Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
07.10.2002. In der NY Review of Books blickt Vaclav Havel voller Selbstzweifel auf sein Erbe. Folio erzählt vom Glück, kein Buch geschrieben zu haben. Outlook India wettert gegen die Spaßgesellschaft. Der L'Espresso stellt die schärfste Waffe friedlicher Islamisten gegen die USA vor: Zamzan Cola. In der NYT Book Review freut sich Michael Palin über eine Peter-Sellers-Biografie.

New York Review of Books (USA), 24.10.2002

Viel Futter für jeden, der gerne denkt - über Politik, die Wissenschaft oder die Musikgeschichte.

Das tragischste Stück ist zweifellos Vaclav Havels "A Farewell to Politics". Es handelt sich um den Nachdruck einer Rede, die Havel im September bei seinem letzten Amerika-Besuch als Präsident der Tschechischen Republik in New York gehalten hat. Die Rede ist sehr persönlich gehalten und klingt nachgerade wie ein persönliches Vermächtnis: "Unweigerlich nähert sich die Zeit, in der mich meine Freunde, die Welt und - schlimmer - mein eigenes Gewissen nicht mehr fragen werden, welches meine Ideale und Ziele sind?, sondern was ich eigentlich erreicht habe, welches meine Absichten waren und welches die Resultate, wie ich mir mein Erbe wünsche und welche Welt ich gerne verlassen würde. Und plötzlich spüre ich das selbe moralische und intellektuelle Unbehagen, das mich einst antrieb, gegen das totalitäre Regime aufzubegehren und ins Gefängnis zu gehen - tiefe Zweifel über den Wert meiner Arbeit oder die Arbeit jener, die ich unterstützte, oder jener, deren Einfluss ich ermöglichte." Aus einem Märchen sei er herabgestiegen, sagt Havel im etwas rätselhaften Schluss der Rede, um sich in einem Märchen wiederzufinden.

Die Romanautorin Hilary Mantel beschreibt V.S. Naipaul (mehr hier) in einer Besprechung des Essaybandes "The Writer and the World" (Auszug), der Essays aus vier Jahrzehnten versammelt, als Außenseiter in allen Kulturen. Das schärft seinen Blick: "Er hat ein genaues Gespür für den intellektuellen Betrug und ist immun gegen alle Selbsttäuschung. Er lässt den Underdog nicht besser dastehen als seinen Unterdrücker. Unterdrückung, so notiert er, macht die Leute nicht zu Heiligen, sondern zu potenziellen Mördern - alle Opfer sind gefährlich." Allerdings, so Mantle, sollte man Naipauls oft sehr rigorosen Interviewäußerungen wie "Afrika hat keine Zukunft" nicht allzu wörtlich nehmen, denn sie stehen im Gegensatz zur Subtilität seiner Texte: "Er schreibt mit Delikatesse und Einfühlung über das Leben von Individuen, und in vielen Teilen dieser Essaysammlung entfaltet er eine ruhige Perspektive, die seine Feinde oft vermissen lassen."

Weitere Artikel in dieser sehr gewichtigen Ausgabe: Russell Baker schreibt über die Memoiren des Politikers John McCain. Der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg fragt "Is the Universe a Computer?" Mark Lilla setzt sich kritisch mit George W. Bushs Begriff der "Achse des Bösen" auseinander. Charles Rosen fragt: " Should We Adore Adorno?".

Andere Texte - Amos Elon über Harry Kessler, Charles Simic über Joseph Cornell, J.M. Coetzee über W.G. Sebald, Gordon A. Craig über Joachim Fests ins Englische übersetzte Speer-Biografie, John Weightman über Napoleon-Biografien und eine Monografie über die preußischen Befreiungskämpfe und Tim Parks' "Tales Told by the Computer" - darf nur lesen, wer 62 Dollar für das jährliche Online-Abo berappt.

Folio (Schweiz), 01.10.2002

Eine gute Idee, zur Buchmesse ein Heft darüber herauszugeben, wie man Bücher schreibt! Denn Manfred Papst dürfte mit seinem "Glück, kein Buch geschrieben zu haben", ziemlich allein dastehen. Bei allen anderen ist es heute nahezu ein Muss, das eigene Buch herausgebracht zu haben.

