Magazinrundschau

Keine Berichte über das linke Ufer

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
12.03.2024. New Lines unterhält sich im kenianischen Frere Town mit den Nachfahren ehemaliger Sklaven aus ganz Afrika, die keine Kenianer sein dürfen. Africa is a country macht arabischen Rassismus für das Desinteresse am Hunger der schwarzen Bevölkerung Sudans verantwortlich. Der Guardian lernt von Sefton Delmer, was schon bei den Nazis klappte: Wie man Propaganda unterläuft. Die Boston Review sieht Bertrand Taverniers Doku über den Algerienkrieg. Der New Yorker bereist das zerstörte Syrien, Mediazone das zerstörte Mariupol. Das New York Magazine ist gegen Sex. Unherd fragt, wann Schwulenfeindlichkeit links wurde.

New Lines Magazine (USA), 06.03.2024

Gioia Shah stellt eine Gruppe vor, die seit langer Zeit in Kenia lebt, aber nicht von dort stammt: Es sind Nachfahren ehemaliger Sklaven aus ganz Afrika, die im späten 19. Jahrhundert der Sklaverei entkamen und sich mit Hilfe der Briten auf einem Grundstück niederließen, das sie Frere Town nannten und das heute Teil von Mombasa ist. Mit der Unabhängigkeit Kenias 1963 wurde ihr Status kompliziert: "'Leider erkennen sie uns nicht an', sagt Uledi über die Freretownianer. Mit 'sie' meint Uledi die kenianische Regierung. Ohne Zugehörigkeit zu einem der offiziell anerkannten Stämme in dem ostafrikanischen Land ist es schwierig, eine nationale ID-Karte zu erhalten. Und ohne eine ID-Karte haben sie keinen Zugang zu öffentlichen Diensten wie der Gesundheitsversorgung. 'Wir haben bis jetzt dafür gekämpft', sagt Mwambila, der Vorsitzender der Frere Town Descendants Community Association ist. Sie vertritt die Nachkommen der Sklaven, die befreit wurden und sich in Frere Town niederließen. Um sich zu integrieren und einen Ausweis zu erhalten, haben sich die meisten Nachkommen dafür entschieden, jemanden aus den lokalen Gemeinschaften zu heiraten oder einfach zu lügen und einen ihrer Namen anzunehmen. 'Wenn du dich keinem Stamm zuordnest ... dann bist du erledigt', sagt er."
Stichwörter: Kenia, Frere Town

Africa is a Country (USA), 11.03.2024

Warum interessiert niemanden das Leiden in Sudan, fragen empört Omnia Mustafa und Ghaida Hamdun: "Im Sudan leben derzeit über 10 Millionen Vertriebene, und die Hälfte der Bevölkerung leidet unter akutem Hunger. Der Sudan befindet sich in der weltweit schwersten humanitären Krise und Vertreibung. Doch das Schweigen, das den Kampf des Sudan umgibt, ist deutlich und wirft eine dringende Frage auf: Warum wird die Notlage der Sudanesen immer wieder übersehen?" Die beiden machen dafür vor allem einen arabischen Rassismus verantwortlich, der während der Diktatur Omar al-Bashirs aufblühte. "Al-Bashirs rücksichtslose Stärkung der arabischen Vorherrschaft unterdrückte nicht nur ethnische Minderheiten, sondern legte auch den Grundstein für das, was heute als der erste und am längsten andauernde Völkermord des 21. Jahrhunderts gilt. ... Rassistische Äußerungen und die Darstellung sudanesischer Protagonisten mit schwarzem Gesicht sind in der arabischen Unterhaltungsindustrie zur Normalität geworden - sichtbare Manifestationen der zugrunde liegenden antischwarzen Stimmung. Die Normalisierung des Rassismus geht jedoch weit über den Bereich der Unterhaltung hinaus. Der jüngste Vorfall, bei dem ein Reporter aus Gaza eine abfällige Bemerkung über die Hautfarbe machte, als Hilfsgüter, die für den Sudan bestimmt waren, nach Gaza umgeleitet wurden, machte die tief verwurzelte antischwarze Stimmung in arabischen Gemeinschaften deutlich. Die Reaktionen in den sozialen Medien, die sudanesische Bedenken als übertrieben 'verwestlicht' abtaten, verdeutlichten ein grundlegendes Missverständnis und die Leugnung der in der arabischen Kultur weit verbreiteten Feindlichkeit gegen Schwarze. Im Internet wurden Sudanesen, die ihr Unbehagen über die Situation zum Ausdruck brachten, als 'ignorante Amerikaner' bezeichnet, obwohl sie noch nie einen Fuß nach Amerika gesetzt hatten."

