24.08.2001. Marcel Reich-Ranicki wirft im Literarischen Quartett Thomas Hürlimanns Roman "Fräulein Stark" antisemitische Klischees und den jubelnden Kritikern Blindheit vor. Hürlimann und die Kritiker antworten.
Stand vom
27. August
Thomas Hürlimann liefert in der
NZZ im
Interview zur Debatte um seine Novelle "Fräulein Stark" ein Plädoyer für die
Zweideutigkeit: "Hätte ich das Fräulein Stark als stramme Antisemitin dargestellt, dann wäre die Diskussion doch gar nicht entstanden, dann hätte ich in politisch korrekter Weise eine
zeitgenössische Schulaufgabe abgeliefert."
Hinzuweisen ist auch noch auf ein
Interview mit dem
Historiker Josef Lang im Zürcher
Tages-Anzeiger. Nach Lang hat Hürlimann "hervorragend erfasst, was den
katholischen Antisemitismus ausmacht, und er hat das auf brillante Art dargestellt. Der Katholizismus hat bis zum
2. Vatikanischen Konzil sehr stark in zwei Welten gedacht, es gab die Welt der Gottesfürchtigen und die der Gottlosen. In dieser dualistischen Weltsicht steht das Judentum häufig für das Negative. In 'Fräulein Stark' treffen diese zwei Welten in ein- und derselben Person, im Neffen, aufeinander."
Stand vom
25. August
Harald Jähner in der
Berliner Zeitung stimmt MRR zu, dass es "in der Tat verblüffend" sei, wie
blind die Kritiker gegenüber Hürlimanns versteckten Hinweisen auf die jüdische Herkunft seines Protagonisten waren. Den Autor möchte Jähner dafür jedoch
nicht verantwortlich machen. "Hürlimann hat den Antisemitismus zu einem Thema gemacht, antisemitisch ist sein Roman aber nicht. Im Gegenteil: Sein junger Erzähler wird durch
rassistische Phantasmen verunsichert, die er nicht verstehen kann, sind doch 'die Katzen' längst Elemente der
katholischen Welt, und zwar so sehr, dass sich die Kritik von der üppigen Darstellung dieser Welt über deren Doppelbödigkeit hinwegtäuschen ließ."
Daneben steht die
Besprechung von Martin Ebel.
Neuester Stand vom
24. August:
Thomas Hürlimann äußert sich in einem
Interview der
FR: "Der Erzähler hockt an der
Schwelle zum Leben, noch sieht er die Welt von unten, der Überblick fehlt ihm. Er sucht. Er wähnt,
er wittert." Einen ziemlich
entschiedenen Kommentar legt heute außerdem der Kritiker
Michael Braun in der
Basler Zeitung vor: "Anstatt einen Streit um mögliche Lesarten
argumentativ auszufechten, wurde der Antisemitismus-Vorwurf als
Allzweckwaffe benutzt, um nicht nur die gesammelte Kritikerzunft der Inkompetenz zu überführen, sondern auch den Autor gleich mit
zu erledigen."
Stand vom
23. August: Zumindest in der Schweiz sorgen
Marcel Reich-Ranickis Vorwürfe gegen Thomas Hürlimann und die Rezensenten seiner Novelle "Fräulein Stark" für einige Aufregung. Heute gibt es
neues Material. Der Ammann-Verlag verschickt einen
Newsletter. Darin nennt Verleger
Egon Ammann Reich-Ranickis Intervention einen "
Skandal"
und verteidigt Hürlimanns literarische Strategien: "Die
Nase des Protagonisten
zum Beispiel ist im Kontext als sinnliches Organ des Entdeckens von Welt zu lesen, was auch in realiter unbestritten ist - wer das anders lesen will, in Verbindung mit dem Jüdischen, um dieses Organ des Protagonisten als Ausdruck eines antisemitischen Zeichensystems zu verstehen, der muss sich den Vorwurf vorschnellen Urteilens oder
vorauseilender political correctness gefallen lassen."