Andrea Köhler war im Creative-Writing-Workshop und lässt uns netterweise an dem teilhaben, was sie gelernt hat: "Wie schreibt man einen Roman? In Amerika gibt es darauf eine Antwort: Just do it. Gehen Sie in einen Workshop. Und vergessen Sie alles, was Sie als Europäer im Literaturstudium möglicherweise gelernt haben. Vergessen Sie die hundert Verbote der Moderne, die da heißen: Du sollst keine Handlung erfinden und keinen Plot aufbauen, Du sollst keine realistischen Helden hinstellen und Gut und Böse ins Jenseits verbannen, Du sollst deine Figuren nicht mit Gesinnungen kostümieren, nicht Zuflucht ergreifen bei den Sicherheiten der Erzähltradition, Du sollst das Bewährte meiden. Vergessen Sie diese Verbote, nein: verstossen Sie gegen sie. Wie sagt meine Creative-Writing-Lehrerin? Shut up all your knowledge of writing!" Und dann erklärt sie die wirklich geltenden zehn Gebote, von denen einige heißen: Du sollst lügen. Du sollst stehlen. Und: Du sollst Deinen Figuren Leid zufügen.

Interessant ist auch ein Text von Harald Willenbrock, der Einblick in die Arbeit der Ghostwriter gibt: "Ghostwriting kann gutgehen wie bei Harald Juhnke: Woran Juhnke sich nicht mehr erinnerte, erfragte sein Ghost bei Zeitzeugen. Es kann schiefgehen wie bei Hanns Joachim Friedrichs; da hielt zum Schluss Friedrichs sein Leben und der Ghostwriter seine Arbeit für verkannt." (Willenbrock selbst hat übrigens als Ghost das Buch der Sommeliere Paula Bosch geschrieben).

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Matthias Zschokke erklärt, was ihn antreibt, Bücher zu schreiben. Peter Haffner gibt Ratschläge, wie man sein Manuskript an den Verleger bringt. Allerdings helfe es auch nichts, den Lektor zu beschimpfen, zu bedrohen oder zu bestechen, wenn dem die ersten zwanzig Seiten nicht gefallen. Werner Morlang empfiehlt im gleichen Zusammenhang, sich an die kleinen, aber feinen Verlage zu halten. Marion Janzin und Joachim Güntner haben sich angesehen, was das Unternehmen Books on Demand so druckt (nämlich alles). Und Ursula von Arx schreibt über Lesungen als Events, bei denen sich zu "Musik und Bier auf Lümmelsofas" alles zeige, was gerne jung, umstritten und angesagt ist.
Archiv: Folio

Outlook India (Indien), 14.10.2002

Kaum findet die indische Film- und Popkultur auch im Westen Beachtung, setzt zuhause der Backlash ein: Der Aufmacher beschäftigt sich, unter dem Titel Degeneration X, kritisch mit der indischen Spaßgesellschaft. Event- und Klatschjournalismus statt Berichten über die Lage der Nation, selbst die seriösen englischsprachigen Zeitungen wie Times of India oder Hindustan Times glänzen neuerdings mit bunten Magazinbeilagen. Das Verdikt des Autors ist schneidend, wenngleich in seiner Argumentation von eher schlichter kulturkritischer Machart: "India's Dumbing Down, no doubt about it. As our media turns news, politics, sports and arts into entertainment and dubious celebs-turned-authorities hold forth on everything under the sun, no-brow rules. The dividing line between high-brow and kitsch is blurring: painters rub shoulders with models, Amartya Sen is interviewed in pulp city supplements, 'serious' filmmakers make sad attempts at commercial cinema." Reality-TV wird ebenso als Beispiel für allgemeine Verdummung herangezogen wie der neueste Trend des Musik-Remixes - und wir erfahren, dass es in ganz Indien genau einen Abonnenten der New York Review of Books gibt.

Nicht ohne Bezug dazu der Bericht über den Bollywood-Star Salman Khan, der mit seinem Auto im volltrunkenen Zustand (und womöglich ohne Führerschein) in eine Gruppe von fünf Arbeitern gerast ist, einen getötet und die anderen schwer verletzt hat. Schlimmer als die Tat aber, so ein böser Kommentar, sind die absehbaren Folgen: er wird glimpflich davonkommen. Mit dem indischen Rechtsstaat nämlich ist es, kritisiert die Kommentatorin, immer dann nicht weit her, wenn Prominente betroffen sind: "Law never catches up with them, while the same law traps ordinary people, especially the poor-only because they lack the twin armour of money and connections."