Sobukwe Shukura ist nicht glücklich mit dem Plan, im Rahmen einer UN-Mission tausend kenianische Polizisten nach Haiti zu schicken, um Regierung und Bevölkerung gegen kriminelle Banden zu beschützen, die die Übernahme des Landes anstreben. Letztere finden bei Shukura allerdings keine Erwähnung. Ausschlaggebend ist für ihn, dass der derzeitige Premierminister Ariel Henry von der alten Regierung Moise zwar eingesetzt, aber noch nicht durch Wahlen bestätigt wurde: "Um über diese Situation nachzudenken und vor allem, um die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger gegen diese Situation zu verstärken, veranstaltete die Pan-African Socialist Alliance am 24. Januar die Veranstaltung 'Hands Off Haiti: Resist Occupation' im kenianischen Nationaltheater. Ziel war es, diese von den USA und der 'Kerngruppe' geförderte UN-Mission in Frage zu stellen. Die Organisatoren sind sich mit der in den USA ansässigen Black Alliance for Peace einig, dass es sich bei diesem Projekt nur um Imperialismus in schwarzer Maske handelt. Im Einklang mit der von vielen Kenianern geteilten Meinung sagen wir 'Nein zum Blackface-Imperialismus' und 'Ja zur haitianischen Souveränität'." Wie souverän ein von kriminellen Banden beherrschtes Haiti sein kann, sagt Shukura nicht.

Guardian (UK), 11.03.2024

Peter Pomerantsev fragt sich im Guardian, wie demokratische Kräfte autokratischer Propaganda entgegenarbeiten können. Zu diesem Zweck wendet er sich dem britischen Journalisten Sefton Delmer zu, der im Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Versuchen unternahm, deutsche Soldaten gegen ihre Führung aufzubringen; nicht durch klassische, die Wahrheit predigende "Gegenaufklärung", sondern indem er versuchte, an ihre eigenen Interessen zu appellieren. Besonders fasziniert zeigt sich Pomerantsev von Delmers Soldatensender Calais, der einen paradoxen, aber möglicherweise gerade deshalb effektiven Adressierungsmodus wählte: "Hier war eine Sendung, die eine Nazisendung zu sein behauptete, die aber wusste, dass ihr Publikum wusste, dass sie keine war; und deren Publikum dennoch einschaltete, weil es die emotionale und physische Sicherheit benötigtete, die darin bestand, so zu tun, als sei es doch ein Naziprogramm. Wenn das Prinzip der Goebbels'schen Propaganda darin bestand, die Zuhörer zu betäuben, sie in der lauten, wütenden Menge aufgehen zu lassen, dann schuf Delmer als Alternative eine Sendung, die sie dazu aufforderte, eine Serie von autonomen, bewussten Schritten zu machen, sie aktiv werden zu lassen. Andere mediale Aktivitäten Delmers, wie etwa Flugblätter, die erklärten, wie man Krankheiten vortäuschte, um von der Front abberufen zu werden, zielten ebenfalls darauf ab, dass Menschen selbst die Kontrolle übernehmen und aktiver wurden. (...) Was also können wir von Delmers sonderbaren, widersprüchlichen Aktvitäten lernen? Diktatoren und Propagandisten in Demokratien nutzen Hass versprühende Trollfarmen und verschwörungsselige Fernsehsender; sie zielen auf die tiefsten Verletzungen ihres Publikums ab und fördern Grausamkeit. Wenn wir damit konkurrieren wollen, müssen wir eine neue Generation demokratischer Medien erschaffen, die mit demselben Fokus, aber mit anderen Werten arbeitet."
Archiv: Guardian

