leben, kann aber nicht anders, als alle von ihm empfundene Lebendigkeit zur Quelle seiner Mordlust zu machen. Es ist nicht zu glauben, aber die Identifikation mit seiner ihm bald zum Opfer fallenden Geliebten geschieht antithetisch: 'Sie war ganz anders als er, sie war das Gegenteil von ihm selbst. Sie war das Leben.' "

Weitere Artikel: Richard David Precht verzaubert mit einer wunderbaren Liebeserklärung an das Lesen und seine Begleitumstände, wenn die verschneite Leo-Perutz-Lektüre im siedend heißen Tarifa zum "Schnee von Tarifa" gerinnt. Literaturen teilt das schwere Schicksal der monatlichen Blätter: Wir wissen einfach schon, dass Martin Amis' jüngster Roman "Yellow Dog" bereits vor seinem Erscheinen blutrünstig verrissen wurde, allen voran von Kollege Tibor Fischer (hier). Doch wie kommt Fischer dazu, Amis gegenüber solch einen Ton anzuschlagen?, fragt David Flusfeder und diagnostiziert daraufhin bei Fischer "authentische ödipale Wut". Und schließlich hat Aram Lintzel zwei Webseiten aufgestöbert, die literarische Werke zum Herunterladen anbieten: den Klassiker Gutenberg und dessen weniger klassische, weil anarchistische Variante textz.com.
Archiv: Literaturen

Times Literary Supplement (UK), 26.09.2003

In bester Thatcher-Manier fordert Rosemary Righter (toller Name für die Leitartiklerin der Times), dass die USA sich als Hegemonialmacht noch ein bisschen mehr anstrengen sollten, ihre Ideale vom freien Handel in der Welt zu verbreiten, da dieser ja, wie wir von Toqueville wissen, auch die politische Freiheit bringt: "Dieser Krieg der Ideen muss gewonnen werden - an der gesellschaftlichen wie an der militärischen Front. Er kann nur unter amerikanischer Führung gewonnen werden. Und er muss zu einem Zeitpunkt geführt werden, da das alte Europa - besonders, aber nicht ausschließlich sein französisch-deutsches Herzland - von einem bösen Anfall von Anti-Amerikanismus geplagt wird, ein wiederkehrender Virus, der historisch gesehen immer in Krisen-Momenten aufgetreten ist, um die transatlantische Kooperation zu behindern. Die Europäer mögen nicht gern an ihre Abhängigkeit von Amerikas Macht oder an Washingtons Willen, diese auszuüben, erinnert werden. Doch seit dem 11. September hat diese Regierung anderes zu tun, als den Schein gleichberechtigter Partnerschaft zu pflegen."

Stanley Wells hat einen philologisch interessanten Fund gesichtet: die ersten Shakespeare-Kritiken, verfasst von William Scott, einem Mitverschwörer des Earls von Essex gegen Königin Elisabeth. Besonders angetan hatte es Scott offenbar "Richard II", während er dem "Raub der Lukrezia" nicht besonders viel abgewinnen konnte: "zu viele überflüssige Adjektive, um das Versmaß voll zu bekommen".

Declan Kiberd feiert R. F. Fosters großartige Yeats-Biografie, die angesichts von Yeats ästhetischem Verhältnis zur Wirklichkeit dringend nötig war. John Lucas empfiehlt Michael Foots Essay-Sammlung "The Uncollected Michael Foot", auch wenn Foot von einem natürlichen Interesse an Literatur und Geschichte beim Menschen ausgeht. Außerdem ist das Gedicht "The Long Way Home" zu lesen, mit dem Stephen Knight aus Swansea den "TLS/Blackwell Poetry Competition" gewann.

