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Das Internet: Alles Theater?

16.11.2001. Was bietet das Internet für Theaterliebhaber? Wir haben nachgeforscht.
Das Theaterfestival Spielart, das alle zwei Jahre in München stattfindet, haben wir zum Anlass genommen, für Sie das Web nach möglichen Formen von Theater im Internet zu durchsuchen. Heute startet im Rahmen des internationalen Wettbewerbs Webscene das interaktive Netztheaterprojekt "The finalists" (wer mitmachen will, hier bitte) von der Künstlergruppe GobSquad. Im Laufe des Festivals entwickeln die Künstler - natürlich immer im Kontakt mit den Internetsurfern - auf verschiedenen Homepages mit Ausdrucksformen des Internets (Lieblingslinks, Videos, Fotos, Chats) fiktive Charaktere. Da stellt sich einem die Frage, ob man hier überhaupt noch von Theater sprechen kann: Gibt es so etwas wie Theater im Netz oder etwa bloß einen wissenschaftlichen Diskurs über ein Phänomen, das in Wirklichkeit gar nicht existent ist?

Man möchte es schon beinahe glauben, aber nein: Man denke nur an Peter Steins Marathon-Inszenierung von Faust I und II (Expo 2000) im Cyberspace. Weitere Beispiele - die wir im Netz gefunden haben - sind hamlet_X ein Projekt von der Volksbühne und Herbert Fritsch (Sommer 2001 - eine Besprechung finden Sie hier und eine weitere Doppelbesprechung - sozusagen "Faust" und "Hamlet" in einem - finden Sie hier), die virtuelle Oper "Ausländer und Staatenlose" von dem australischen Komponisten und Performance-Künstler Andrew Garton (1998) oder das Tanztheaterprojekt Collecting Movements, bei dem die Ästhetik der Webcam dominiert.

Es gab auch Textprojekte im Internet, die hier nur kurz erwähnt werden sollen, wie etwa das "Projekt Arkadien", bei dem über eine gemeinsame Mailinglist der Theatertext erstellt wurde oder der Internet Relay Chat der Gruppe "Hamnet", einer Parodie auf Shakespeares Hamlet. Hier handelte es sich um eine "textuelle Performance", die überwiegend auf Sprache basierte. Eine Plattform für Chat-Theater ist übrigens die Virtual Drama Society.

Unter das Stichwort Spaßkultur, mit der es ja bekanntlich jetzt vorbei ist, fällt die amüsante Seite Bundesdance (August 2001): Hier kann der Internetuser nicht nur die Puppen tanzen lassen, sondern indem er selbst in die Rolle des Regisseurs schlüpft, begreift er schnell, wie die einfachste Definition von Theater lautet:
S(schauspieler) spielt R(olle) für Z(uschauer). Jedem Theaterwissenschaftler geht da das Herz auf: Die Welt der Politik oder auch der Alltag im allgemeinen - ein einziges Spektakel, wir denken an Guy Debord oder Erving Goffman und nennen das Ganze dann soziopolitische Theatralität.

Über Theatralität reflektiert auch Mike Sandbothe in seinem Beitrag zu dem Band "Inszenierungsgesellschaft", wenn er sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit das Internet eigentlich selbst Theater ist: Hier wird der Besucher des WorldWideWeb zum "Internetschauschauspieler" deklariert, das Internet wird zum Ort der Selbstinszenierung erklärt und die "inszenatorische Darstellungsform" des Internets - da sie sich durch eine Kombination von Bild, Sprache und Schrift auszeichnet - bekommt den Begriff "theatrale Textualität" verpasst.

Zu dem Diskurs über "Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten" gehört aber nicht nur die Debatte über einen erweiterten Theaterbegriff, sondern auch die Diskussion über die Kategorien Raum und Körper.