Film-Dienst (Deutschland), 09.03.2024

Helke Sander zählt zu den wenigen Autorenfilmerinnen, die aus dem Jungen Deutschen Film hervorgegangen sind. Berühmt wurden jedoch andere Filmemacher aus diesem Zusammenhang - trotz zahlreicher Verdienste, derer sich Sander rühmen kann. Aktuell läuft Claudia Richarz' Porträtfilm "Helke Sander - Aufräumen" im Kino - ein Anlass für Bettina Hirsch, in einem Gespräch mit Sander auf deren Arbeit zurückzublicken. 1981 erhielt die Regisseurin für ihren Film "Der subjektive Faktor" den Produzentenpreis in Venedig und in Berlin 1985 für "Nr 1. Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste" den Goldenen Bären für den besten Kurzfilm. Doch während sich für Männer nach Auszeichnungen auf großen Festivals oft Türen öffnen, blieben diese für Sander meist verschlossen: "Filmförderungen und Produktionsfirmen standen trotz der Preise nicht Schlange, und von einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen konnte keine Rede sein. Alle Filmemacherinnen, mit denen wir uns unterhalten haben, machten die gleichen Erfahrungen. Wenn wir Erfolg hatten, bekamen wir gleich eine Strafe dafür. Die Finanzierungen dauerten meistens beträchtlich länger als die von gleich erfolgreichen männlichen Filmemachern. Die hatten es auch nicht leicht, aber es stand in keinem Verhältnis. Wir haben uns untereinander organisiert. Daraus folgte dann die Gründung des Verbandes der Filmarbeiterinnen. Ich habe einige meiner Filme selbst produziert, obwohl ich eine bessere Regisseurin bin. Gute Produzenten sind im Filmgeschäft Gold wert. ... 'Nr. 1 - Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste' war ein selbstproduzierter Film und hat trotz des Goldenen Bären bei der Finanzierung anderer Projekte nicht weitergeholfen."
Archiv: Film-Dienst

Desk Russie (Frankreich), 10.03.2024

Der Politologe Philippe De Lara versucht zu umreißen, was die Stärke Alexej Nawalnys ausmachte. Er gehörte für Lara zu den ersten, die begriffen, dass man angesichts des sich verfinsternden Regimes keine "Politik" mehr machen konnte - zweimal war er mit dem Versuch gescheitert, erst bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen, dann bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Also hat er an ein älteres, scheinbar obsoletes Modell angeknüpft: "In den letzten Jahren seines Lebens griff Alexej Nawalny die Idee der Dissidenz wieder auf, das heißt, eine Form des moralischen Protests, die sowohl individuell als auch kollektiv ist. Die Dissidenz spielte eine Schlüsselrolle beim Zusammenbruch der UdSSR, der moralische Protest war mit den 'Helsinki-Gruppen' zu einer politischen Kraft geworden, die in den 1970er Jahren gegründet wurden, um die Einhaltung der Menschenrechtsvereinbarungen von Helsinki durch die UdSSR zu überwachen. Diese Gruppen brachten das Regime in Bedrängnis, indem sie die sowjetische Lüge gewissermaßen beim Wort nahmen. In einem normalen Regime ist eine Politik, die sich für Moral hält, das Schlimmste, gleichbedeutend mit Heuchelei und Hilflosigkeit. In einem totalitären Regime wird Moral jedoch zur Politik. Das war es, was Nawalny verstanden hatte und in seinem Leben verkörperte."
Archiv: Desk Russie

