Leipzig düst

Möge Europa nicht zerfallen

Unterwegs auf der Leipziger Buchmesse. Von Anne Koch
23.03.2003. Peter Scholl-Latour erklärt Afghanistan, Laszlo Földenyi erklärt Europa.
Die Messe platzt aus allen Nähten. Dieter Schormann, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V., findet zwar, dass "der Irak-Krieg seinen Schatten auf die Messe wirft", wertet sie aber trotzdem als vollen Erfolg. Schon an den ersten beiden Tagen kamen über 40 000 Bücherinteressierte, um sich über die Neuerscheinungen der 1.998 Aussteller aus 28 Ländern zu informieren.

Urs Widmer behauptete in einer Diskussion zum Thema "Traumberuf Autor/ Autorin", dass ein Buch immer erst dann "fertig" sei, wenn der Leser es gelesen hätte, denn ein Buch bedeutet immer ein Einzelgespräch mit dem Leser, ihm ein Angebot machen, das dieser dann für sich umsetzt.

Statt Einzelleser zu sein, versucht der Besucher einer Messe wohl eher im Kollektiv seinen Autoren zu lauschen. Besonders deutlich wurde dies beim Gespräch mit Peter Scholl-Latour auf dem blauen Sofa. Vor einigen Tagen in der Süddeutschen Zeitung noch als Lieblingsexperte der Deutschen bezeichnet, konnte man sich von dieser Funktion überzeugen. Scholl-Latour beantwortet im Interview Fragen zur aktuellen politischen Lage im gewohnt nüchternen Stil. Er erklärt, wie es um das Mächtegleichgewicht bestellt ist, was ein "Indianerkrieg" ist und was eigentlich im Moment so in Afghanistan los ist, ein Land, das wir in den letzten Tagen beinahe vergessen hatten.

Auch einer der klärende Worte fand, war Laszlo Földenyi. Der 1952 in Debrecen/Ungarn geborene Kunsttheoretiker, Literaturhistoriker, Dozent für Komparatistik, Herausgeber und Übersetzer ist einer der sechs Autoren des diesjährigen Autorenspecials mit dem Titel "Willkommen zu Hause - Europa im Übergang". Die Veranstalter baten osteuropäische Autoren, unter anderem auch Thomas Venclova aus Litauen und Olga Tokarczuk aus Polen, ihre Gedanken zu diesem Thema niederzuschreiben und auf der Buchmesse zu präsentieren. Földenyis Europa ist nicht in einen neuen und einen alten Teil gespalten, denn müssten dann nach der Logik eines Rumsfeld nicht Italien und Großbritannien zum neuen Europa dazugehören? Vielmehr besitzt es ein gemeinsames geistiges Erbe. Unter der Überschrift "Möge es nicht zerfallen" beschwört Földenyi das geistiges Europa, dessen Wurzeln im griechischen Maß, in der jüdisch-christlichen Moral und im Dynamismus liegen. Die Balance dieser Grundwerte bezeichnet der Autor als überaus wichtig für den Erhalt des europäischen Geistes und kritisiert die jahrelange Vernachlässigung des Maßes zugunsten des politisch-wirtschaftlichen Dynamismus. Wenn der Geist Europas erhalten bleibt, kann trotz "geographischer Ferne" "spirituelle Nähe" gefunden werden, wie es der Autor selbst erlebt hat.

Weniger weltpolitisch ernst zu nehmen waren die Texte der "Surfpoeten" und der Gruppe Spoken Word Berlin, die am 21. und 22. März abends zu später Stunde in den Kellergewölben eines Intenetcafes auftraten. "Lesung" trifft nur den halben Kern der Wahrheit, denn Stegreifdichtung und Spontanlyrik fallen eindeutig nicht darunter. Unter dem Motto Brechts "Die Dichter können nicht schnell genug schreiben, wie die Regierungen Kriege führen" wurden die neuesten politischen Ereignisse in den Vortrag eingeflochten. Das vorwiegend junge Publikum war begeistert und wer in den stark begrenzten Räumlichkeiten keinen Platz fand, konnte die Show im Internet verfolgen.

Anne Koch