Den offenen Spielraum thematisierte Andrew Garton 1997 in einem szenischen Vortrag unter dem Titel "Theater as suspended space" am theaterwissenschaftlichen Institut der Uni Wien unter Berücksichtigung der technischen Fortschritte im 21. Jahrhundert: "Das Internet und das Modem haben den Künstlern neue Mittel an die Hand gegeben, mit denen sie völlig andersartige Räume, neue virtuelle Konstrukte und natürlich auch ihre eigene Phantasie erkunden können.", so resümiert Garton die Entwicklung. Die Überlegungen zum elektronischen Raum gehen generell über die Definition des Monitors als Guckkastenbühne bis zum Begreifen des Webspace als "leeren Raum". Man könnte Theater im virtuellen Raum wie Gabriele Pfeiffer auch als Fortsetzung der avantgardistischen Performance-Kunst der 60er Jahre ansehen, die in Anlehnung an die historische Theateravantgarde begonnnen hatte, die Distanz zwischen Schauspieler und Zuschauer aufzuheben, indem sie die traditionellen Theaterräume verließ und neue, offene Schauplätze außerhalb des Theaters suchte. Die unterschiedlichsten Variationen der Beziehung von Künstler und Publikum sind auch das Thema des diesjährigen Theaterfestivals Spielart.

Ob Theater wirklich ohne den materiellen Raum oder als mehrdimensionales, sinnliches Medium ohne den realen Körper auskommt, ist fraglich. Die Gewinner des Webscene-Wettbewerbs thematisierten dies auf gewisse Weise in ihrem Projekt "Missing", das mit einem Flugzeugabsturz und mit der Suche nach vermissten Körpern begann. Theaterhistorisch zeichnete sich die Tendenz zum "Verschwinden des Körpers" - oder wenn man so will zur "Enthumanisierung" oder "Entkörperlichung des Theaters" - bereits in den 90er Jahren des
19. Jahrhunderts ab. Stephane Mallarme war einer der radikalsten Theoretiker: Für ihn sollte das symbolistische Theater nicht mehr eines der Repräsentation, sondern der Suggestion sein, das heißt das physische Theater sollte zugunsten eines rein virtuellen Theaters aufgegeben werden, das sich nur noch im Kopf des Rezipienten abspielt. Die Loslösung des Schauspielers von seiner Rolle als "naturalistischem Menschendarsteller" führte in letzter Konsequenz zu einem abstrakten, avantgardistischen Theater, zur Ersetzung des Körpers durch Marionetten, Automaten und Maschinen oder auch zu einer gänzlichen Vertreibung der menschlichen Gestalt von der Bühne. In seinem Aufsatz "Der Schauspieler und die Übermarionette" wendet sich Edward Gordon Craig gegen einen solchen, die Natur reproduzierenden Schauspieler, wenn er fordert: "Und nicht länger wird es auf der Bühne lebendige Wesen geben, die uns verwirren, indem sie Kunst und Realität vermischen, nicht länger wirkliche Lebewesen, an denen die Schwachheit und das Zittern des Fleisches sichtbar sind. Der Schauspieler muss das Theater räumen und sein Platz wird die unbelebte Figur einnehmen."

Heißt das, uns wird für das Cybertheater der Zukunft das digitale Klon des sich selbst reproduzierenden Schauspielers prophezeit? Ein entkörperlichtes Theater, das sich nur noch in der virtuellen Welt unseres eigenen Kopfes abspielt, wollen wir - die Cybernauten - das wirklich?

Wie dem auch sei, "Theater im Internet" bedeutet - auch wenn es ihm noch nicht gelungen ist, eine eigene experimentelle Kunstform für das WorldWideWeb zu entwickeln - schon jetzt mehr als die Bestellung von Theaterkarten per Mausklick (Internetadressen von Theatern in ganz Deutschland finden Sie hier). Ob sich Wege zu einer neuen Ästhetik öffnen, wird das Theaterfestival Spielart vielleicht zeigen.

Weitere Literaturhinweise zum Thema findet man im "Digital Performance Archive".

Silke Greulich