New Yorker (USA), 06.10.2003

Rachel Cohen stellt mit Edmund Gosse und John Churton Collins zwei Größen des viktorianischen Literaturbetriebs vor, die eins verbindet: ein höllischer Verriss. Collins' Besprechung von Gosses "From Shakespeare to Pope" in der hochverehrten Quarterly Review "begann mit den seither vielzitierten Worten: 'Dass einem Buch wie diesem erlaubt werden konnte, mit dem Imprimatur der Cambridge Universität in die weite Welt geschickt zu werden, wirft äußerst ernsthafte Fragen auf.' " Es sei ein so böser, erniedrigender Verriss gewesen, dass man in Oxford noch Jahre später von Dozenten, denen ein Fehler unterlaufen war, sagte, sie hätten "einen Gosse aus sich gemacht". Doch die Geschichte, so Cohen, ließ den Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren und ließ den Kritiker Collins, im Gegensatz zu Gosse, in Vergessenheit geraten.

Weitere Artikel: Da das Verlagshaus Library of America keine toten Autoren mehr findet, die es veröffentlichen will, wendet es sich den (noch) lebenden zu, meint Joan Acocella. Zum Beispiel Saul Bellow, dessen erste Romane im Sammelband "Novels 1944-1953" erschienen sind, und deren chronologisch letzter für Acocella den Zeitpunkt markiert, an dem der schon ältere Bellow endlich zum "jungen Autor" wurde. Louis Menand bespricht die 15. Ausgabe des "Chicago Manual of Style", und John Cassidy hat zwei neu aufgelegte Wallstreet-Klassiker gelesen.

Anthony Lane zeigt sich erleichtert, dass Tom McCarthy seinen still-traurigen Film "The Station Agent" mit einem Witz enden lässt. Scheinbar also als Happy End, was Lane kaum fassen kann. Gegen James Cox' "Wonderland" jedoch wäre noch jeder Splatter von Johnny Wadd eine unschuldige Veranstaltung.

John Lahr hat in Will Frears' Inszenierung von Theresa Rebecks and Alexandra Gersten-Vassilaros? "witzigem und schlagfertigem" Stück "Omnium Gatherum" nur Polemiker entdecken können, aber Gott sei Dank keine Polemik. Dafür ein provokantes "theatralisches Feuerwerk, das unser Dunkel erhellt". Peter Schjeldahl porträtiert den subtilen Keramik-Künstler Ken Price (Homepage). Und Bruce McGall hat fünf Bücher entdeckt, die - in ihrem Titel - die Welt verändern, und präsentiert deren Klappentexte. Kostprobe: "Der Pingpong-Ball, der die Welt veränderte". Schließlich zu lesen: Tim Parks' Kurzgeschichte "In Defiance of Club Rules".
Archiv: New Yorker

Economist (UK), 26.09.2003

Der Economist diagnostiziert auch nach dem Berliner Verteidigungs-Gipfel ein noch etwas klappriges Verhältnis zwischen Großbritannien und den zwei Kontinentalmächten Deutschland und Frankreich. Sogar über den Ausgang des Gipfels scheinen sie sich uneinig zu sein: "Die Deutschen sagen, die Briten hätten ihre Meinung geändert; die Briten hingegen behaupten, sie seien bei ihrer Meinung geblieben."

Weitere Artikel: "Länger arbeiten, mehr Kinder kriegen". Sieht so die Zukunft der staatlichen Rentensysteme in Europa aus?, fragt der Economist. Allein schon das polemische Schlusskapitel von David Cautes Studie zur paradoxen Situation der sowjetischen Kunst ist für den Economist den Preis des Buches wert. Außerdem lesen wir, dass sich die Ausarbeitung einer irakischen Verfassung zunehmend schwieriger gestaltet, und wie schwer Condoleezza Rice es hat, in der krakenähnlichen Organisation der amerikanischen Außenpolitik, ihren Platz zu finden. Schließlich ein Nachruf auf den ungewöhnlichen Vorsitzenden des britischen House of Lords, Gareth Williams alias Lord Williams of Mostyn.

