9punkt - Die Debattenrundschau

Im Widerstand zum Klerikalfaschismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.10.2022. In der SZ ist Felix Stephan einfach platt, wie gern deutsche Intellektuelle auch auf der Buchmesse noch der Ukraine eine Mitschuld geben am Krieg in ihrem Land. Libération entlarvt die gelehrten Referenzen der französischen Putin-Anhänger als Gerücht. "Let's Say Gay", überschreibt die New-York-Times-Kolumnistin Pamela Paul ein kleines Plädoyer gegen die Queerisierung des Diskurses über Homosexualität. In Berlin demonstrierten 80.000 Menschen für den Iran. Sie repräsentieren "ein Land das durch und durch säkular geworden ist", schreibt Saba Farzan in der taz. Ein muslimischer Papst à la Khomeini entspricht ohnehin nicht der iranischen Tradition, sagt der Religionssoziologe Reza Aslan in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.10.2022 finden Sie hier

Europa

Anne Applebaum schildert für Leser des Atlantic die Zerrissenheit Deutschlands in der Frage der Kriegsunterstützung für die Ukraine. Für ihren Artikel konnte sie mit Scholz' Berater Wolfgang Schmidt sprechen. Ihre schlichte Diagnose: "Unter allen westlichen Demokratien hat Deutschland am meisten auf den Handel mit Russland und das russische Gas gesetzt und die höchste Wette auf Putins Rationalität abgeschlossen. Deutschland zahlt nun auch den höchsten wirtschaftlichen Preis für den Krieg."

In der SZ ist Felix Stephan einfach platt, wie gern deutsche Intellektuelle auch auf der Buchmesse der Ukraine eine Mitschuld geben am Krieg in ihrem Land. Dabei könnten sie es besser wissen angesichts deutscher Verlage, die die bedeutendsten ukrainischen Autoren zuverlässig  seit Jahren publizieren: "Tanja Maljartschuk wird bis heute investigativen Befragungen unterzogen, sobald sie mit deutschen Intellektuellen zu tun hat: Wie halte sie es bitte mit Stepan Bandera? Wie stehe es mit der Korruption in ihrem Land? Wie mit den Oligarchen? ... Kollektivpsychologisch ist es ein vielsagendes Spektakel, wie viele Deutsche in diesem Krieg reflexartig die Perspektive des Aggressors einnehmen, der heute genau jene Städte verwüstet, in denen die Wehrmachtshelme im Boden noch kaum verschwunden sind: Mariupol, Kiew, Charkiw. Je größer das Leid der Ukrainer, desto stärker müssen sie sich rechtfertigen, desto mehr sehen sie sich dem Verdacht ausgesetzt, es verdient zu haben."

Das britische politische Chaos nicht erst seit dem Brexit erklärt sich durch das Wahlsystem des Landes, erläutert der New-Stateman-Redakteur Jeremy Cliffe in einem Gastartikel für Zeit online. Da die Briten immer nur eine Stimme haben, ergibt sich ein Zweiparteiensystem, das die Zersplitterung des politischen Spektrums auffangen muss. Cliffe illustriert seine These  durch einen Vergleich mit anderen Ländern in Europa, wo die Zersplitterung zu neuen Parteien führte: "Spaniens altes Zweiparteiensystem aus Partido Popular (PP) und Sozialisten (PSOE) hat sich zu einem Fünfparteiensystem entwickelt. In den Niederlanden ist aus einem Parlament mit neun Parteien eines mit 17 geworden. Deutschlands Volksparteien CDU/CSU und SPD sind von einem gemeinsamen Stimmenanteil von 77 Prozent im Jahr 1990 auf 50 Prozent im Jahr 2021 geschrumpft. Das extremste und früheste Beispiel war Italien, wo die althergebrachten Parteien, vor allem die Christdemokraten in den frühen Neunzigerjahren komplett hinweggefegt und durch die sich ständig verändernde Parteienlandschaft ersetzt wurden, die wir heute kennen."

Man kann das auch nicht für ideal halten, aber mehrere Parteien spiegeln doch ein deutlich größeres Meinungsspektrum in der jeweiligen Bevölkerung wider als ein Zweiparteiensystem. Bei den Tories, erklärt der britische Schriftsteller Nick Hornby in der SZ, "handelt es sich um schätzungsweise 150.000 Menschen, und von denen gaben 57 Prozent ihre Stimme Liz Truss. Mit anderen Worten, ein Land von fast siebzig Millionen Menschen wurde 44 Tage lang von einer Person regiert, die auf geradezu groteske Weise ungeeignet ist für den Job, weil siebzig- oder achtzigtausend Menschen, also ziemlich genauso viele, wie bei einem Heimspiel von Manchester United dabei sind, sie für geeignet hielten. Das verschaffte ihr die Legitimation, Öl auf das britische Pfund zu gießen und es anzuzünden."