Mediazona (Russland), 29.01.2024

Wie steht es um den Wiederaufbau von Mariupol?, fragt sich Alla Konstantinowa im russischen Medienprojekt Mediazona (hier die deutsche Übersetzung bei Dekoder). Es stellt sich heraus: Das Interesse der russischen Regierung um die Bevölkerung Mariupols hält sich in Grenzen. "'Die Besatzungsregierung lässt allem voran das Zentrum und die Bezirke am Stadtrand Richtung Donezk und Saporishshja wiederaufbauen, was natürlich kein Zufall ist', sagt Ossytschenko. "Das sind die Richtungen, aus denen die Gegenoffensive kommen könnte - deswegen wurden sie mit Wohnblöcken zugebaut", erklärt er. 'Aber wenn man die russischen Medien verfolgt, gibt es fast gar keine Berichte über das linke Ufer. Da ist nämlich alles vollkommen im Arsch. Das linke Ufer liegt am nächsten an Russland dran, da waren die heftigsten Gefechte, aus der Richtung hat Russland Mariupol überfallen. Dort liegt fast alles in Trümmern.' Oleg war Abgeordneter des Stadtrates, die Zusammenarbeit mit der neuen Verwaltung in Mariupol hat er verweigert. Er erzählt Mediazona, auf dem Morskoi Boulevard am linken Ufer seien fast alle Häuser abgerissen worden - knapp vier Kilometer entlang der Küste.  'Ich denke, da kommen Luxusbauten hin, aber bisher wurde am linken Ufer noch kein einziges Haus gebaut', sagt er. 'Der ganze Bezirk bestand fast nur aus Chruschtschowki. Ein paar wenige stehen noch, auf denen prangen Schriftzüge wie: Wir wollen wieder nach Hause.' Derweil wächst in Russland das Interesse an Immobilien in Mariupol. Auf YouTube gibt es 'Room Tours' durch die zerstörten Häuser, veröffentlicht werden sie vom Propaganda-Kanal Mirnyje (dt. Die Friedlichen)."
Archiv: Mediazona
Stichwörter: Mariupol, Ukraine-Krieg

La regle du jeu (Frankreich), 06.03.2024

Ziemlich finster liest sich das Gespräch, das Maria de França mit der Russland-Expertin und Herausgeberin von Deskrussie, Galia Ackerman, führt. Die russische Bevölkerung schildert sie als völlig geknebelt, ein Potenzial für einen Aufstand sieht sie nicht, höchsten zehn Prozent der Bevölkerung seien noch oppositionell gestimmt. Hoffnungen setzt sie trotz allem auf die westlichen Sanktionen. Die aktuelle wirtschaftliche Scheinblüte sei durch Militärausgaben zu erklären, komme aber nicht bei der Bevölkerung an. "Wenn der Westen standhaft bleibt und es gelingt, das Netz enger zu knüpfen, denke ich, dass es tatsächlich einen Zeitpunkt geben kann, an dem die russische Wirtschaft zumindest teilweise stranguliert wird, was zu einem niedrigeren Lebensstandard und einer viel größeren Unzufriedenheit führen wird. Zu diesem Zeitpunkt könnte ein Teil der herrschenden Elite in Putins Umfeld beschließen, dass es an der Zeit ist, ihn loszuwerden. Dann würde jemand auftauchen, der liberaler ist, der den Krieg beendet, der vorgibt, sich mit dem Westen wieder anzufreunden, um die Aufhebung der Sanktionen zu erreichen - und der dann Kräfte sammelt, um die gleiche imperialistische Politik wieder aufzunehmen. Tatsächlich reicht ein Putsch nicht aus. Was es braucht, damit sich das Regime in Russland wirklich ändert, ist seine totale Niederlage in der Ukraine."
Archiv: La regle du jeu
Stichwörter: Ackerman, Galia, Russland