Ein weiterer Artikel beschäftigt sich noch einmal mit dem neuerlichen Attentat in Mahatma Gandhis Heimatstaat Gujarat und seinen Nachwirkungen; Politiker der regierenden BJP machen - noch ohne alle Beweise - Pakistan verantwortlich und gießen mit ihren alles andere als besänftigenden, minderheitenfeindlichen Äußerungen weiter Öl ins Feuer. Mit sichtlicher Freude wird der wachsende Widerstand in Großbritannien gegen Tony Blairs Bush-und kriegsfreundliche Politik beobachtet: "When more than a quarter of a million Brits gather to give up a sunny Saturday, another Brit certainly knows what that means." Verfahren ist die politische Lage im Nachbarland Bangladesh: Die gegnerischen Lager werden von Frauen angeführt, viel Hoffnung ist offensichtlich in keine von beiden zu setzen.

Besprochen wird eine Geschichte der indischen Literatur in englischer Sprache - eine Diskussion zum Verhältnis Indiens zum Englischen inklusive. Und zum hundertsten Geburtstag wird außerdem mit viel Respekt und Hinweisen auf die Aktualität seiner in vielen Artikeln nachzulesenden Ansichten an den sozialistischen Politiker Jayaprakash Narayan erinnert.
Archiv: Outlook India

Espresso (Italien), 10.10.2002

Sehr politisch, der Espresso in dieser Woche: Gianni Perelli berichtet vom Unbehagen der arabischen Länder über die Kriegstreiber in Washington und Bagdad. Ihr Missfallen äußern die Menschen weniger politisch, dafür aber in einer für die USA viel schmerzlicheren Weise: "Die viel ernstere Art der Feindschaft ist jene, die Coca Cola und Pepsi Cola derzeit in Saudi-Arabien erfahren müssen. Im August betrat Zamzan Cola den Markt der kohlenstoffhaltigen Erfrischungsgetränke, mit einem triumphalen Erfolg. Die erste islamische Cola ist nach einer heiligen Quelle in der Nähe von Mekka benannt. Am ersten Tag gingen über 4 Millionen Flaschen a einen Liter über den Ladentisch." Wlodek Goldkorn schreibt passend dazu über die Entschlossenheit des amerikanischen Präsidenten, diesen Krieg zu führen. Mit oder ohne UNO, mit oder ohne Allierte. Das Öl ist dabei eher zweitrangig, glaubt Goldkorn. "Wie Napoleon Bonaparte 200 Jahre zuvor, will Bush der Welt die Freiheit mit dem Bajonett bringen."

Roberto di Caro schickt eine Reportage aus Kabul, wo die Probleme immer größer und die Aussichten auf Prosperität und Entwicklung immer geringer werden. Das liegt auch an den Afghanen. "Ein Volk sind sie immer gewesen, sie schaffen es aber nicht, ein Land zu werden. Das gleiche Geld für all die Feinde, der gleiche Gott für Schiiten und Sunniten, der gleiche Boden, die gleichen Kriege, Gebräuche, die selbe Wildheit. Aber die Zersplitterung der Macht zwischen den Ethnien, Gruppen, den Warlords und den lokalen Bandenchefs, das ist einer der Pfeiler der afghanischen Gesellschaft, das bleibt, trotz Karzai-Regierung und internationalem Kontingent."

Weitere Artikel: Renata Pisu hat sich auf dem postsowjetischen Archipel Gulag in Sibirien umgesehen und entdeckt, dass es für die derzeit 960.000 Gefangenen der Straflager nicht überall so rosig aussieht wie es die Behörden den Reportern in der Modell-Anstallt Nr. 27 weismachen wollen. Normalerweise, schreibt sie, "besteht das Mittagessen immer noch aus Brot und Sardinen". Raimondo Burti meldet zudem, dass die tamilischen Rebellen auf Sri Lanka den Unabhängigkeitskampf erst einmal beenden wollen. Nach zwanzig Jahren Krieg und Tausenden von Toten. Ausführlich stellt Daniela Giammusso "Pinocchio" vor, den neuen Film von Roberto Benigni. Ganz Italien sehnt den 11. Oktober herbei, an dem das 45 Millionen Euro teure Kolossalwerk in 850 Kinos Italiens anläuft. Außerdem beschäftigt er sich mit "Possession", dem aktuellen Film mit Gwyneth Paltrow.