In Italien ist die neue Regierung unter Führung der Postfaschistin Giorgia Meloni angetreten. Meloni steht fest an der Seite der Ukraine, hält Michael Braun in der taz fest, aber ihre Koalitionspartner Matteo Salvini und Silvio Berlusconi nicht: "Wie unverwüstlich die Freundschaft auch heute noch ist, zeigte Berlusconi erst vor wenigen Tagen, als die Bildung der Regierung Meloni gerade im Gange war. Auf einer Fraktionssitzung seiner Forza Italia berichtete Berlusconi den Abgeordneten, zu seinem Geburtstag am 29. September habe er von Wladimir eine Kiste mit 20 Flaschen Wodka erhalten, dazu einen 'sehr süßen Brief'. Putin habe ihm versichert, dass er nicht nur zu dessen 'fünf wahren Freunden' zähle, sondern auf dieser Liste gar den Platz Nummer eins innehabe."

Frankreich ist für Arbeit nicht mehr motiviert. Immer mehr Arbeitnehmer kündigen, genießen die süße Ruhe der Arbeitslosigkeit oder definieren sich in der Provinz neu. 2012 meldeten sich noch 34 Prozent der Arbeitnehmer mindestens einmal im Jahr krank, jetzt sind es 42, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ: "Die Jungen sind ungefähr doppelt so oft krank wie die über Fünfzigjährigen - deren strahlender Horizont bereits die Rente ist. Für neue Patienten haben Psychologen und Psychiater leider keine freien Kapazitäten. Seit der Pandemie hat sich die Nachfrage verdreifacht. Die 'große Demission' ist auch eine kollektive Depression."
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Gesellschaft

"Let's Say Gay", überschreibt die New-York-Times-Kolumnistin Pamela Paul ein kleines Plädoyer gegen die Queerisierung des Diskurses über Homosexualität: "'Queer' kann fast alles bedeuten, und genau das ist der Punkt. In der Queer-Theorie geht es darum, normative Kategorien rund um Geschlecht und Sex bewusst aufzubrechen, insbesondere binäre Kategorien wie Männer und Frauen, hetero und schwul. Wenn man sagt, man sei queer, kann das bedeuten, dass man schwul ist; es kann bedeuten, dass man heterosexuell ist; es kann bedeuten, dass man unschlüssig ist, was sein Geschlecht angeht, oder dass man es vorzieht, es nicht zu sagen. Wenn du sagst, dass du queer bist, kann das so so geringfügig sein wie der Kuss eines Mädchens von einem anderen Mädchen im zweiten Studienjahr an der Uni. Es kann auch bedeuten, dass du dich tapfer durch die Prosa von Judith Butler in einem Kurs über Queerness im elisabethanischen Theater geackert hast."
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Politik

In diesem Standfoto wird die wohl gespenstischste Szene des nicht gerade ereignisarmen Jahres 2022 zur Komposition: Hu Jintao, Xi Jinpings Vorgänger, wird in jener Sitzung, die Xi für die dritte Amtszeit krönte, aus dem Saal geführt. Hier nochmal die ganze Szene. Um Differenzierung bemühte Beobachter merken an, dass Hu auch schon mit Begleitung in den Saal hineingeführt worden war. Fabian Kretschmer bringt in der taz Hintergründe zu der Szene, über die natürlich viel spekuliert wird.

In Berlin haben am Samstag 80.000 Menschen oder mehr ihre Solidarität mit den Demonstranten im Iran bekundet - zum großen Teil bestand die Demo aus Angehörigen der kurdischen und iranischen Diaspora, berichtet Jonas Wahmkow in der taz. DemonstrantInnen waren aus vielen Städten angereist. Wahmkow hat mit einigen gesprochen: "Viele, die am Samstag nach Berlin gekommen sind, haben einen persönlichen Bezug zu den Ereignissen im Iran. Die Brutalität, mit der die iranische Regierung gegen die Protestierenden vorgeht, ist eine reale Gefahr für die Verwandten und Freunde, die im Heimatland für ihre Freiheit kämpfen. 'Mein Bruder wurde vorgestern getötet', berichtet Sara. Er sei erst 25 Jahre alt gewesen und habe vor Kurzem sein Ingenieursstudium beendet, als er von den Sicherheitskräften bei einer Demo erschossen wurde. Die 34-Jährige musste vor über drei Jahren aus ihrer Heimat fliehen, weil sie zum Christentum konvertiert ist. Grund genug für ein Todesurteil in dem Gottesstaat."

Über die Lage der Kurden im Iran spricht der Aktivist Civan Akbulut mit Lisa Schneider von der taz. Mahsa Amini hatte bekanntlich im Iran nicht mal offiziell ihren eigentlichen Vornamen Jina tragen dürfen. "Der Staat ist bewusst stark zentralistisch organisiert - alles läuft über Teheran, man schafft bewusst eine ständige Abhängigkeit. Es geht darum, die kurdischen Gebiete so unattraktiv wie möglich zu machen, sie in allen Lebensbereichen weitestgehend zu isolieren. Iran verfährt nach dem Motto: Du darfst kurdisch sein, aber sobald du dich als eigenständiges Volk definierst, hast du ein Problem. Iran sieht sich als Vertreter Gottes auf Erden und da ist das Verständnis von Rechten ein ganz anderes: Die Kämpfe der Kurd:innen werden als unislamisch gesehen - denn sie schwächen ja den Staat, der sich als Sprecher Gottes auf Erden versteht. " Und die Deutschiranerin Saba Farzan entwirft ebenfalls in der taz Perspektiven für einen Iran nach den Mullahs: "In vier Dekaden Diktatur hat der Islamismus keine Freunde gefunden in diesem Land, das durch und durch säkular geworden ist im Widerstand zum Klerikalfaschismus. Der hohe Alphabetisierungs- und der hohe akademische Bildungsgrad der Iraner spielen eine Rolle. Dieses Streben nach Wissen hat die gegenwärtige Revolution unumgänglich gemacht."