New Yorker (USA), 11.03.2024

Das Internierungslager Al-Hol in Syrien ist ein Ort, den der Westen gerne vergisst, hält Anand Gopal für den New Yorker fest: Die gleichnamige Stadt war einst eine Hochburg des IS, in dem Lager müssen nun Anhänger wie Opfer mit- und nebeneinander leben, mit wenig Aussichten, jemals wieder dort herauszukommen. Von den rund 50 000 Internierten sind über die Hälfte Kinder, die meisten davon jünger als zwölf Jahre: "Für viele Kinder ist das Gebiet hinter dem Zaun mysteriös und möglicherweise gefährlich. Ich habe mit dutzenden Kindern gesprochen und sie wussten so gut wie nichts über das Leben außerhalb von Al-Hol. Viele hatten noch nie von Syrien, dem Irak, Amerika oder sogar dem Fernsehen gehört. (Als Abu Hassan, früherer IS-Kommandeur, einen Flachbildfernseher in das Camp schmuggelte, rief seine Tochter, 'Schau mal, was für ein großes Handy das ist!') Ich habe Aisha kennengelernt, eine Siebenjährige, die erklärte, sie komme aus Aleppo, aber als ich sie gefragt habe, was Aleppo ist, hatte sie keine Ahnung. Sie wusste nicht, warum sie im Lager ist und ihr Tagesablauf bestand darin, sich früh in die Schlange für die Toiletten zu stellen und die Security-Leute zu vermeiden, von denen sie glaubte, sie würden sie erschießen, wenn sie ihnen zu nahekommt. Naser, sechs Jahre alt, wusste nicht, was das Camp von anderen Lebensumgebungen unterscheidet. Ein anderes Kind hat damit angegeben, dass es einmal 'bewegte Zeichnungen' gesehen habe, von denen ich vermute, dass es eine Cartoon-Sendung war, und gefragt, wo sie noch mehr davon sehen könne. (…) Ich habe die Kinder gefragt, was sie denken, was wohl auf der anderen Seite des Zauns ist. Unter den Antworten, die ich bekommen habe: 'nichts', 'hungrige Menschen', 'Hunde', 'Soldaten', 'Treppen', 'Häuser', 'Gärten', 'Ungläubige', 'mein Vater.'" Obwohl er den religiösen Fanatismus vieler Bewohner mit Steinwürfen selbst zu spüren bekommt, macht Gopal für die niederschmetternde Lage der Bewohner Assad, die Türkei und die USA verantwortlich. Die Islamisten hat er schon wieder vergessen.

Außerdem: Andrew Marantz überlegt, ob KI die Menschheit besser machen wird. Benjamin Kunkel liest ein Buch über die komplizierte Beziehung Platonows zu Stalin. Alex Ross erzählt, wie Arnold Schönberg Hollywoods Filmmusik beeinflusste. Richard Brody sah im Kino Rose Glasses "Love Lies Bleeding".
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 07.03.2024

Der aus Siebenbürgen stammende Schriftsteller Gábor Vida spricht im Interview mit Boróka Parászka anlässlich seines neuen Romans u.a. über die Beziehung zwischen den Ungarn und in Siebenbürgen lebenden Ungarn, sowie über das Problem der ländlichen Gebiete im Kontext der nationalen Bestimmungen: "Die Menschen in Ungarn sind immer genervt von uns aus Siebenbürgen. Wahrscheinlich, weil wir so aussehen und so sind wie sie. Wir wollen Geld, wir wollen essen, wir wollen das Land haben, das man haben kann, wir wollen für sie denken, wir wollen die Richtung der Welt bestimmen. Deshalb mögen die Ungarn uns nicht, weil wir uns ähneln." Die Ungarn und die Rumänen hingegen lieben einander, "sehr sogar, weil sie sich nicht ähneln!", meint Vida. "Ich mag das Landleben, daran ist nichts auszusetzen. Das Problem beginnt, wenn wir das Ländliche für etwas verantwortlich machen wollen, was es nicht sein sollte. Es ist kein Problem, dass jemand zu Hause Schweine schlachtet oder Schnaps brennt. Das Problem ist, wenn der Bus nicht fährt, wenn der Asphalt der Straße oder die Brücke einbricht. Die Frage ist also, ob man die ländlichen Gebiete in das Leben eines Landes integriert. (...) Die rumänische und ungarische politische Elite ist jedoch nicht in der Lage, ein ganzes Land zu denken. Sie sieht nur ihr eigenes kleines Dorf oder ihre Stadt und denkt, dass das ganze Land eine Erweiterung davon sei."
Archiv: HVG