Und wieder keine Bustina. Umberto Eco ist wohl immer noch im Urlaub.
Archiv: Espresso

New Yorker (USA), 07.10.2002

Fareed Zakaria erklärt den amerikanischen "Ärger damit, die einzige Supermacht der Welt zu sein". Spätestens seit Anfang der 90er Jahre, stellt Zakaria fest, scheine es, "dass alle auswärtigen Probleme, egal wie entfernt sie sein mögen, irgendwann auf dem Schoß von Washington landen". Irgendwie kein Wunder: "America's relative position in the world has no real historical precedent. Imperial Britain, which at its peak reigned over a quarter of the world's population, is the closest analogy to the United States today, but it is still an inadequate one. To take an example, the symbol of Britain's supremacy was its Navy, which (?) was kept larger than the next two largest navies combined. The United States military today is bigger, in dollars spent on it, than the militaries of the next largest fifteen countries combined - and those expenditures amount to only about four per cent of the country's gross domestic product."

Außerdem zu lesen: William Finnegan porträtiert Otto Juan Reich, vereidigter Assistant Secretary of State for Western Hemisphere Affairsc oder kurz: "Amerikas Mann in Lateinamerika". Susan Orlean schwärmt von dem Pariser Plattenladen von Herve Halfon, "einem Franzosen, der Franzosen hasst", der sich zu einem Zentrum für afrikanische Musik entwickelt hat. Und Aleksandar Hemon präsentiert seine Erzählung "The Bees, Part I".

Besprechungen: Alec Hanley Bemis lobt ein neues Album von Beck (mehr hier). Elizabeth Kolbert faszinierte eine englische Neuübersetzung der wichtigsten Schriften und Dokumente über die Reisen von Christoph Columbus, David Owen las ein Buch über den Eroberungsfeldzug des metrischen Systems, und Kurzbesprechungen widmen sich u.a. einem Essayband über "The Unfinished City" New York. Hilton Als hat sich noch einmal die TV-Adaption der "Forsyte Saga" vorgenommen, John Lahr bespricht zwei Theaterstücke von George S. Kaufman und Stephen Adly Guirgis, und Anthony Lane sah im Kino die vierte Hannibal-Lecter-Verfilmung "Red Dragon" mit Anthony Hopkins, die zur Abwechslung einmal "nicht so schaurig" sein soll, wie ihre Vorgänger, und "White Oleander", eine weitere Bestseller-Verfilmung mit Hopkins und Michelle Pfeiffer von Alison Lohman.

Nur in der Printausgabe: eine Reportage aus einem finnischen Sommercamp mit Weltrettungsprogramm, ein Bericht über einen Mann, der Schwarzmarktware aus Peking nach Washington bringt, ein Porträt von Condoleezza Rice, ein Artikel über mögliche Kriegspläne der Hisbollah und Lyrik von Zbigniew Herbert, Charles Wright und Giuseppe Ungaretti.
Archiv: New Yorker

Times Literary Supplement (UK), 05.10.2002

Diesmal ist nicht viel los im TLS. Aufmacher ist ein Text von Howard Timberley, der mehrere Bücher über die Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien bespricht. Dabei lobt er vor allem "The Mighty Experiment", in dem Seymour Drescher nachzeichnet, wie die Befreiung von der britischen Bevölkerung ausgenommen wurde. "It became customary for writers to celebrate the selfless way in which Britain had set an example by leading the attack on slavery", schreibt Timberley, tatsächlich aber sah es anders aus. Adam Smith' Diktum, dass Freiheit auch Wohlstand bringe, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil. "Having already paid £20 million in compensation to slave-owners - an almost unbelievably large sum, equivalent to 40 per cent of the national budget - the public now found itself paying millions more. To make matters worse, this coincided with a time of unemployment and economic hardship in Britain... People were incensed. Nach der Lektüre, meint Timberley, würde man sogar ein wenig Verständnis dafür haben, dass sich die Times und der Economist damals gegen die Abschaffung der Sklaverei wandten.