Leider nur im Print: der Aufmacher über den neuen Geist, der in Kanada weht.
Archiv: Economist

Spiegel (Deutschland), 29.09.2003

"Es ist zuweilen gar nicht einfach, die Vereinigten Staaten zu sein", meint Madeleine Albright im Interview - und dass sie immer sage: "Einige Amerikaner haben die UNO noch nie gemocht, weil es dort so viele Ausländer gibt." Außerdem erfährt man, was Joschka Fischer ihr auf Nachfragen über seine Zeit als Straßenkämpfer erzählt hat.

Leider nur im Print ein Brief von Albert Vigoleis Thelen, der dem Verleger Georg Olms 1967 eine Lesung von Martin Walser beschrieb: "Was er gelesen hat, werden Sie wissen, ganz schwüle Sachen. Bettgier triefender Frauen, Mannesnot unter Wasser, über Wasser, forkelnde Brunst; aber dann sind es Schwule, die einem den Atem berauben, während er dem Dichter selbst nicht ausgeht. Scharf hält er das Publikum im Auge und blättert mit Hilfe von eingelegten Zetteln um ..."

Besprochen wird Leander Haußmanns "Herr Lehmann"-Verfilmung. Thomas Brussig rezensiert Julia Francks neuen Roman "Lagerfeuer". Schließlich gibt es einen Beitrag über das neue Buch von Wolfgang Schäuble, mit dem dieser sich, nach den Worten des Spiegel, um das Amt des Bundespräsidenten bewirbt.

Der Titel klagt über das "Kreuz mit dem Koran".
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 28.09.2003

Jonathan Rabans Roman "Waxwings" besticht durch seine positive Grundhaltung, lobt Geoff Nicholson, auch wenn der Plot gar nicht danach aussieht: Rabans Held unterrichtet kreatives Schreiben in Seattle und lebt komfortabel vor sich hin. Bis er eine Phantomzeichnung eines mutmaßlichen Kinderschänders sieht, "die, wie er schockiert feststellt, eine groteske Karikatur von ihm selbst darstellt". Hinzu kommt noch ein "illegaler und amoralischer" chinesischer Bauunternehmer, der sein Haus repariert, und fertig ist eine großzügiger, bestärkender Roman. "Am Ende gibt der selbstverliebte Schriftsteller sich dem Leben hin."

Weitere Artikel: Im Close Reader bewundert Margo Jefferson den Fotoband "Harvard Works Because We Do", der - ergänzt durch Interviews - die Geschichte der Universitätsarbeiter erzählt, die von 1998 bis 2001 für menschlichere Arbeitsbedingungen an der schwerreichen Eliteeinrichtung kämpften. Jefferson fühlt sich auf angenehme Weise an die literarischen Dissidenten der Samizdat-Bewegung im ehemaligen Ostblock erinnert. Ex-Diplomat Richard Holbrooke jubelt, dass sich Stephen C. Schlesinger mit "Art of Creation" der so lange stiefmütterlich behandelten Gründungskonferenz der Vereinten Nationen 1945 in San Franciso annimmt, und das gleich auf so "exzellente" Art und Weise. Ansonsten bleibt das Urteil der Rezensenten eher verhalten: Thomas Mallon hält Joan Didion zwar für eine der "Großen", ihren neuen Kalifornien-Roman "Where I was From" (erstes Kapitel) empfiehlt er aber eher Didions "langjährigen Bewunderern". Und Stephen Metcalf orakelt zu Jhumpa Lahiris begabtem, aber trockenen Debütroman "Namesake": "Einfach Gesagtes kann nicht immer tief Gefühltes aufwiegen."

Schließlich spendiert uns die NYT Book Review ein kleines feines Gedicht von John Updike. Hier die letzten Verse:

"... Small dry red planet, when you loom
again, this world will be much changed:
our loves and wars, at rest, as one,
and all our atoms rearranged."
Archiv: New York Times