Boston Review (USA), 11.03.2024

Jonathan Kirshner stellt Bertrand Taverniers "La Guerre sans Nom" von 1992 vor, einen Film über den algerischen Unabhängigkeitskrieg. Und damit über ein Ereignis, das, wie Kirshner nachzeichnet, das moderne Frankreich zutiefst geprägt hat, aber in der öffentlichen Diskussion und auch im französischen Kino selten angemessen thematisiert wird. Taverniers vierstündiger Film stellt Interviews mit 30 französischen Rekruten ins Zentrum und behandelt unter anderem das Thema Folter: "Fast alle Männer, mit denen Tavernier spricht, waren entweder bei Folterungen zugegen oder wussten, dass sie stattfinden - einige waren beauftragt, sauber zu machen, nachdem die bewusstlosen und verletzten Opfer aus den Zellen herausgebracht wurden. Alle beteuern, nicht selbst gefoltert zu haben, wobei einige andeuten, dass sie die Folterungen für notwendig hielten, etwa wenn sie sich in Phrasen wie 'das passiert in jedem Krieg', 'Krieg selbst ist grausam', beziehungsweise eine tödliche Mischung aus 'Furcht, Feigheit und Sadismus' verstecken. Bereits Zeuge von Folterungen zu werden, kann, das macht der Film klar, ein lebensveränderndes Trauma sein. Ein Rekrut spricht darüber, wie schockiert er war, als ein kommunistischer Gesinnungsgenosse, ein 'Vater und Ehemann', sich an den Folterungen beteiligte, was die ewige Frage aufwirft, wie scheinbar zivilisierte Menschen in die Barbarei abrutschen können. Die Beschämung vieler dieser Zeugen gehört zu den härtesten Aspekten des Films. 'Ich war machtlos, ich konnte gar nichts tun', meint ein anderer. 'Was hätte ich tun können? Zum Gewehr greifen und schießen?' Die Gedanken, die den 20-jährigen Rekruten plagen, verfolgen viele dieser Männer für den Rest ihres Lebens."
Archiv: Boston Review

Meduza (Lettland), 08.03.2024

Paula Erizanu beleuchtet den Konflikt innerhalb der Moldawisch-Orthodoxen Kirche: ob sie sich von der Russisch-Orthodoxen Kirche lossagen oder unter deren Führung verbleibt soll. Der moldawische "Metropolit Wladimir erwähnte in seinem Brief an [den russischen] Patriarch Kirill auch einen anderen, vielleicht pragmatischeren Grund, warum moldauische Priester versucht sein könnten, Moskau den Rücken zu kehren. Dank finanzieller Unterstützung aus Bukarest bietet das rumänische Patriarchat allen Priestern ein monatliches Gehalt von 250 Euro (270 Dollar) sowie eine Krankenversicherung und Renten. Unter dem russischen Patriarchat hingegen wird von den Priestern erwartet, dass sie an die Moldawisch-Orthodoxe Kirche zahlen. Enachi erzählte der Zeitung The Beet, dass er umgerechnet 48 Dollar pro Monat an die Metropolie von Chisinau zahlen müsse und darüber hinaus für die Besuche von Patriarch Kirill aufkommen müsse. 'Wir geben neben den Steuern eine Menge Geld aus: an Priester zu ihren Geburtstagen, für Mahlzeiten, wenn [Patriarch] Kirill kam, um ihre Hüte aus Moskau zu kaufen [...] Aber wie kann ich auch im Namen der Kirche etwas Gutes tun?' fragte Enachi rhetorisch. 'Ich habe es ihnen gesagt: Es gibt arme Priester mit vielen Kindern, die den Gottesdienst in Flip Flops abhalten. Wie sollen sie diese Dinge bezahlen?'"
Archiv: Meduza