Weiteres: Im britischen Feuilleton scheint ein Streit über Orlando Figes' russiche Kulturgeschichte "Natasha's Dance" ausgebrochen zu sein. Rachel Polonsky hat das Buch in der vorigen Print-Ausgabe offenbar vernichtend verrissen - Plagiatsvorwürfe inbegriffen. Nun legt sie noch einmal nach, zeiht Figes der Auschneiderei und intellektuellen Unlauterkeit, während Figes im Print seine Arbeit verteidigt. (Im Guardian ist der Verlauf der Debatte nachzulesen).

Liam Hudson begeistert sich für das Buch "Wool-Gathering" des Literaturwissenschaftlers Dan Gunn, in dem dieser die Geschichte eines Hypochonders erzählt, der seinem Analytiker über die Jahre insgesamt 25.000 Pfund zahlt, um zum Schluss als lesbisch diagnostiziert zu werden. Besprochen werden außerdem Paul Austers neuester Wurf "Book of Illusions" und Caryl Churchills neues Stück "A Number" am Royal Court Theatre, mit dem sich die einst "feministische Außenseiterin" zur "klassischen Tragödin" gewandelt hat, wie Michael Caines befindet.

Spiegel (Deutschland), 07.10.2002

Auf dem Titel ist nach den Wahlwochen jetzt Politpause, man beschäftigt sich dafür ausführlich mit dem nie und immer aktuellen Thema Schönheitsoperationen. Im Netz gibt's davon, wie üblich, nichts umsonst.

Vom eher kläglichen frei verfügbaren Rest am interessantesten das Interview mit New Yorks Ex-Bürgermeister Rudolph Giuliani, der unter dem Titel "Leadership" ein soeben ins Deutsche übersetztes Buch geschrieben hat. Im Gespräch äußert er sich zu Bin Laden, dem er gerne mit Selbstjustiz beigekommen wäre: "An dem Tag kam der Präsident zum ersten Mal nach dem Anschlag nach New York. Ich holte ihn vom Helikopter ab. George W. Bush fragte: 'Gibt es irgendwas, was ich für Sie tun kann?' Und ich sagte: 'Ja, wenn Sie diesen Kerl Bin Laden kriegen, wäre ich gern derjenige, der ihn tötet.'" In Sachen Sozialstrukturen erweist er sich als leuchtendes Vorbild der Hartz-Kommission: "Ich habe das soziale Modell, das die Stadt 50 Jahre beherrschte, in Frage gestellt. Als ich Bürgermeister von New York wurde, bekamen unglaublich viele New Yorker Sozialhilfe. Ich wollte diese Kultur der Abhängigkeit ändern. Also machten wir die Sozialhilfebüros zu Arbeitsbeschaffungsagenturen. Als ich das Amt verließ, hatten wir 650.000 Sozialhilfeempfänger weniger." Und was seine Zukunftspläne angeht, hält er sich erst mal bedeckt: "Ich glaube, als Bürgermeister von New York bist du am Ende froh, wenn du nicht im Knast landest und lebendig aus der Stadt herauskommst."

Porträtiert wird, nicht ohne Respekt, der denkbar undiplomatische Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, der seine Rolle als gnadenloser Insolvenzverwalter der ruinierten Stadtkasse nicht ohne Vergnügen spielt. Geteilt aber wird dieses Vergnügen von kaum einem, sei es politischer Freund oder Feind: "Ein Berliner SPD-Bundestagskandidat kündigte sogar intern an, bei einer Wahlniederlage werde er dem Finanzsenator 'eigenhändig links und rechts eine runterhauen'." Apropos Haushalt: EU-Finanzkommissarin Schreyer hat soeben ihre Chefbuchhalterin gefeuert, weil die lautstark Kritik geübt hat an den Buchhaltungsmethoden in Brüssel. Ein Rechnungshof-Experte gibt ihr freilich ganz recht: ""An den Bilanzen der Kommission stimmt hinten und vorne nichts". Außerdem: Ein Einblick ins zunehmend bizarre Paralleluniversum namens Rudolf Scharping.
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 06.10.2002

Randvoll mit guten Büchern, die Review diese Woche: Michael Palin ist ganz entzückt von Ed Sikovs informativer und unterhaltender Biografie der englischen Komödien-Ikone Peter Sellers ("Mr. Strangelove" erschienen bei Hyperion, mehr über die Pink-Panther-Reihe und alle anderen Filme hier). Das Lob Palins zählt doppelt, wenn man weiß, wie sehr er Sellers verehrt. "Sellers was also a master of understatement. As much as any comic actor I know, with the possible exception of John Cleese, Sellers realized how much funnier comedy can be if played not only straight but with gravity and conviction. As Sikov writes, 'He remains to this day the master of playing men who have no idea how ridiculous they are.' He was blessed with an inexhaustible gift for mimicry, what Sikov calls his 'omnidextrous voice'. The only accent that defeated him, apparently, was Texan." Texaner sollen ja ohnehin wenig Spaß verstehen .

