Literarischer Rettungsschirm für Europa

Short Political History of the Radio Scale [Radio-made]

Von Georgi Gospodinov
21.09.2012. In vier Bilddichtungen und einem Essay schreitet der bulgarische Dichter Georgi Gospodinov die Skala des europäischen Radios von der Vorkriegszeit bis heute ab, bis zum Europa der Krise.









Abgesichert durch Literatur

Mein erstes Europa war ein altes Radio, eines aus Holz. Die Lämpchen, die Namen der Städte, die weich auf der Skala aufleuchteten. Die Erwartung, wenn ich London einstelle, tatsächlich die Stimme Londons zu hören - Droschken, Dickens, eine leicht neblige und verregnete Stimme, heiser von Sherlock Holmes' Pfeifenrauch. Einmal, als ich ein wenig mit dem alten Radio allein war, stellte ich London ein und ... nichts. Man hörte nichts. Nur undeutliches Knacken und Rauschen. Europa war stumm. London existierte nicht. Ebenso wenig Paris, wie ich kurz darauf feststellen musste. Oder aber wir hatten unser Gehör verloren.

Das Europa meines Vaters bestand aus einem neueren Transistorradio und einer Küche mit einem Riegel an der Tür. Das waren die Minimalvoraussetzungen dafür, dass Europa erschien - ein Transistorradio und eine abschließbare Küche. Es musste Abend sein. Und es durfte auch niemand in der Nähe sein oder zumindest durfte der Nachbar nicht lauschen. Nur unter diesen Voraussetzungen, inmitten von viel Rauschen und Stimmengewirr, ließ sich ein kaum hörbares Freies Europa vernehmen. Am realsten war das Europa meines Großvaters. Er war ein Glückskind. Ihm sei das Glück in die Wiege gelegt worden, sagte meine Großmutter immer, die ihn heimlich darum beneidete, dass er die "halbe Welt" bereist hatte. Die halbe Welt, das waren Serbien und Ungarn während des Zweiten Weltkriegs. Wahrlich ein Glückskind. Sein Europa stellte ein altes Grammofon mit Trichter dar, das er in einem ungarischen Haus spielen gehört hatte, zwischen den Kampfhandlungen. Die Leute hörten Musik aus einem Trichtergrammofon und tranken Tee aus Gläsern, das würde er nie wieder vergessen. Es gelang meinem Großvater allerdings auch nie, sich ein Grammofon zu kaufen, das heißt sein Traum von Europa ging nicht in Erfüllung, wie das nun mal mit echten Träumen so ist.

So hatte jeder von uns dreien sein erträumtes und unerreichbares Europa. Ein Europa, das ich mir anhand der Geräusche aus dem alten Radio und anhand von Dickens, Andersen, Arthur Conan Doyle und allen Büchern in unserem Bücherschrank zusammenreimte ... Ein Europa, das ich zum ersten Mal besuchen konnte, als ich einundzwanzig war; die Mauer war gefallen und ich blickte mich voller Durst um, mit den ganzen angehäuften und unerfüllten Wünschen meiner Kindheit und Jugend. Ein Europa, das mein Vater als einen Ort der Freiheit erdichtete. Ein Europa, das für meinen Großvater ein Grammofon mit Trichter und Musik war. Ein Europa, in das er aufgrund des Ausbleibens eines weiteren Kriegs nicht wieder eingeladen worden war. Unser persönliches, biografisches, erträumtes Europa.

Doch stellen wir jetzt einen anderen Sender ein. Was geschieht, wenn wir das europäische Radio heute, im Jahr 2012, einschalten? Inzwischen sind alle Radiosender zugänglich, da ist London, da Paris, da Berlin ... Wollen wir doch einmal hören, was sie auf diesem Sender sagen - aha, die EZB, dreißig Milliarden, Krise, die spanischen Banken, Rettungsschirm, wird es Eurobonds geben? ... Wechseln wir den Sender ... Eurobonds, Rettungsschirm, Krise, die spanischen Banken ... Und du begreifst, dass du den Sender nicht wechseln kannst.