Unherd (UK), 11.03.2024

Irgendwann in den Neunzigern wurde es völlig egal, ob jemand schwul war oder nicht, erinnert sich der nordirische Dramatiker und Komiker Andrew Doyle. In den letzten Jahren hat sich das plötzlich wieder geändert, nur kommen die Angriffe jetzt aus der linken Ecke und von Transgender-Aktivisten, stellt er fest: "Wir wissen jetzt, dass die überwältigende Mehrheit der Jugendlichen, die an die pädiatrische Gender-Klinik von Tavistock überwiesen wurden, sich von Menschen ihres eigenen Geschlechts angezogen fühlt. Whistleblower haben sich über die endemische Homophobie geäußert, nicht nur unter dem Klinikpersonal, sondern auch unter Eltern, die ihre schwulen Sprösslinge 'heilen' wollten. Und natürlich gab es unter den Mitarbeitern den Scherz, dass es bald 'keine schwulen Menschen mehr geben würde'. Und nun hat eine Reihe von durchgesickerten internen Nachrichten und Videos der WPATH (World Professional Association for Transgender Health) enthüllt, dass Ärzte der weltweit führenden Organisation für Transgender-Gesundheitspflege unter vier Augen offen zugegeben haben, dass einige Teenager gleichgeschlechtliche Anziehung mit Geschlechtsdysphorie verwechseln. Das Ergebnis des 'geschlechtsbestätigenden' Ansatzes ist das, was ein ehemaliger Tavistock-Kliniker kürzlich als 'Konversionstherapie für schwule Kinder' bezeichnete. ... Ein Großteil der Verantwortung liegt bei Stonewall, einer Gruppe, die sich einst für die Gleichberechtigung von Homosexuellen einsetzte, jetzt aber aktiv gegen deren Interessen arbeitet. Sie hat sogar den Begriff 'homosexuell' auf ihrer Website und in ihren Informationsmaterialien in 'vom gleichen Geschlecht angezogen' umdefiniert. Es sollte selbstverständlich sein, dass schwule Männer sich nicht zu Frauen hingezogen fühlen, die sich als Männer identifizieren, genauso wenig wie Lesben dafür angeprangert werden sollten, dass sie Menschen mit Penissen aus ihrem Dating-Pool ausschließen. Was Trans-Aktivisten als Diskriminierung bezeichnen, nennen die meisten von uns Homosexualität."
Archiv: Unherd

New York Magazine (USA), 11.03.2024

Mit den Büchern von Judith Butler und vor allem Shulamith Firestone bewaffnet gibt uns Andrea Long Chu einen tiefen Einblick in die amerikanische Transbewegung. Die Pulitzerpreisträgerin brandmarkt jede Kritik, ja jeden Einwand als "hysterisch" oder unterstellt ihren Gegnern schlimmste Absichten wie die Rettung der Kleinfamilie. Aber interessant ist es trotzdem. Denn mit Kleinigkeiten wie Transrechten gibt sie sich nicht zufrieden: Chu geht es um die Abschaffung der Pubertät, Abschaffung des Sex, Abschaffung der Geburt durch eine Frau und die Abschaffung des Kapitalismus. "[Judith] Butler argumentiert, dass es 'kontraproduktiv und falsch' wäre, die Existenz von Unterdrückungssystemen der Biologie anzukreiden. Aber warum? Ich bin der Meinung, dass jede umfassende Bewegung für Trans-Rechte in der Lage sein muss, politische Forderungen auf der Ebene der Biologie selbst zu stellen. Dies ist eine alte radikal-feministische Idee, die vor allem in Shulamith Firestones Klassiker 'The Dialectic of Sex' von 1970 zu finden ist. Nehmen wir an, die Unterdrückung der Frauen sei tatsächlich ein Produkt ihrer Biologie, schrieb Firestone. Was folgt daraus? Nur, dass Feministinnen daran arbeiten müssen, die biologische Realität zu verändern. Das Geniale an diesem Schachzug war, dass er die Vorstellung ablehnte, biologische Tatsachen hätten eine Art moralischen Eigenwert, der sozialen oder kulturellen Tatsachen nicht zukomme. Die Biologie könne die Ausbeutung von Menschen nicht rechtfertigen; ja, sie könne nicht einmal die Biologie rechtfertigen, die genauso fähig sei, Ungerechtigkeit aufrechtzuerhalten wie jede Gesellschaft. Als Firestone von Frauen als 'sex class' schrieb, hatte sie - anders als die TERFs, die ihr folgten - den marxistischen Traum von einer klassenlosen Gesellschaft vor Augen, etwas, das nur durch die Befreiung der Menschheit von der 'Tyrannei ihrer Biologie' erreicht werden konnte. Für sie bedeutete dies ein 'revolutionäres ökologisches Programm' der Fruchtbarkeitskontrolle, der künstlichen Fortpflanzung und der vollständigen Automatisierung der Arbeit. Das mag unrealistisch klingen. Aber genau das ist der Punkt: Gerechtigkeit ist immer ein Versuch, die Realität zu verändern." Ein Transkind, das zum ersten mal sagt, es sei ein Mädchen, "hat keine Angst vor Sex - sie ist gegen ihn", erklärt Chu.