Außerdem in dieser randvollen Ausgabe: Als überzeugenden Triumph bezeichnet Geoffrey C. Ward den Roman "Paradise Alley" von Kevin Baker, der von der dunkelsten Stunde New Yorks vor 9/11 erzählt, den irischen Aufständen im Jahre 1863 (Leseprobe). Erfrischend bis köstlich liest sich Zadie Smiths zweiter Roman "The Autograph Man" für Daniel Zalewski, leider nur in der zweiten Hälfte (Leseprobe). Beim nächsten Buch, hofft der Rezensent, wird Smith ihren Rhythmus wiederfinden. John Tooby feiert Janet Brownes Abschlussband ihrer monumentalen und konkurrenzlosen Darwin-Biografie (Leseprobe). Maureen Howard bewundert Milan Kunderas Roman "Ignorance" ("Die Unwissenheit"). Im Close Reader überlegt Judith Shulevitz, ob es das Böse an sich überhaupt gibt, auf dessen Schlechtigkeit sich alle einigen können, wenn doch "Al Qaeda members and Palestinian suicide bombers are genuinely, sincerely, convinced that they are doing the right thing."

Die Krimi-Kolumne beschäftigt unter anderem mit 93-jährigen Zahnärzten, unschuldig wirkenden Molekularbiologen und Journalisten auf Kreuzzug. Kurz besprochen werden diesmal Sachbücher, etwa über die New York Yankees, die Erfindung des Flugzeugs oder die zwei mysteriösen mähnenlosen Löwen, die 1898 in Ostafrika über 100 Eisenbahnarbeiter töteten.
Archiv: New York Times

Express (Frankreich), 03.10.2002

"Für mich ist Berlin eine Art wilder Westen, wo alles möglich ist, auch die Erwartungen der Zuhörer zu verändern", sagt Sir Simon Rattle in einem langen Gespräch mit dem Express anlässlich seines Amtsantritts als künstlerischer Leiter der Berliner Philharmonie. Er erklärt in dem Gespräch ein weiteres Mal seine Liebe zu Mahler und seine Gründe, ihn fortan seltener zu spielen: " Wir müssen zugeben, dass dieses Orchester sehr viel mehr laute als leise Stücke gespielt hat. Aber forte und pianissimo sind nicht unvereinbar. Bestimmte Aspekte des Repertoirs wurden vernachlässigt: wenig Bach, Haydn, Mozart, noch weniger französische Musik und eine sehr selektive Moderne (Nono, aber nicht Adams; Ligeti, aber nicht Lindberg). Ich bin gegen die Ghettos. Ich möchte die Werke und Komponisten entschieden mischen."

In dieser Ausgabe versammelt der Express außerdem eine Reihe von politischen Büchern: Christian Makarian hat mit Stephane Courtois über die Gründe gesprochen, weshalb er "Das Schwarzbuch des Kommunismus" durch einen weiteren Band mit dem Titel "Du passe faisons table rase!" (Auszug) ergänzt hat. Courtois macht auf die Besonderheiten Frankreichs aufmerksam, wo der kommunistische Ideologie bis heute salonfähig sei: "Es gibt eine Reihe von Mythen, die in der Linken bis heute lebendig sind, die Kommune, die Volksfront, und das alles wurde 1968 wiederbelebt. Meiner Meinung nach liegt der Hauptgrund in unserer revolutionären Vergangenheit. Die Französische Revolution ist schließlich das Herz unserer Identität, sowohl in politischer, aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Viele Leute kommen davon nicht los. Es ist erstaunlich genug, dass immer noch eine Parallele zwischen 1789 und 1917 gezogen wird: Robespierre-Lenin oder gar Robespierre-Stalin. Aber der eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Bei Robespierre mag es protototalitäre Züge gegeben haben, aber die Zeit des Schreckens war begrenzt... Und schließlich bedeutet 1789 doch vor allem die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte."
Archiv: Express