Jemand hat sich das Mikrofon geschnappt und erzählt in einer unverständlichen Finanz-Bilanz-Banken-Sprache von Europa, irgendein Abrakadabra aus Fachbegriffen, von denen ich die Hälfte nicht verstehe. Liquidität, Fiskalität, faule Kredite, Hypotheken, Giro, Stipulant (das sagt mir gleich gar nichts) usw. Diese Sprache verwirrt mich. Ich stelle mir vor, wie ich den Betreffenden über mittelalterliche Dichtung abfrage: Tagelieder, Minstrels, Sonettkränze, Stanzen, tonischer und syllabotonischer Versbau.

Etwas in der Welt hat sich verändert, doch die Politiker, die Finanziers und die Eurokraten haben es nicht mitbekommen ... Etwas, das man nicht mit Fiskalpolitik, auch nicht mit Fiskalordnung, weder mit Budgetdefiziten noch mit einem makroökonomischen Rahmen messen kann. Mein Finanzminister versucht, mich über dasselbe Radio zu überzeugen, dass dieser Rahmen bei uns sehr gut sei (trotzdem sind wir einer der ärmsten Staaten der EU). Aber mein Leben ist nicht makroökonomisch. Die heutige Krise ist ein Scheitern just dieser Expertensprache und dieses Expertendenkens. Ja, die Krise in Europa ist auch eine Krise der Sprache, die wir für sie verwenden. Denn als Philologe weiß ich, dass wir im Rahmen einer Sprache denken. Denn als Leser weiß ich (von Heidegger), dass die Sprache das Haus des Seins ist. Aber das, was ich höre, ist nicht mein Haus. Und was in einer abstrusen makroökonomischen Sprache als Krise beschrieben wird, ist nicht meine Krise. Seltsam ist, dass jene, die in die Krise verwickelt sind, der Homo oeconomicus, die Leute aus der Finanz, dieselben sind, die mir jetzt die Krise erklären wollen. Mit derselben Überzeugung, zu wissen, wovon sie sprechen. Ich glaube nicht an überzeugte Menschen. Die Menschen, auf die ich bei meiner Krise vertraue, kommen aus dem Bereich der Literatur und der Unsicherheit, des Zögerns und des seelischen Schmerzes. Denn sie sind die wahren Experten für Krisen, sowohl heute als auch im 20. Jahrhundert. Ihre Namen sind Pessoa, Kafka, Eliot oder Borges, um nur einige von ihnen zu nennen.

Europa ist viel zu wichtig, um es den Finanziers und Politikern zu überlassen. Der Mythos ist das Nichts, das alles ist, sagt Pessoa. Dem altgriechischen Mythos zufolge war Europa ein schönes Mädchen, entführt von Zeus höchstpersönlich, der sich in einen weißen Stier verwandelt hatte. Heute müssen wir uns Europa zurückholen, entführt von einem anderen Stier, dem Stier der Banken (siehe die Bronzeskulptur in der Wall Street), von Finanzexperten und Eurokraten.

Europa ist ohne das "Nichts" des Mythos unmöglich, ohne das neuerliche Erfinden unseres Verlangens nach ihm, ohne zumindest ein bisschen Leidenschaft (die des weißen Stiers). Die Krise ist eine Krise der Art und Weise, wie wir Europa erdichten, eine Krise unserer Erzählung von Europa. Und hier, wie immer, wenn die Dinge hoffnungslos werden, können wir sagen: Bühne frei für die Literatur. Nicht zuletzt wegen ihrer alten Funktion - um zu trösten, eine Geschichte zu erzählen, die das Ende hinauszögert, so wie es Scheherazade tut. Das Hinauszögern des Endes ist eine alltägliche und allnächtliche Angelegenheit, weiß die Literatur. Das geht nicht ein für alle Mal. Es gibt keinen Einmalkredit, der groß genug wäre, als dass er plötzlich und für immer jede Krise lösen könnte. Aber die Banker und Politiker lesen Scheherazade nicht oder haben sie vergessen.