In der NZZ erklärt der iranisch-amerikanische Religionssoziologe Reza Aslan, wie sehr der Ayatollah Khomenei 1979 mit der religiösen Tradition der Schiiten im Iran gebrochen hatte, indem er sich selbst als obersten Kleriker installierte, dessen Autorität "nicht nur mit der des Mahdi identisch sein sollte, sondern mit der des Propheten Mohammed selbst ... Die Vorstellung, dass irgendein Mensch über die gleiche unfehlbare göttliche Autorität verfügen könnte wie der Prophet, steht im Widerspruch zu Jahrhunderten islamischer Theologie. Die Theorie war so eindeutig ketzerisch, dass sie umgehend von fast allen anderen Ayatollahs in Iran verworfen wurde", so Aslan. Und wenn der jetzige oberste Geistliche Khamenei versuche, seinen Sohn Mojtaba als nächsten Obersten Führer aufzubauen, zeige sich, was dieser Führer eigentlich sei: "ein Schah unter anderem Namen."

Tunesien geht es gerade auch nicht gut. Bis vor kurzem war das Land noch ein Hoffnungsträger der Demokraten im Maghreb, aber heute liegt die Wirtschaft am Boden und die Bevölkerung ist politisch gespalten und verzweifelt, schreibt Beat Stauffer in der NZZ. "Dass die säkularen, liberalen und linken Parteien und Bewegungen, die maßgeblich für den Sturz des repressiven Ben-Ali-Regimes gekämpft hatten, einen derart erbärmlichen Leistungsausweis vorlegen würden, schien vor 2010 kaum vorstellbar. Doch erneut zeigte sich, dass der Sturz eines Despoten keineswegs den Weg für eine friedliche, demokratische und prosperierende Zukunft frei macht. Nur die gewaltige Frustration über die nachrevolutionäre Politik macht verständlich, weshalb die tunesische Wahlbevölkerung im Herbst 2019 den politisch völlig unbekannten Kais Saied zum Staatspräsidenten wählte", der sich in kürzester Zeit als Autokrat entpuppte, der "fast alle demokratischen Errungenschaften zunichtegemacht" hat.
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Ideen

Französische Putinisten haben ein Talent zur Perfidie und zitieren gern einen Montesquieu zugeschriebenen Satz: "Wer Krieg führt, verdient, verurteilt zu werden, mehr noch aber wer ihn unvermeidlich machte." Mit diesem Satz, so Jacques Pezet im Libération-Blog "Checknews" rechtfertigen Putin-Anhänger den russischen Einmarsch in die Ukraine. Der Satz ist allerdings gar nicht von Montesquieu, stellt Pezet nach einigen Suchabfragen im Werk des Philosophen fest. Statt dessen zeigte Montesquieu am Beispiel des alten Rom, dass es durch die Ausweitung seines Territoriums immer mehr zu einer autoritären Regierung, ja zu einem despotischen Regime wurde", sagt die  Montesquieu-Forscherin Catherine Volpilhac-Augeri im Gespräch mit Pezet.

Am Wochenende hat Cem Özdemir den Leo-Baeck-Preis verliehen bekommen. Die Welt publiziert die Laudatio von Ronya Othmann (die Dankesrede von Özdemir war in der FAS abgedruckt), die den Grünen-Politiker ausdrücklich für seinen Mut würdigte, sich "gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit" auszusprechen, ob das nun gegenüber Erdogan ist oder der AfD. Und der auch zum Antisemitismus immer klare Worte fand: "Cem Özdemir hat den Kampf gegen Antisemitismus zu seiner eigenen Sache gemacht, wie wir ihn alle zu unserer eigenen Sache machen sollten. ... Und das muss man hier noch einmal sagen: Auf Cem Özdemir kann man sich verlassen. Und er bleibt da ganz der Pragmatiker und Realpolitiker, der er ist. Gegen jeden Antisemitismus heißt bei Cem Özdemir auch wirklich gegen jeden Antisemitismus. Ob von den rechten Hetzern der AfD, den Erdogan-Fanboys bei Ditib, verbreitet durch Manar-TV, dem Propagandasender der Hisbollah auch in deutsche Wohnzimmer, von Linken im Namen des Postkolonialismus. Da wird nicht das eine oder das andere unter den Tisch gekehrt, weil es einem gerade nicht in den Kram passt."
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