Auch
Gunhild Kübler, deren Kritik in der
Weltwoche Reich-Ranicki als einzige gelobt hat,
greift in der neuen Ausgabe der Wochenzeitung noch mal in die Debatte ein und
verteidigt Hürlimann: "Hürlimann wird vorgeworfen, er habe durch seine Verwendung der Konnotation 'jüdisch gleich triebenthemmt' ein altes antisemitisches Stereotyp bedient. Als wäre nicht genau dieses Klischee und sein von allen beschwiegenes Fortwirken das
zentrale Thema von Hürlimanns Buch. Denn dass ein Jude von Natur aus sexuell triebhaft sei, das ist ja eben die
fixe Idee des Fräulein Stark. Die Erzählung zeigt, wie dieses Klischee einem Jungen als Brille der Selbsterkenntnis
auf die Nase gedrückt wird." Hinzuweisen ist außerdem auf
Roman Buchelis kleinen Kommentar in der
NZZ: Auch er mag sich Reich-Ranickis Argumenten nicht anschließen. Und die
Hannoversche Allgemeine bringt zur Debatte eine
Tagesthemenseite.
Und was war
vorher geschehen?
Ursula März
kommentierte am Dienstag in der
FR Vorwürfe des
Literarischen Quartetts gegen
Thomas Hürlimanns Novelle "Fräulein Stark", aber auch gegen die
Rezensenten des Buchs in der Presse, die angebliche
philo- oder antisemitische Klischees bei Hürlimann gar nicht bemerkt hätten. Hürlimann erzählt in diesem Buch bekanntlich von den
pubertären Wirren eines jungen Protagonisten, der einen Sommer bei seinem Onkel in einer Stiftsbibliothek verbringt. Beide stammen aus einer jüdischen Familie, was aber im Roman offensichtlich nicht besonders betont wird. Statt dessen wird viel vom "
Katzenhaften"
der Famile gesprochen, denn der Onkel heißt Katz. Der Verlag gibt auf seiner Homepage eineaus dem Roman. Das
Video der Sendung mit Reich-Ranickis Intervention gegen das Buch kann man sich übrigens bei einem
Online-Buchhändler ansehen.
Sieht man sich die
Notizen zu den Kritiken im
Perlentaucher an, so stellt man fest, dass tatsächlich nicht allzu viel von jüdischen Motiven die Rede war. In der
SZ zählt Hans-Herbert Räkel gerade die Liebeserklärung an die
jüdische Mutter des Protagonisten zu den berührendsten Passagen des Buchs. In der
Zeit lobt Evelyn Finger Hürlimanns
spitze Feder. In der
FR hatte Ursula März selbst über das Buch geschrieben. Ihre Kritik ist im Netz leider
nicht mehr zu lesen, weil die Artikel der
FR nach 14 Tagen kostenpflichtig werden. Laut
Perlentaucher lobte sie die Novelle als ein "Musterbeispiel ödipaler und damit
unfreier Erzählhaltung und Erzählermentalität".
In der
FAZ lobte Pia Reinacher das Buch dafür, dass kein Wort "zufällig gesetzt" sei, und in der
NZZ besprach Roman Bucheli den Roman als "
Vorschule der Erotik".
Links zu weiteren Kritiken, unter anderem aus dem
Spiegel und der
Literarischen Welt findet man auf der bereits zitierten
Seite des Ammann-Verlags unter "Presse". Auf der Seite der
3Sat-Sendung
Kulturzeit kann man sich außerdem ein Gespräch mit dem Kritiker
Andreas Isenschmidt zu dem Buch
ansehen.
Reich-Ranicki hatte im Quartett am letzten Freitag die
Kritiker des Buchs
arg gescholten und hob einzig eine Kritik in der
Weltwoche hervor, die im Netz nicht zu finden ist, weil das
Archiv der Wochenzeitung nach der Renovierung der Adresse noch nicht funktioniert. Dankenswerterweise hat uns aber die Autorin des
Weltwoche-Artikels,
Gunhild Kübler, ihre Kritik zur Verfügung gestellt. Sie können sie
hier lesen.
Erstaunlich ist schon, dass die Feuilletons mit Ausnahme der
FR auf MRRs
kritische Kritikerbeschimpfung noch gar nicht
eingegangen sind. Ursula März schließt sich in ihrem Artikel Reich-Ranickis Kritik an und äußert die Vermutung, "dass diese Angehörigen des
Sekundärbetriebs zum Primärbetrieb, der Literatur, ein Verhältnis pflegen, das in ungutem Maße von einer Art diskursivem
Vereinbarungsfilz geprägt ist. Einfach gesagt: Man sieht und liest nicht, womit man von vornherein nicht rechnet. Man traut einem Autor, dessen Stilistik seine Intelligenz und Sensibilität ausweist, zwar allerlei formale Schwächen und erzählerische Blässen zu, aber eben nicht, sich mit einem
sensiblen Thema so plump zu vertun."
Tut er das denn? Und hat sich die Kritik vertan? Eine
Debatte wär's doch wert!