Es ist kein Zufall, dass man mitten in Europa auf dem besten Weg ist, das Higgs-Boson zu entdecken (oder man hat es schon entdeckt, Gott schweigt dazu), dieses verbindende Teilchen, ohne welches, behaupten die Physiker, unsere Welt in alle Richtungen davonfliegen würde.

Das Defizit an Zukunft wiegt schwerer als das Defizit an finanziellen Mitteln. Das Zur-Neige-Gehen der Sinnvorkommen ist schlimmer als das Zur-Neige-Gehen der Ölvorkommen. Der Verlust des Traums von Europa ist irreparabler als der Verfall des Eurokurses. Oder zumindest hängt all das zusammen. Wir stehen vor Dingen, die man nicht mit wirtschaftlichen Fachbegriffen berechnen kann, die ökonomische Waage fängt sie nicht ein, auch nicht die fiskalen Apparate, diese Dinge haben keinen Strichcode. Es gibt keine Möglichkeit, die europäische Trauer, die Freude, den Sinn oder das Gefühl von Scheitern zu messen ... Hier bedarf es eines anderen Expertentums und einer anderen Bildung. Ich behaupte, die Literatur weiß mehr über die Krise.

Regierungen kommen und gehen, würde ein heutiges Buch Kohelet sagen. Auch die größten Banken können Insolvenz anmelden. Sogar Staaten können pleitegehen. Nicht einmal die EU ist von Dauer. Nur eines kann keinen Bankrott erklären - gute Literatur.

Ich stelle mir eine Literarische Europäische Union vor. Einen Ort, wo Wertpapiere einfach wertvolle Bücher sind. An den Wertpapierbörsen wird mit Geschichten gehandelt, der Markt ist stabil nach dem Index von Joyce. Die Wirtschaftsbeilagen der Zeitungen werden zu Literaturbeilagen. Die "Financial Times" wird zur Börsennotierung der gefragtesten Bücher. Die Premierminister der europäischen Staaten diskutieren bei langen nächtlichen Sitzungen die maßgeblichen Tendenzen im spanischen Roman und die Rolle der neu aufgenommenen osteuropäischen Literaturen. Angela Merkel rezitiert begeistert Kavafis' Gedicht "Warten auf die Barbaren". Der griechische Regierungschef antwortet mit einem soeben von Günter Grass geschriebenen Gedicht. Und die "FAZ" erscheint mit dem Aufmacher "Und nun, was sollen wir ohne Probleme tun?", mit dem sie den griechischen Dichter paraphrasiert.

Vom literarischen Bruttoinlandsprodukt her betrachtet katapultieren sich einige Staaten, von denen man bis vor Kurzem noch der Meinung war, sie befänden sich in Schwierigkeiten, an die Spitze. Irland, Spanien und Griechenland suchen nach Möglichkeiten, um ihre literarischen Überschüsse zu investieren.

Ich schalte mein altes Radio aus Holz ein, drehe an den Knöpfen und höre, wie alle europäischen Sender ihre zentralen Nachrichtensendungen mit einem Gedicht beginnen. Ehemalige Banker und Finanziers haben umgeschult und erklären die letzten Börsenbewegungen in Hexametern. Das wird ihr Fegefeuer sein.

Wenn Sie das heute für unmöglich halten, dann sprechen wir morgen noch einmal darüber. In jedem Fall besitzt Europa keine dauerhafteren Aktiva als seine Literatur (also gut, seine Kultur). Europa, abgesichert durch Literatur.

Übersetzt aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann

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Georgi Gospodinovs Texte erschienen in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.